Die Leiden des jungen Werthers

Die Leiden des jungen Werthers ist ein Briefroman von Johann Wolfgang von Goethe. Die Erstausgabe ist im Jahr 1774 erschienen; eine überarbeitete Fassung erschien 1787.
Die Leiden des jungen Werthers war Goethes erster Roman, der ihn beinahe über Nacht in Deutschland berühmt werden ließ. Das Buch erschien im Herbst 1774 zur Leipziger Buchmesse und wurde dort zum Schlager. Kein weiteres Buch Goethes wurde von so vielen seiner Zeitgenossen gelesen. Der daraus resultierende Erfolg genügte jedoch für lebenslangen Ruhm und Reichtum. Die Erstausgabe ist dem Sturm und Drang zuzurechnen, die überarbeitete Version steht exemplarisch für die Zeit der Weimarer Klassik. Der Protagonist, dessen Handeln allein durch seine Gefühle bestimmt ist, ist zudem ein typischer Vertreter der Empfindsamkeit.
Inhalt

Der größte Teil der Handlung ist in Briefen erzählt, die Werther an seinen Freund Wilhelm richtet.
Als junger Mann, der noch nicht recht weiß, was er im Leben machen möchte, flieht Werther aus der bürgerlichen Welt in die Stadt W. Dort genießt er es, in der Natur umherzustreifen und sich im Zeichnen zu üben, da er sich selbst als Künstler betrachtet. Eines Tages wird er auf einen Ball eingeladen, auf welchem er Lotte begegnet, der Tochter eines Amtsmannes, die seit dem Tod ihrer Mutter für ihre acht Geschwister sorgt. Werther weiß im Voraus, dass sie verlobt ist, verdrängt dieses Wissen jedoch und verliebt sich sofort in sie. Während des Balles kommt es zu einem Gewitter. Sie denken beide an das gleiche Gedicht von Klopstock und so bemerken sie eine tiefe Seelenverwandtschaft. Von da an verbringen Lotte und Werther viel Zeit miteinander.
Als Albert, Lottes Verlobter, von einer geschäftlichen Reise zurückkehrt, ändern sich Werthers Gefühle allmählich. Die Anwesenheit des Verlobten macht ihm die Hoffnungslosigkeit seiner Liebe bewusst. Obwohl Albert ein sympathischer, gutmütiger Mensch ist, bleibt das Verhältnis zwischen ihm und Werther gespannt. Als Werther bemerkt, dass er seine starken Gefühle für Lotte aufgrund der problematischen Konstellation nicht ausleben kann, verlässt er die Stadt, um Abstand zu gewinnen. Werther arbeitet eine Zeit lang bei einem Gesandten, aber die Geschäftspedanterie und die Enge der Etikette zerstören seine Hoffnungen. Er kann sich mit der oberen Gesellschaftsschicht und dem Leben der Adligen nicht identifizieren. Enttäuscht kehrt er nach W. zurück. Inzwischen sind Lotte und Albert verheiratet.
Als Werther Lotte eines Abends kurz vor Weihnachten in Alberts Abwesenheit besucht und ihr aus dem "Ossian" vorliest, werden sie von ihren Gefühlen übermannt, umarmen und küssen sich. Lotte reißt sich jedoch los und beteuert, ihn niemals wieder sehen zu wollen. Nach diesem Ereignis verzweifelt Werther endgültig. Er schreibt einen Abschiedsbrief, leiht sich unter dem Vorwand einer Reise von Albert zwei Pistolen und erschießt sich. Am nächsten Morgen wird er in seiner charakteristischen blau-gelben Kleidung tot aufgefunden. Lessings "Emilia Galotti" liegt dabei aufgeschlagen auf seinem Pult. Ein christliches Begräbnis bleibt dem Selbstmörder verwehrt.
Hintergrund
Liebe zu Charlotte Buff

