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Serotonin-Wiederaufnahmehemmer

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Einführung, Wirkmechanismen, Anwendungsgebiete und Wirkstoffe

(Selektive) Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI - Selektive Serotonin-Reuptake-Inhibitoren) werden in der Pharmakologie Arzneistoffe genannt, welche die Aufnahme des Neurotransmitters Serotonin aus dem synaptischen Spalt hemmen und daher dessen Konzentration im synaptischen Spalt erhöhen, was die Ursache für ihre antidepressive Wirkung ist. Nachfolgend kommt es zu einer Herabregulierung (Down-Regulation) von Serotonin-(5-HT2)-Rezeptoren im Zentralnervensystem (ZNS).

Die SSRI gehören zu der Gruppe der neueren Antidepressiva.

Im Gegensatz zu den klassischen trizyklischen Antidepressiva hemmen die SSRI die Wiederaufnahme des Neurotransmitters Serotonin wesentlich stärker als die Wiederaufnahme anderer Transmitter. Von dieser Tatsache ist der Bezeichnungsbestandteil selektiv abgeleitet.

Bekannteste Vertreter sind Fluoxetin, Sertralin, Paroxetin, Citalopram, Escitalopram, Fluvoxamin. Bei Escitalopram handelt es sich um eine wahrscheinlich nur aus Marketingerwägungen nach Wegfall des Patentschutzes auf den Markt gebrachte Molekülvariante von Citalopram ohne jegliche Vorteile, aber mit erheblich schlechterem Bewährungsgrad! Mit Venlafaxin steht darüber hinaus ein selektiver Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) zur Verfügung.

Einige dieser Arzneistoffe hemmen in sehr geringem Umfang auch noch postsynaptische Rezeptoren, was für die klinische Wirkung kaum eine Rolle spielt.

  • Das Anwendungsgebiet für alle SSRI ist die Depression von klinisch bedeutsamen Schweregrad (depressive Episode, major depression).

Weitere Anwendungsgebiete für einige Wirkstoffe sind:

  • Zwangserkrankungen, im Rahmen eines auch psychotherapeutisch ausgerichteten Gesamtkonzeptes
  • Verschiedenene Angststörungen und Bulimie (Ess-Brech-Sucht), auch hier im Rahmen eines Gesamtkonzeptes

Ein Vorteil für die Anwendung der SSRI ist, daß die meisten Präparate nur einmal täglich gegeben werden müssen, was die Therapietreue (compliance) der Patienten erhöht.

In der Adipositas-Therapie wird nach dem Vorschlag der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) das den Serotonin-Wiedraufnahmehemmer Sibutramin enthaltende Medikament Reductil® eingesetzt, das angeblich gewichtsreduzierende Wirkungen haben soll. Reductil® ist aber lediglich ein Appetitzügler, der allenfalls eine Diät unterstützen kann. Da der Hersteller Abbot Laboratories (Knoll GmbH) keine Dauereinnahme empfiehlt, ist nach der Beendigung der diätetischen Maßnahmen und dem Absetzen von Reductil wegen des Jojo-Effekts die Rückkehr des ursprünglichen Übergewichts aber wahrscheinlich. Außerdem werden bei Reductil eine Mißbrauchsgefahr und das Risiko der Auslösung von Krampfanfällen diskutiert.

Klinisch äußert sich der Wirkungsmechanismus der SSRIs primär in einer Antriebssteigerung, während die gewünschte stimmungsaufhellende Wirkung erst mit Verzögerung und nach erfolgter Serotonin-Rezeptormodulation im Zentralnervensystem eintritt, was gerade zum Beginn einer Behandlung eine hohe Compliance der Patienten voraussetzt und eine gründliche Beratung der Patienten notwendig macht.

SSRI sind bei korrekter Anwendung relativ nebenwirkungsarme und sichere Medikamente. Die beschriebenen Nebenwirkungen (siehe unten) treten dabei - im Gegensatz zur gewünschten Wirkung - vor allem in den ersten Tagen auf und bessern sich in der Regel schnell.

