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Matriarchat

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Das Matriarchat (von lat. mater - Mutter und griech. arché = Beginn/Ursprung; auch Herrschaft) ist eine gynozentrische Gesellschaftsstruktur, in der - je nach der verwendeten Definition - Frauen die Macht innehaben, oder die frauenzentriert ist, was heißt, dass sich die Gesellschaftsordnung um die Frauen herum organisiert. Außer dem Begriff Matriarchat sind folgende Begriffe gebräuchlich: mutterrechtlich oder gynaikokratisch (Johann Jakob Bachofen), matrizentrisch, matristisch (Reich, Maturana), matrifokal oder gylanisch (Riane Eisler).

Die verwandtschaftethnologischen Begriffe matrilinear und matrifokal beschreiben vor allem die Abstammungs- und Wohnsitzregeln. Begrifflich wird oft nicht unterschieden zwischen der Herrschaft von Müttern und der Herrschaft von Frauen. Es existieren keine eindeutigen oder unstrittigen Kriterien und Definitionen, wann eine Gesellschaft als matriarchalisch oder patriarchalisch eingestuft wird.

Für Vertreter der Frauenbewegung, insbesondere des differentialistischen Zweiges, bedeutet das Matriarchat im besonderen eine von einigen Historikern bestrittene Zeit der Ur- und Frühgeschichte, in der die Frauen geherrscht haben sollen ("arché" also im Sinne von "Herrschaft").

Viele Grundlagen der Matriarchatsforschung kommen aus den Bürgerbewegungen des 19. Jahrhunderts. Bei einigen Matriarchats-Theorien vermischen sich theoretische (gelegentlich sogar fantastische) Elemente mit historischen Fakten. Der Begriff Matriarchat wird oft wertend verwand und besitzt daher auch politische Spannkraft.

Merkmale eines Matriarchats

Zu der Frage, was ein Matriarchat definiert, gibt es unterschiedliche Positionen und Ansatzpunkte. Heide Göttner-Abendroth hat folgende Kriterien definiert:

  1. Soziale Merkmale: Die Sippen sind matrilinear strukturiert (Abstammung von der Mutterlinie) und werden durch Matrilokalität zusammengehalten (Wohnsitz bei der Mutterlinie). Ein Matri-Clan lebt im großen Clanhaus zusammen. Biologische Vaterschaft ist neben der sozialen Vaterschaft zweitrangig.
  2. Politische Merkmale: Das politische System basiert auf Konsensdemokratie auf verschiedenen Ebenen (Sippenhaus, Dorf, Regional). Delegierte agieren als Kommunikationsträger zwischen den verschiedenen Ebenen. Es handelt sich um so genannte segmentäre Gesellschaften, die sich durch das Fehlen einer Zentralinstanz auszeichnen (regulierte Anarchie).
  3. Ökonomische Merkmale: Es handelt sich meistens um Garten- oder Ackerbaugesellschaften. Es wird Subsistenzwirtschaft betrieben. Land und Haus sind im Besitz der Sippe und kein Privateigentum. Die Frauen haben die Kontrolle über die wesentlichen Lebensgüter. Das Ideal ist Verteilung und Ausgleich und nicht Akkumulation. Dieser Ausgleich wird durch gemeinschaftliche Feste erreicht. Es handelt sich um so genannte Ausgleichsgesellschaften.
  4. Weltanschauliche Merkmale: Der Glaube, in der eigenen Sippe wiedergeboren zu werden, und der Ahnenkult bilden die Basis der religiösen Vorstellungen. Die Welt gilt als heilig. Die Erde als die Große Mutter garantiert die Wiedergeburt und Ernährung allen Lebens. Sie ist die eine Urgöttin, die andere Urgöttin ist die kosmische Göttin als Schöpferin des Universums. Es handelt sich um sakrale Gesellschaften.

Damit hat Göttner-Abendroth einen sehr umfassenden Kriterienkatalog erstellt. Kein Konsens herrscht in der Frage, ob es bei strenger Anwendung aller Kriterien derzeit Matriarchate gibt (bei Konversionen zu Islam oder Christentum, Aufgeben der Clanhäuser und somit Abkehr von der Matrilokalität, Abkehr von Subsistenzwirtschaft etc.). Weniger Zweifel dürfte es hingegen bei selektiver Anwendung einzelner Kriterien geben.

Matrilinearität und Herrschaft

Das Verwandtschaftssystem sagt noch nichts über die politische Machtverteilung einer Kultur aus. So hat eine matrilineare Verwandtschaftsorganisation nicht automatisch die Konsequenz, dass Frauen die poltitische Macht innehaben. Es ist eine Gemeinsamkeit aller von der Matriarchatsforschung als Matriarchate definierten Gesellschaften, dass repräsentative Aufgaben außerhalb der Sippe von den Männern wahrgenommen werden, was bei Ethnologen immer wieder zum Fehlschluß führte, Männer hätten die politische Macht inne.

