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Priestertum aller Gläubigen

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Das Priestertum aller Gläubigen oder theologiegeschichtlich korrekt Priestertum aller Getauften ist ein Begriff der christlichen, besonders der evangelischen Theologie. Er hat dort verschiedene Bedeutungsstufen. In den evangelischen Landeskirchen bedeutet er, dass alle Gläubigen unmittelbar zu Gott sind und dass das (unverzichtbare) öffentliche Predigtamt (Pastor, Pfarrer) keinen Weihestand konstituiert. In Freikirchen der evangelischen Tradition bedeutet der Begriff, dass jeder Gläubige der Gemeinde die Aufgaben, die in anderen Kirchen der Pfarrer bzw. Priester ausübt, selbst übernehmen kann. Es wird keine theologische Ausbildung und keine Ordination benötigt. Allerdings gibt es faktisch auch hier in den meisten Fällen Pastoren und durch Segenshandlungen bestellte Prediger, Älteste, Evangelisten oder Missionare mit irgendeiner Form von theologischer Ausbildung.

Historisch

Historisch gehört der Begriff wesentlich zum Selbstverständnis der Reformation und der aus ihr hervorgegangenen Kirchen und wird dort als Gegenbegriff zum besonderen, sakramentalen Priestertum der katholischen und orthodoxen Kirchen verstanden. Andererseits kennen auch diese Kirchen neben dem Amtspriestertum das allgemeine Priestertum aller Getauften.

Das Vorhandensein von Priestern setzt in allen Religionen eine Kluft zwischen den Menschen und der göttlichen Sphäre voraus. Mit fortschreitender Kultur und Arbeitsteilung entwickelte sich überall ein besonderer Priesterstand, der sich mit der kultischen Vermittlung zwischen Himmel und Erde durch gnadenwirkende Opfer und mit der Interpretation des göttlichen Willens beauftragt sah.

Altes Testament

Einen solchen Priesterstand kannte auch das alte Israel, obwohl man dort durchaus auch ein „allgemeines Priestertum aller Glieder des Gottesvolkes“ kannte: (2 Mos 19,6 EU). Das Selbstverständnis des levitischen Priesterstandes und die Kultpraxis der Kohanim spiegeln sich detailliert in der so genannten priesterschriftlichen Schicht des Pentateuch.

Dagegen bricht schon im Alten Testament die prophetische Mahnung auf, dass der göttliche Geist über ganz Israel ausgegossen sei und eines Tages das ganze Volk Israel zu einer Priesterschaft für die anderen Völker machen werde. Noch darüber hinaus geht die endzeitliche Vision von der Gabe des Geistes an „alles Fleisch“.

Neues Testament

Diese Verheißungen sehen die Verfasser des Neuen Testaments durch Jesus Christus und das Pfingstereignis erfüllt. In der Kirche aus Juden und Heiden sind alle ihre Glieder durch die Taufe mit Christus verbunden, der durch seine Liebeshingabe bis zum Kreuz und durch seine Auferstehung der einzige und endgültige Hohepriester und zugleich selbst zur Opfergabe geworden ist. Das Neue im Neuen Bund ist dabei nicht eine Neu-Einführung eines „allgemeinen Priestertums aller Gläubigen“ (das schon der „Alte Bund“ in Ansätzen kannte), sondern die Überbietung des alttestamentlichen „allgemeinen Priestertums aller Gläubigen“, da nun auch Nichtjuden im Neuen Bund zu diesem Königreich von Priestern und zum heiligen Volk gehören (1 Petr 2,9f EU; Offb 1,6 EU).

Frühkirchliche Entwicklungen

In den frühchristlichen Gemeindeordnungen (Didaskalia Apostolorum, Didache, Apostolische Konstitutionen) kommen die griechischen und lateinischen Bezeichnungen für Priester nirgendwo vor. Von Anfang an zeigen sich im christlichen Schrifttum allerdings gemeindeleitende Autoritäten, für die es verschiedene Bezeichnungen gab. Eph 4,11 EU zum Beispiel nennt folgende Ämter: Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrer. Weitere Ämter sind Bischof, Ältester und Diakon. In der Apostelgeschichte (Apg 20,17–28 EU) werden zwar die Amtsbezeichnungen Älteste und Bischöfe anscheinend synonym gebraucht; die sich um die Wende zum 2. Jahrhundert abzeichnende Dreigliederung des Amtes: Episkopos (Aufseher – Bischof), Presbyteros (Ältester – Priester), Diakonos (Diener – Diakon) ist jedoch in der Apostelgeschichte ebenfalls erkennbar. Dabei wurde das Bischofsamt schon im Neuen Testament auf die Vollmachtsübertragung durch Handauflegung eines Apostels bzw. Apostelnachfolgers zurückgeführt (Apg 8,18 EU, Apg 14,23 EU, Hebr 6,2 EU, 2 Tim 1,6 EU).

