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Wissenschaftstheorie

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Die Wissenschaftstheorie (engl.: philosophy of science) ist ein Bereich der Philosophie, der sich mit der Wissenschaft und ihrer Form der Erkenntnisgewinnung beschäftigt.

Kernfragen

  1. Welche Charakteristika weist wissenschaftliche Erkenntnis auf (z.B. Vorhersage von experimentellen Ergebnissen)?
  2. Was zeichnet wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn aus (Methodologie)?
  3. Gibt es wissenschaftlichen Fortschritt?
  4. Welchen erkenntnistheoretischen Status haben wissenschaftliche Theorien und die von ihnen postulierten Entitäten?

Wissenschaftstheorien

(in ungeordneter Reihenfolge)

Falsifikationismus

Die in den Wissenschaften vermutlich populärste Position ist die des Kritischen Rationalismus, die von Karl Popper entwickelt und insbesondere von Imre Lakatos ausgebaut wurde. Dem Falsifikationismus zufolge ist das Ziel der Wissenschaft nicht die Verifikation (wie der naive Realist behaupten würde), sondern die Falsifikation von Hypothesen durch Experimente bzw. Beobachtungen. Hypothesen und Theorien gelten solange als wahr, bis sie widerlegt werden. Imre Lakatos verwarf die Auffassung des "naiven" Falsifikationismus, nach der Theorien ganz aufgegeben werden müssen, wenn sie falsifiziert, d. h. von experimentellen oder empirischen Resultaten widerlegt werden. Vielmehr werden bei Falsifikationen in der Regel immer bewusste oder auch unbewusste Grundüberzeugungen, welche den Kern eines sogenannten Forschungsprogrammes bilden, beibehalten, und nur die über diesen Kern hinausgehenden Zusatzanahmen werden modifiziert. Die Grundüberzeugungen, welche den Kern eines Forschungsprogramms ausmachen, können nach Lakatos erst aufgeben werden, wenn ein besseres, alternatives Forschungsprogramm vorhanden sei.

Wissenschaftlicher Realismus

Hauptvertreter: Hilary Putnam, Richard Boyd, Ernan McMullin, Stathis Psillos
Der Wissenschaftliche Realismus lässt sich auf zwei Hauptaussagen bringen:

  1. Die Begriffe einer wissenschaftlichen Theorie beziehen sich auf reale Entitäten, das heißt auf Objekte, die in der Wirklichkeit existieren.
  2. Die Geschichte der Wissenschaften ist als eine Annäherung an die Wahrheit zu verstehen.

Relativismus

Als Hauptvertreter des wissenschaftstheoretischen Relativismus gilt Paul Feyerabend. Oft wird auch Thomas S. Kuhn als Relativst bezeichnet, obwohl er selbst diese Bezeichnung immer abgelehnt hat.
Zentral für Thomas Kuhn ist der Inkommensurabilitätsbegriff. Wissenschaftliche Paradigmen sind inkommensurabel, also unvergleichbar. Von Wahrheit kann man deswegen immer nur unter Bezugnahme auf ein bestimmtes Paradigma sprechen. Paul Feyerabend rief mit seinem Anything goes! die Anarchie in der Wissenschaft wider den Methodenzwang aus (so die deutsche Übersetzung seines Werkes Anything goes!). Sowohl Thomas Kuhn, als auch Paul Feyerabend waren der Meinung, Beobachtungen seien grundsätzlich "Theorie-beladen" ('theory-laden').

Konstruktiver Empirismus

Hauptvertreter: Bas van Fraassen
Vertreter des Konstruktiven Empirismus sind agnostisch gegenüber theoretischen Begriffen einer Theorie (Atom, Gen o.ä.). Alles woran ein Konstruktiver Empirist glaubt, sind Beobachtungen, die sich mit dem bloßen Auge (mitunter unter Zuhilfenahme von Instrumenten) bewerkstelligen lassen. Der Empirismus schickt sich an, das Ziel der Wissenschaft zu erklären. Dieses ist nach Meinung der konstruktiven Empiristen empirische Adäquatheit.

Konventionalismus

Hauptvertreter: Henri Poincaré, Ernst Mach
Ernst Mach war der Meinung, dass Theorien nur eine Art Mnemotechnik sind, die Beobachtungen einfacher und weniger umständlich zugängig machen.
siehe: Konventionalismus, Gestalttheorie

Struktureller Realismus

Hauptvertreter: John Worrall
Dem Strukturellen Realismus zufolge ist Wissenschaft nicht in der Lage den Inhalt der Realität zu erkennen. Wissenschaft beschreibt vielmehr die Struktur der Realität. Den Beweis, den Worrall in seinem aufsehenerregenden paper "Structural Realism" vorlegt, basiert auf der Kontinuität von mathematischen Gleichungen, die Fresnel durch Theoretisierungen über den Licht-tragenden Äther gewann, hin zu den Maxwellschen Gleichungen, die die Eigenschaften von elektromagnetischen Feldern beschreiben. Der Äther wurde verworfen, aber die Gleichungen sind noch heute von Gültigkeit. Siehe auch: Wissenschaftstheoretischer Strukturalismus

Entitätsrealismus

Hauptvertreter: Ian Hacking, Nancy Cartwright
Der "Entitätsrealist" glaubt nicht an die von der Theorie postulierten Entitäten, sondern nur an solche, die beim Experimentieren eine Rolle spielen. Eine Entität ist real, wenn durch deren Manipulierung neue Phänomene produziert werden können.