Wenn weiblichen Häuptlingen oder Clan-Vorständen jeweils männliche gegenüberstehen, ergibt sich daraus ein allgemeines Prinzip der Ämterdoppelung. In matriarchalen Gesellschaften ist es üblich, die Verantwortung für Ämter auf zwei Personen zu verteilen, die nicht selten genau denselben Aufgabenbereich zu betreuen haben. Wie Henry Lewis Morgan für die Irokesen feststellt, resultiert daraus ein Zwang zu Absprachen und zu einem regelmäßigen Wechsel der Führungsrolle.

Das Prinzip der Ämterteilung entspricht der Übereinkunft auf allen gesellschaftlichen Ebenen, wo sich jeweils reziproke Hälften gegenüberstehen. Das kann innerhalb eines Clans oder einem Gefüge aus mehreren Clans sein, die sich untereinander als Geschwister verstehen. Solche dualen Institutionalisierungen sind eine Verwirklichungsform des Prinzips der Gegenseitigkeit, das auch anderen Institutionen zugrunde liegt (vgl. hierzu Lévi-Strauss, Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft).

Entgegen den Vermutungen sind matrilineare Gesellschaften nicht "friedlicher" als patrilineare. Einige Matrigesellschaften zeichnen sich sogar durch eine ausgeprägte Kriegsmentalität aus. Die Nayar in Südindien waren eine Kriegerkaste, Irokesen und Huronen bildeten Kriegsbünde, die Bororo waren im zentralbrasilianischen Hochland gefürchtet und die Munduruku bedrängten große Teile des Amazonasgebietes.

Matriarchale Völker

Die Ethnologie kennt auch heute noch auf allen Kontinenten (außer in Europa) Ethnien mit matrilinearen Abstammungsregeln (von denen manche zusätzlich die Matrilokalität praktzieren): die Khasi und die Nayar in Indien, die Irokesen in den USA, die Tuareg in Nordafrika etc. Aufgrund von kolonialer Vereinnahmung, Missionierung oder wegen Interaktionsprozessen mit angrenzenden Nationen weisen diese allerdings nur noch selten alle Züge ihrer ursprünglichen Kultur auf.

Die Minangkabau auf Sumatra werden als das größte bekannte matrilineare Volk bezeichnet, und sie haben bis heute das Adat, ihr ungeschriebenes Gesetz, bewahrt. Insgesamt über drei Millionen Menschen leben noch nach diesem tradierten Regeln. In Handel, Verwaltung, Wirtschaft, Politik, Kultur sind sie sehr aktiv und gelten in Indonesien als ein Volk von hoher Bildung, Kultur, Weltoffenheit und großer Wirtschaftskraft. Die Minangkabau hatten ursprünglich matrilokale Wohnsitzregeln, heute sind jedoch Kernfamilien eine gängige Lebensform. Durch die amerikanische Anthropologin Peggy Reeves Sanday sind die Strukturen der Minangkabau hervorragend dokumentiert, weil die Forscherin jahrelang unter ihnen lebte. Die Minangkabau sind Moslems, was im ersten Moment überraschend wirkt. Die starke Stellung des Bruders der Mutter, die typisch ist für matrilineare Gesellschaften, ermöglicht die Kompatibilität mit einer doch eher patriarchalischen Religion.

Die Goajiro-Arawak sind mit 60 000 Menschen eine zahlenmäßig recht große Ethnie in Kolumbien und in Venezuela. Die Goajiro sind matrilinear und bilden etwa 30 große Clans, je mit einem Tier als Erkennungszeichen und mit eigenem Territorium. Jeder Clan wird von der ältesten Frau zusammengehalten. Ihr ältester Bruder ist der Vertreter des Clans nach außen und genießt große Autorität. Aus diesen männlichen Sippenvertretern wird der Dorfhäuptling gewählt, und die Wahl fällt immer auf den Wohlhabendsten. Die wirtschaftliche Basis jeder Sippe ist das Vieh, es ist Gemeinschaftsbesitz. Die junge Frau geht bei der Heirat ins Haus des Gatten, für sie erhält ihr eigener Clan Vieh als Hochzeitsgabe.