SSRI sind meistens erst bei Einnahme einer 50-100 fachen Überdosis tödlich. Bei geringeren Überdosierungen kann es allerdings zu sehr unangenehmen Lähmungserscheinungen kommen, bei denen der Betroffene zwar bei vollem Bewusstsein ist, sich aber weder sprachlich noch über Körperbewegungen mitteilen kann. Auch das sogenannte Serotonin-Syndrom kann auftreten.

Nebenwirkungen

Das Nebenwirkungsspektrum unterscheidet sich deutlich von dem der trizyklischen Antidepressiva. SSRI besitzen eine deutlich geringere Affinität zu α-Adrenozeptoren, Histamin-Rezeptoren und muskarinischen Acetylcholin-Rezeptoren, die für einen Teil der Nebenwirkungen Trizyklischer Antidepressiva verantwortlich sind.

Häufigste Nebenwirkungen sind:

  • Übelkeit, Erbrechen vor allem initial, später nachlassend (am Anfang der Therapie empfiehlt sich eine besonders niedrige Dosierung, eventuell können Metoclopramid (Paspertin®) oder niedrigdosiert Perphenazin (Decentan®) gegeben werden.)
  • Appetitlosigkeit (Behandlung s.o)
  • Nervosität, Erregung, Schlafstörungen (dosisabhängig und initial besonders häufig, eventuell kann für 1-3 Wochen ein Benzodiazepin-Tranquilizer oder ein sedierendes Neuroleptikum gegeben werden).
  • Muskelverspannungen
  • Hyperaktivität und Antriebssteigerung vor Beginn der Depressionslösung (sehr gefährlich wegen Selbstmordgefahr, auch hier Tranquilizer oder Neuroleptika bis zum Einsetzen der Depressionslösung geben! - weiterhin stationäre Dauerbeobachtung empfohlen -)
  • Akathise, eine quälende Bewegungsunruhe in den Beinen, Behandlung mit Dosisreduktion und kurzfristiger Gabe des hochwirksamen Benzodiazepins Clonazepam (Rivotril®). Die Wahrscheinlichkeit einer Akathisie kann bei gleichzeitiger Behandlung mit Neuroleptika gesteigert sein.
  • sexuelle Funktionsstörungen (Nachlassen der Potenz, Ejakulationsstörungen, Orgasmusschwierigkeiten)
  • Auch allergische Reaktionen wie allergische Hautausschläge und sogar Multiorganversagen wurden vereinzelt beobachtet.
  • Andere sehr seltene Nebenwirkungen sind schwere Leberfunktionsstörungen (Kausalzusammenhang noch unklar) und Blutungsneigung durch Störung der Serotoninfunktion in den Blutplättchen. Besonders gefährdet sind Patienten unter gerinnungshemmender Therapie mit Cumarinen wie Macumar®. Auch Bruxismus (=nächtliches Knirschen der Zähne) mit Gefahr eines Schadens für den Kiefer- und Zahnapparat wurde beobachtet.

Bei Überdosierung von SSRI besteht die Gefahr, dass sich ein sog. Serotonin-Syndrom entwickelt, insbesondere wenn SSRI mit anderen Antidepressiva kombiniert werden.

Beim Absetzen von SSRI wird häufig von Absetzproblematiken berichtet, die ja nach Patient unterschiedlicher Natur sind und durchaus auch sehr stark und langwierig sein können. Paroxetin scheint wegen seiner kurzen Halbwertszeit von 16 bis 20 Stunden besonders häufig Absetzerscheinungen herbeizuführen (häufig charakteristisches 'elektrisches Gefühl' in Armen und Beinen und grippeartige Symptome). Eine ausschleichende Beendigung der Therapie ist zu empfehlen.