Sozialkonstruktivismus

Hauptvertreter: Bruno Latour, Karin Knorr-Cetina
Sozialkonstruktivisten behaupten, dass auch scheinbar objektive naturwissenschaftliche Tatsachen tatsächlich das Ergebnis von Prozessen der sozialen Konstruktion, und abhängig von der sozialen Situation des Labors, der Forschungseinrichtung etc. sind.

Erlanger Konstruktivismus

Hauptvertreter: Paul Lorenzen, Wilhelm Kamlah
Der Erlanger Konstruktivismus umfasst die Projekte einer von Missverständnissen freien Wissenschaftssprache, dialogische Logik, konstruktive Mathematik, Protophysik und eine darauf aufbauende Theorie von Gesellschaft und Technik. Kern des Erlanger Konstruktivismus ist die objektive Konstruktion von Begriffen.

Weitere Theorien

Theorie und Evidenz

  • Die Duhem-Quine-These besagt, dass eine Theorie immer als Ganzes und nicht bloß eine einzelne Aussage der Theorie bestätigt bzw. falsifiziert wird.
  • Norwood Russell Hanson und Thomas Kuhn waren der Ansicht, Beobachtungen seien grundsätzlich "Theorie-beladen" ('theory-laden'). Fakten sind in diesem Sinne niemals 'nackt'.
  • Thomas Kuhn war der Meinung, dass Theorien, die um die Paradigmavorherrschaft streiten, nicht aufgrund von Evidenz ausgewählt werden können. (siehe Unterdeterminierung)
  • Francis Bacon prägte den Begriff des Experimentum Crucis, das ein-eindeutig über die Wahrheit der einen oder der anderen Hypothese entscheidet. Diese Idee wird in der heutigen Wissenschaftstheorie angezweifelt.

Erklärungsmodelle

Das bekannteste Modell für wissenschaftliche Erklärungen ist das sog. Deduktiv-nomologische Erklärungsmodell von Carl Gustav Hempel. Dieses Modell wird von Nancy Cartwright (Philosophin) als unzutreffend kritisiert und durch ihr sog. Simulacrum-Erklärungsmodell ersetzt.

Eine weitere, aktuell diskutierte, Erklärungsart ist die sog. Inferenz zur besten Erklärung, kurz IBE (oder auch Abduktion).

context of discovery und context of justification

Der Neopositivist Hans Reichenbach führte diese Unterscheidung 1938 ein. Reichenbach zufolge braucht der Wissenschaftsphilosoph bei der rationalen Rekonstruktion und der Erklärung von Wissenschaft singuläre und subjektive Einflüsse, denen ein Forscher ausgesetzt ist, nicht zu berücksichtigen. Alles, worauf es ankommt, ist, wie der Wissenschaftler seine Behauptungen - normalerweise in der Form von mathematischen Gleichungen und mittels Logik - rechtfertigt.

Diese Unterscheidung läuft in letzter Konsequenz auf einen Ausschluss angeblich kontingenter Geschehnisse (insbesondere soziologischer und psychologischer Art) von wissenschaftsphilosophischem Theoretisieren hinaus und wurde von Thomas Kuhn in seinem Buch The Structure of Scientific Revolutions angefochten, das als erfolgreiche Synthese der beiden "Kontexte" angesehen werden kann.

Zwei Sichtweisen in Bezug auf Theorie und Modell

Theorien sind axiomatisch-deduktive Kalküle bestehend aus Symbolen und Regeln. Bedeutung gewinnen die Terme der Theorie durch Referenz auf Beobachtungen bzw. durch sog. Korrespondenzregeln. Modelle haben lediglich heuristische und pädagogische Funktion (Carnap zufolge). Braithwaite jedoch versteht Modelle als weitere mögliche Interpretationen des Kalküls. Die Syntaktische Sicht hält man in der heutigen Diskussion ebenso wie den Logischen Empirismus, auf dem die syntaktische Sicht beruht, für überholt. (Es ist anzumerken, dass der Term "syntaktische Sicht" nicht von deren Proponenten benutzt wurde, sondern eine retrospektive Bezeichnung der sog. "semantischen Sicht" ist)
Theorien werden als Mengen von Modellen definiert. Modelle sind grundsätzlich nicht-linguistische Entitäten und werden als Realisierungen von Theorien gemäß von Modellen in der Modelltheorie der Mathematischen Logik verstanden. Realisierungen sind konkrete Verknüpfungen und Objekte, die von der Theorie abstrakt formuliert werden. Ein Beispiel für das mathematische Vorbild dieser Sichtweise ist die mathematische Gruppentheorie.

