Agadir (Speicherburg)
Der Agadir (''taschelhit'', Plural igoudars) ist ein burgartig ausgebauter Kornspeicher im Gemeinschaftsbesitz einer Stammesuntergruppe der Berber im Süden von Marokko.

Wortbedeutung
Agadir, sinngemäß übersetzt mit „Speicherburg“ (franz. „grenier-citadelle“ / engl. "fortified granary") hat ursprünglich die Bedeutung von „Bank“ oder „Schatzhaus“. Das Wort entstammt dem Taschelhit, der Sprache der Chleuh-Berber und hat sowohl ins Arabische als auch in andere Berbersprachen Eingang gefunden. Auf ''Tamazight'', das im Gebiet des Hohen Atlas gesprochen wird, bezeichnet man diese Bauten als igherm oder tighremt. Einige Forscher führen den Ursprung auf das phönizische Wort gadir („Zaun“, „Einfassung“, „Festung“) zurück.
Geschichte
Es ist derzeit nicht eindeutig nachweisbar, wo der Bautypus der Speicherburgen entstanden ist. Allein aufgrund der Anzahl der erhaltenen Bauten kämen zwei Regionen in Frage: der Süden Tunesiens (ksour / ghorfas) oder das Gebiet des westlichen Antiatlas im Süden Marokkos (igoudars / tiguermin). Auch schwarzafrikanische Ursprünge (Mali) werden vermutet, doch steht hier der Speicheraspekt eindeutig im Vordergrund. Sicher ist: In den fruchtbaren Regionen des Maghreb mit überwiegend sesshafter Bevölkerung entstanden keine Agadire. Eine genaue Datierung der erhaltenen Bauten ist bislang nicht möglich; die ältesten dürften etwa 500 bis 800 Jahre alt sein. Über eventuelle Vorgängerbauten ist so gut wie nichts bekannt; einige wenige Agadire liegen allerdings unter schützenden Felswänden – möglicherweise eine Frühform.
Funktion
Jede Ackerbau treibende Kultur früherer Zeiten musste zwangsläufig Techniken entwickeln, um die in harter Arbeit erzeugten Nahrungsmittel vor Raub (Nomaden) und Naturgewalten (Tierfraß, Feuchtigkeit) zu schützen. Die Agadire der Berber im Gebiet des Antiatlas, westlichen Hohen Atlas und Jebel Siroua gehören zum Originellsten und Eindrucksvollsten, was diesbezüglich von Menschen geschaffen wurde.
Agadire hatten eine doppelte Funktion: Einerseits dienten sie den als Halbnomaden lebenden Stämmen als sicherer Hort (Speicher) für ihre Wertgegenstände (Nahrungsmittel, Hausrat, Werkzeug, Familiendokumente) in der Zeit der alljährlichen Wanderungen mit den Viehherden (Schafe, Ziegen) in die höher gelegenen Bergregionen. Andererseits waren sie in Zeiten von Übergriffen anderer Berberstämme (Fehden, Razzien) ein letzter Zufluchtsort (Burg) der Dorf- oder Stammesgemeinschaft. Doch auch in Friedenszeiten waren sie ein zentraler, unantastbarer Ort für das gemeinschaftliche Leben – so hat beinahe jeder Agadir im Eingangsbereich zwei gegenüberliegende Bankreihen, wo die Dorf- oder Stammesältesten sich beraten und Entscheidungen, manchmal auch Urteile fällen konnten. In einigen Agadiren hat sich ein einfacher Gebetsraum (ohne Minarett) erhalten; selbst eine kleine Gefängniszelle ist in einigen Fällen noch zu sehen. In unmittelbarer Nähe der Agadire finden sich oft Zisternen, die nicht nur die Wasserversorgung der Wachmannschaft, sondern des ganzen Dorfes sicherten.
Architektur
Die größeren – meist einzeln auf Hügeln stehenden – Agadire im Antiatlas wurden von mehreren Dörfern bzw. von einem ganzen Stammesverband errichtet und genutzt, während die kleineren – meist inmitten eines Dorfes stehenden – Agadire nur im Eigentum der Familien dieses Dorfes standen. An vielen Agadiren wurde über Jahrhunderte gebaut. Bei Bedarf wurden sie erweitert, was sich an der verwendeten Modulbauweise gut ablesen lässt: Ein Bauteil besteht normalerweise aus drei übereinander liegenden Kammern. Auf Grund ihrer Funktion als Wehrbauten haben nahezu alle Agadire eine Einfassungsmauer, einen oder mehrere freistehende bzw. an den Bau angelehnte Wehrtürme und hohe fensterlose Außenwände (mit Lüftungsöffnungen bzw. Schießscharten in den oberen Speicherkammern). Die Mauern wurden aus kleineren und größeren Steinen, wie sie überall in der Umgebung in Massen zu finden sind, handwerklich perfekt ohne Verwendung von Mörtel aufgerichtet. Einige Bauteile wurden im frühen 20. Jahrhundert mit einem Außenputz versehen.