SSRI bei Kindern und Jugendlichen

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte weist darauf hin, daß bei Kindern und Jugendlichen, die mit Antidepressiva behandelt werden, folgendes zu beachten ist:

  • SSRI/SNRI sind nicht europaweit zugelassen für die Behandlung von depressiven Störungen und Angststörungen bei Kindern oder Jugendlichen.
  • Im Allgemeinen sollten diese Substanzen in dieser Altersgruppe nicht angewendet werden, da klinische Studien ein erhöhtes Risiko suizidalen Verhaltens (wie z.B. Selbstmordversuche und Suizidgedanken) gezeigt haben.
  • Trotzdem kann es manchmal aufgrund klinischer Gegebenheiten notwendig sein, Kinder und Jugendliche mit diesen Störungen medikamentös zu behandeln. In solchen Fällen sollte der Patient bezüglich des Auftretens suizidalen Verhaltens sowie selbstschädigender oder feindseliger Verhaltensweisen streng überwacht werden. Dies ist besonders zu Beginn der Behandlung sehr wichtig.
  • Fluoxetin zeigte in der Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen nach bisherigen Ergebnissen kein erhöhtes Risiko für Suizidgedanken, Suizidversuche, selbstschädigender Verhaltensweise oder Feindseligkeit. Wenn ein SSRI in dieser Altersgruppe indiziert ist, empfiehlt sich nach einer Stellungnahme des britischen Gesundheitsministeriums daher die Gabe von Fluoxetin.


In Studien bewertet wurden Atomoxetin, Citalopram, Duloxetin, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Mianserin, Milnacipran, Mirtazapin, Paroxetin, Reboxetine, Sertralin und Venlafaxin.

Die Auswertung der Studienergebnisse lässt sich folgendermassen zusammenfassen:
  • Es gab in den Studien bei Kindern und Jugendlichen keinen Bericht über suizidbedingte Todesfälle.
  • In den Studien bei Patienten mit depressiven Störungen zeigte sich konsistent ein erhöhtes Risiko suizidalen Verhaltens (z.B. suizidale Gedanken, Suizidversuche) unter allen Antidepressiva mit Ausnahme von Fluoxetin.
  • Dieses erhöhte Risiko fand sich weniger ausgeprägt auch in Studien bei Patienten mit Angststörungen.
  • In den Studien bei Patienten mit Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitätsstörungen fand sich kein erhöhtes Risiko suizidalen Verhaltens.
  • Für jede der untersuchten Substanzen (mit Ausnahme von Fluoxetin), bei der ausreichende Daten zur Verfügung standen, liess sich ein erhöhtes Risiko suizidalen Verhaltens, selbstschädigenden oder feindseligen Verhaltens nachweisen. Diese Risiken können für Substanzen, für die keine ausreichenden Daten zur Verfügung stehen, nicht ausgeschlossen werden.
  • In den Auswertungen der epidemiologischen Studien (GPRD) fanden sich zwar Hinweise auf Unterschiede zwischen einzelnen Substanzen, in den randomisierten prospektiven klinischen Prüfungen liessen sich diese aber nicht nachweisen.

Quelle: http://www.bfarm.de/de/vigilanz/am_sicher_akt/PressRel_SSRI_2004_12_09.pdf

Wechselwirkungen

Vor allem eine Kombination von SSRI mit MAO-Hemmstoffen ist gefährlich, da so der Abbau von Serotonin zusätzlich gehemmt wird und hohe Konzentrationen erreicht werden (Vorsicht: Serotonin-Syndrom). Darüber hinaus sind alle SSRIs starke Inhibitoren der Cytochrom-P450-Isoenzyme (insbesondere Paroxetin und Fluoxetin) und hemmen somit z.B. die Aktivierung von Codein und den Abbau von Benzodiazepinen.

Ebenfalls gefährlich ist die zusätzliche Einnahme von L-Tryptophan oder 5-Hydroxytryptophan, da durch diese die Serotoninsynthese verstärkt werden kann, was bei gleichzeitiger Hemmung der Wiederaufnahme ebenfalls zum Serotonin-Syndrom führen kann. Auch die Kombination mit dem Hustenblocker Dextromethorphan, der häufig in rezeptfreien Grippemitteln nethalten ist, kann zu psychotischem Verhalten oder zu einem Serotonin-Syndrom führen!

Sachliche Informationen

Journalistische Aufarbeitungen