Forschungsgeschichte

Lewis Henry Morgan war der einflussreichste amerikanische Ethnologe des 19. Jahrhunderts. Er stellt in seinem Werk "Ancient Sociology" (Die Urgesellschaft, 1891, ISBN 3-930596-01-6) ein evolutionistisches Schema der menschlichen Familienentwicklung am Beispiel der Irokesen-Liga in Nordamerika auf. Seine Bemerkungen zur weiblichen Rolle sind relativ spärlich und neutral, weil es gar nicht Morgans Absicht war, eine matriarchale Gesellschaft ethnologisch zu erforschen, obwohl er es faktisch tut. Er ist damit eines der vielen Beispiele für Forscher nach ihm, die sich mit matriarchaler Thematik beschäftigen, jedoch andere Begrifflichkeiten benutzen.

Der Rechtshistoriker Johann Jakob Bachofen verfasste 1861 sein Werk "Das Mutterrecht", für das er hauptsächlich antike Quellen auswertete. Er gebrauchte das Wort Gynaikokrateisthai (Frauenherrschaft), das in der Antike Verbreitung fand. Bachofens Ansatze war evolutionistisch, er nahm folgende kulturelle Reihenfolge an: am Anfang steht die promiskuitäre Stufe, dann folgt die mutterrechtliche Stufe, welche zuletzt abgelöst wird von der vaterrechtlichen Stufe.

Die Harvard-Professorin Marija Gimbutas präsentierte 1956 im Rahmen ihrer Ausgrabungen in Anatolien ihre "Kurgan-Hypothese". Sie entdeckte, dass vor der Kurganisierung Europas, die Menschen in unbefestigten Dörfern und Städten friedlich zusammenlebten, und dass Frauen eine wichtige Rolle einnahmen. Mit ihrer interdisziplinären Vorgehensweise stellte sie das herrschende Modell der Archäologie, das rein-wirtschaftlich materiell ausgerichtet ist, grundsätzlich in Frage. Ihr Verdienst ist es, dass durch ihren Forschungsansatz das Aufeinanderprallen der indoeuropäischen Eroberer mit den lokalen Stämmen erst verstanden werden konnte. Obwohl Gimbutas die alteuropäischen Kulturen nicht als matriarchal bezeichnete, sind ihre Forschungen für die Matriarchatsforschung wichtig.

Wurde das Thema Matriarchat seit seiner Erforschung wenig in den wissenschaftlichen Institutionen beachtet, so erfährt es seit Ende der 90er Jahre mehr Popularität, besonders im deutschsprachigen Raum. Grund dafür mag die verstärkte Zuwanderung Angehöriger matriarchal strukturierter Ethnien sein.

Siehe auch: Beispiele für matriarchale Völker

Grundsätzliche Kritik

Grundsätzlich gehen Historiker heute davon aus, dass das Matriarchat meist nur als eine temporäre historische Ausnahmeerscheinungen (siehe Amazonenvölker) existiert hat, nicht jedoch als stabile, dauerhafte Gesellschaftsform.

Auch die Behauptung von frühgeschichtlichen Muttergesellschaften muss in das Reich der Spekulationen verwiesen werden; schriftliche Zeugnisse aus dieser Zeit gibt es nicht, da - definitionsgemäß - vorgeschichtliche Kulturen die Schrift noch nicht kannten. Archäologische Methoden stoßen bei dieser Thematik an ihre Grenzen.

Literatur

Wissenschaft

  • Johann Jakob Bachofen: Das Mutterrecht. Suhrkamp, 9.Aufl. 1997 ISBN 3518277359 (Erstauflage 1861)
  • Kurt Derungs u.a.: Matriarchate als herrschaftsfreie Gesellschaften. Edition Amalia, 1997 ISBN 3905581019
  • Heide Göttner-Abendroth: Das Matriarchat, Bd.2/1, Stammesgesellschaften in Ostasien, Indonesien, Ozeanien. Stgt. 1999 ISBN 3170149954
  • Heide Göttner-Abendroth: Das Matriarchat, Bd.2/2, Stammesgesellschaften in Amerika, Indien, Afrika. Stgt. 2001 ISBN 317010568X
  • Röder, Brigitte; Hummel, Juliane & Kunz, Brigitta: Göttinnendämmerung. Das Matriarchat aus archäologischer Sicht Königsförde: Königsfurt 2001
  • Beate Wagner-Hasel: Matriarchatstheorien der Altertumswissenschaft. Darmstadt Wiss. Buchgesellschaft 1992
  • Barbara G. Walker: Das geheime Wissen der Frauen, Deutscher Taschenbuchverlag Frankfurt am Main, 1993 ISBN 3-86150-006-X
  • Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt, 1993

Belletristik

Filme

  • Uschi Madeisky, Klaus Werner: Wo dem Gatten nur die Nacht gehört - Besuchsehe bei den Jaintia in Indien. Colorama, Deutschland 1999 (Video)
  • Uschi Madeisky: Die Töchter der sieben Hütten. Ein Matriarchat in Indien. Colorama, Deutschland 1997 (Video)

Siehe auch

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