Das Innere der Zellen-Agadire (z. B. Agadir Tasguent) ist geprägt durch einen oder mehrere schluchtartige Gänge mit vielen beidseitig über Trittsteine erreichbaren Kammern, die zumeist in drei übereinander liegenden Ebenen angeordnet sind. Bei den Hof-Agadiren (z. B. Agadir Id Aissa bei Amtoudi) sind die Kammern um einen großen Innenhof herum angeordnet. Die Kammern sind ca. 6 bis 8 Meter tief, ca. 1,50 bis 2 Meter breit und nur ca. 1,50 Meter hoch. Die Kammern im Erdgeschoss haben zum Schutz gegen aufsteigende Bodenfeuchte i. d. R. eine Art Podest. Die Decken bzw. Böden der oberen Zellen bestehen aus krummen, aber äußerst haltbaren Arganholzästen mit einer Abdeckung aus Schilfrohr und Erde. Die kleinen, nur ca. 1 Meter hohen Türen (früher mit komplizierten Holzschlössern gesichert) waren aus behauenen Argan- oder Mandelholzbrettern gefertigt und oft mit Ornamenten verziert, die ursprünglich wohl eine apotropäische (unheilabwehrende) Bedeutung hatten; einige dieser Türen werden in marokkanischen Museen gezeigt, andere werden in Antiquitätengeschäften verkauft. Auf halber Höhe neben dem Türrahmen sieht man oft ein kleines Loch im Mauerwerk, durch welches Katzen zwecks Mäusevertilgung in die Kammern gelangen konnten.
Die Agadire des Hohen Atlas sind dagegen meist in sich geschlossene Bauten, die keine Erweiterungen zulassen. Auf Grund besonderer klimatischer und materieller Rahmenbedingungen haben sich hier auch andere Bauweisen durchgesetzt: Über einer felsigen bzw. steinernen Sockelzone erhebt sich der meist aus Stampflehm – vermischt mit Stroh und kleinen Steinen – errichtete Bau. Umfassungsmauer und großer Innenhof fehlen; die Türme sind in den Bau integriert; Schießscharten, die auch eine Funktion als Lüftungsöffnungen hatten sind i. d. R. vorhanden. Die Speicherkammern im Innern sind nicht über Trittsteine erreichbar sondern über Treppen und Gänge; Grundlage für die Decken und Böden sind meist Mandelholzäste. Zisternen fehlen oft.
Heutiger Zustand
In früheren Zeiten wurden Schäden an den Agadiren stets unverzüglich ausgebessert, doch die Befriedung der Berberstämme sowie die allgemeine Modernisierung der Lebensumstände während und nach der Kolonialzeit haben diese einstmals für die Kultur der Berber so charakteristischen Bauten funktionslos werden lassen. Bedingt durch die Überalterung der Hölzer fallen einige Kammern in sich zusammen, was unweigerlich weitere Schäden zur Folge hat. Die Kosten für den Erhalt der Bauten oder gar von Rekonstruktionen sind allerdings enorm. Die Dorf- oder Stammesgemeinschaften, die immer noch Eigentümer sind, haben weder das Interesse noch die notwendigen Finanzmittel für den Erhalt der Bauten – so wären der marokkanische Staat oder die UNESCO in der Pflicht zur Bewahrung dieser einzigartigen Kulturdenkmäler.
Regionale Verteilung
Im Antiatlas stehen die wahrscheinlich ältesten Agadire Marokkos in der Umgebung von Ait Baha und Ait Abdullah sowie in der Umgebung von Amtoudi. Weitere Gruppen finden sich etwas weiter südöstlich bei Igherm und Tata sowie im Gebiet des Jebel Siroua.
Im Hohen Atlas stehen die Agadire eher vereinzelt wie in Igherm n’Ougdal; kleinere Gruppen bilden allerdings auch die Bauten im Ait Bougoumez-Tal, im Anergui-Tal und im Ahansal-Tal.
Literatur
- D. Jacques-Meunié: Les greniers collectifs au Maroc. Paris 1944
 - D. Jacques-Meunié: Greniers-citadelles au Maroc. Paris 1951
 - Salima Naji: Greniers collectifs de l’Atlas. Paris 2006
 - Herbert Popp, Abdelfettah Kassah: Les ksour du Sud tunesien. Bayreuth 2010