Insgesamt läßt sich im Wechsel von der syntaktischen zur semantischen Sicht ein Wechsel des Fokus auf Theorie hin zu Modellen und deren Hauptproblemfeld der Repräsentation ausmachen.


Modellkonstruktion und Analogien

Modelle werden oft durch einen Analogieschluss mit anderen Systemen konstruiert. Mary Hesse unterscheidet zwischen positiven, negativen und neutralen Analogien. Aspekte zwischen Modell und System sind ähnlich (positiv), verschieden (negativ), oder nicht determinierbar (neutral). Neutrale Analogien motivieren weitere Untersuchungen der Eigenschaften des realen Systems, das durch das Modell repräsentiert werden soll.

Geschichte der Wissenschaftstheorie

Die erste Wissenschaftstheorie liefert Aristoteles mit seiner Schrift Analytica Posteriora. Er unterteilte die Wissenschaft in drei Bereiche:

  • Die theoretische Wissenschaft betrachtet das, was unabhängig vom Menschen ist und keinen äußeren Zweck außer der Erkenntnis selbst besitzt. In sie fällt vor allem die Physik und die Metaphysik.
  • Die praktische Wissenschaft thematisiert das, was im Bereich der menschlichen Handlungen liegt, was aber nichts außer der Handlung selbst hervorbringt. Hierein fällt vor allem Aristoteles' Ethik und die Politik.
  • Die poietische Wissenschaft untersucht das, was im Bereich der menschlichen Tätigkeiten liegt und hierbei ein Objekt hervorbringt.

Weitere wichtige Wissenschaftstheoretiker, die heute nur noch von historischem Interesse sind:

Literatur

Einführungswerke

  • Achinstein, Peter, Concepts of science : a philosophical analysis, Baltimore : Johns Hopkins Press, 1968.
  • Alan F. Chalmers: Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheorie, 5. Auflage, Berlin u.a. 2001
  • Giere, R., Understanding Scientific Reasoning, New York ; London : Holt, Rinehart and Winston, 1979.
  • Nagel, Ernest, The Structure of Science, New York: Brace & World, 1961.
  • Seiffert, Helmut; Radnitzky, Gerard (Hrsg.) (1992): Handlexikon zur Wissenschaftstheorie. 2. unv. Aufl. (Orig. 1989), Berlin: dtv, ISBN 3-423-04586-8
  • Papineau, David, The philosophy of science, New York : Oxford University Press, 1996.
  • Losee, John, A historical introduction to the philosophy of science', New York: Oxford University Press, 1972.
  • Losee, John, Theories of scientific progress: an introduction London: Routledge, 2004.
  • Harré, Rom, The Philosophies of Science.

Standardwerke der Primärliteratur

  • Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang ISBN 3518281976
  • Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen ISBN 3-518-27625-5
  • Karl R. Popper: Logik der Forschung ISBN 3161462343
  • Carl Gustav Hempel, Philosophy of natural science, Englewood Cliffs, N.J. : Prentice-Hall, [1966].
  • Percy Bridgman, The nature of physical theory, New York : Dover, 1936.
  • Mary Hesse, Models and analogies in science, Notre Dame, Indiana : University of Notre Dame Press, 1966.
  • Frederick Suppe, The semantic conception of theories and scientific realism, Urbana : University of Illinois Press, 1989.
  • Pierre Duhem, La theórie physique: son objet, sa structure. Riviere,1914.
  • Imre LakatosThe Methodology of Scientific Research Programmes: Philosophical Papers Volume 1., Cambridge University Press, Cambridge 1977.
  • Stathis Psillos, Scientific Realism. How Science tracks truth, London : Routledge, 1999.
  • Nancy Cartwright, How the Laws of Physics Lie, Oxford, 1983
  • Ian Hacking, Representing and Intervening, CUP, 1983, deutsch (1996): Einführung in die Philosophie der Naturwissenschaften, Reclam
  • Bas van Fraassen, The Scientific Image, Oxford, 1980
  • Ronald Giere, Explaining Science. A cognitive approach., Chicago : University of Chicago Press, 1988, inspesondere Kapitel 3: Models and Theories.
  • Mary Morgan und Margaret Morrison (Hersg.), Models as mediators : perspectives on natural and social science, 1999.

Weiteres

  • Müller, Sabine, Programm für eine neue Wissenschaftstheorie, Würzburg : Königshausen & Neumann, 2004
  • Theo A.F. Kuipers Structures in Science. An Advanced Textbook in Neo-Classical Philosophy of Science., Synthese Library, Springer, 2001.
  • Theo A.F. Kuipers From Instrumentalism to Constructive Realism - On Some Relations Between Confirmation, Empirical Progress and Truth Approximation., Synthese Library, Springer, 2000.
  • Ilkka Niiniluoto Critical Scientific Realism, Oxford, Oxford University Press, 2002.

Siehe auch

Vorlesungsmaterial

Literatur