Mehr und mehr wurden auf diese kirchlichen Ämter alttestamentliche und griechisch-römische Priestervorstellungen übertragen, besonders seitdem die Kirche nach der konstantinischen Wende zahlenmäßig stark anwuchs und ihre Amtsträger die Rolle der Priester des alten Staatskults übernehmen sollten. Dies betraf hauptsächlich die moralischen Ansprüche, die an antike Priester und Staatsbeamte gestellt wurden.

Lutherische Reformation

Die Reformation Martin Luthers hatte ihren Auslöser in der Wiederentdeckung der zentralen christlichen Botschaft von der Rechtfertigung des Sünders allein durch die Gnade („sola gratia“), die allein der Glaube empfängt („sola fide“). In Abgrenzung zum römischen Priestertum formulierte Luther in einer Frühschrift das Priestertum aller Getauften.

„Alle Christen sind wahrhaft geistlichen Standes, und ist unter ihnen kein Unterschied dann des Amts halben allein. Demnach so werden wir allesamt durch die Taufe zu Priestern geweiht. Was aus der Taufe gekrochen ist, das mag sich rühmen, dass es schon Priester, Bischof und Papst geweiht sei, obwohl es nicht jedem ziemt, dieses Amt auch auszuüben.“

Martin Luther: An den christlichen Adel...[1]

In seiner Auseinandersetzung mit der Laienbewegung der Täufer machte er jedoch deutlich, dass zum Kennzeichen der wahren Kirche das kirchliche Amt gehöre, und verwies auf die Bibel und die kirchliche Tradition. Schon bald fand sich Luther jedoch in heftiger Auseinandersetzung mit radikal-reformatorischen spiritualistischen Gruppierungen – von ihm „Schwärmer“ genannt –, die das egalitäre Prinzip unmittelbar und radikal in kirchliche (und staatliche) Praxis umsetzen wollten. Demgegenüber enthielten die Kirchenordnungen der neu entstehenden lutherischen Landeskirchen von Anfang an klare Ämter-, Ordinations- und Visitationsbestimmungen. Luthers Auffassung vom Priestertum aller Getauften ist nicht in die lutherischen Bekenntnisschriften und somit in die offizielle Lehrauffassung der lutherischen Kirche eingangen. Vielmehr sprechen die lutherischen Bekenntnisschriften wie selbstverständlich von lutherischen Priestern und davon, dass diese im Vollzug der Sakramente und der Wortverkündigung in persona Christi (anstelle der Person Christi) stehen (vgl. Apologie des Augsburger Bekenntnisses Artikel 13).

Gegenwärtige ökumenische Diskussion

In der gegenwärtigen ökumenischen Diskussion ist die Ämterfrage einer der letzten großen Differenzpunkte. Mehr und mehr wird dabei deutlich, dass allgemeines Priestertum aufgrund der Taufe und besonderes Priestertum aufgrund von Ordination bzw. Weihe nicht nur konträr, sondern auch komplementär verstanden werden können und dass „allgemeines Priestertum“ nicht die Abschaffung von, sondern den Auftrag zu einer priesterlichen Lebensweise bedeutet.

Literatur

  • Hans-Martin Barth: Einander Priester sein. Allgemeines Priestertum in ökumenischer Perspektive. Kirche und Konfession, Bd. 29, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1990, ISBN 3-52556-532-1
  • Goertz, Harald: Allgemeines Priestertum und ordiniertes Amt bei Luther. Elwert, Marburg 1997, ISBN 3-7708-1091-0
  • Markus Liebelt: Allgemeines Priestertum, Charisma und Struktur. R. Brockhaus, Witten 2000, ISBN 3-417-29464-9
  • Marcel Schütz: Perspektiven zum Pfarr-, Lektoren- und Prädikantendienst in dienstgemeinschaftlicher Verhältnisbestimmung. In: Deutsches Pfarrerblatt 9/2006, S. 471–474.
  • Klaus Peter Voss: Der Gedanke des allgemeinen Priester- und Prophetentums. Seine gemeindetheologische Aktualisierung in der Reformationszeit. R. Brockhaus, Wuppertal 1990, ISBN 3-417-29363-4

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. WA 6, S.407, Z.13 ff. Z.22 f.; S.408, Z.11 f.