Die Handlung ist weitestgehend autobiografisch: Während seiner Praktikantenzeit am Wetzlarer Reichskammergericht lernt Goethe (dank eines Empfehlungsbriefes ins Deutschordenshaus) die junge Charlotte Buff kennen und verliebt sich in sie. Charlotte jedoch ist einem Juristen namens Johann Christian Kestner versprochen, der dem Vater offenbar auch seriöser erscheint als der junge, künstlerisch ambitionierte Goethe, der schon damals lieber Künstler als Rechtsanwalt werden wollte. Goethe verabschiedet sich fluchtartig von ihr. Später lernt er noch Maximiliane La Roche, die Tochter eines Geheimrats kennen. Die Eindrücke von beiden Frauen kombiniert Goethe zur Figur Lottes. Nach seiner eigenen Aussage schreibt er innerhalb von vier Wochen den Briefroman, um seinen Liebeskummer zu kompensieren und sich von Selbstmordgedanken zu befreien.
Jerusalems Selbstmord
Einige Details weichen von Goethes Erlebnissen ab, vor allem das Ende. Während Werther sich entleibt, gibt Goethe sich dem Kummer und dem Schreiben hin. Der Selbstmord ist inspiriert von einem jungen Kollegen, Jerusalem, der sich tatsächlich vor lauter Liebesunglück umbrachte und dessen Grab in Wetzlar zu einer Pilgerstätte junger unglücklich Verliebter wurde. Karl Wilhelm Jerusalem, ein entfernter Bekannter Goethes, beging im Oktober 1772 Selbstmord. Goethe erfuhr davon durch Kestner. Dieser hatte Jerusalem tragischerweise die Pistole geliehen, mit der er sich erschoss. Dies veranlasste Goethe, seine eigenen Erlebnisse des Sommers 1772 mit dem Schicksal Jerusalems zu vermischen, das im zweiten Teil des Buches immer mehr in den Vordergrund rückt. Goethe übertrug viele Charakterzüge und sonstige Eigenheiten Jerusalems auf seine Werther-Figur. Um sich näher über die Umstände seines Freitodes zu informieren, kam Goethe Anfang November 1772 für kurze Zeit noch einmal nach Wetzlar. Gespräche mit Personen, die Jerusalem nahegestanden hatten und eigene Erinnerungen bilden die Grundlage für den Roman. Er übernahm sogar Passagen aus Kestners Benachrichtigung über Jerusalems Tod wörtlich.
Goethe schreibt 1815 dem Komponisten Carl Friedrich Zelter: "Dass alle Symptome dieser wunderlichen, so natürlichen als unnatürlichen Krankheit auch einmal mein Innerstes durchrast haben, daran lässt Werther wohl niemanden zweifeln. Ich weiß noch recht gut, was es mich damals für Anstrengungen kostete, den Wellen des Todes zu entkommen..."
Rezeption
Kontroverse
Der Roman rief bei Kritikern wie bei Befürwortern äußerst emotionale Reaktionen hervor. Dies liegt darin begründet, dass Goethe mit Werther eine Person in den Mittelpunkt seines Romans stellt, die den bürgerlichen Normen völlig widerspricht. Das bürgerliche Publikum sah Werther als Störer des Ehefriedens, als Rebell und Freigeist an - ein völliger Widerspruch zu ihren Vorstellungen. Es erwartete in Literatur vielmehr etwas Nützliches und Unterhaltsames - Goethes Roman war in ihren Augen jedoch keines von beiden. Das "Nützliche" wurde von ihnen direkt im Geschehen gesucht, sie wollten eine Person haben, mit der sie sich identifizieren und aus dessen Handlungen sie lernen konnten. Der Roman endet jedoch mit einem Selbstmord - gemäß bürgerlicher Normen nicht vorstellbar. Viele Bürger kritisierten Goethes Werk schlicht, weil die Hauptperson nicht ihren Vorstellungen entsprach und sie so ihre Normen in Gefahr sahen. Für sie stellte "Die Leiden des jungen Werthers" einen Bruch mit der traditionellen Literatur dar - einen Bruch, den sie nicht wollten. Sie sahen das Buch als eine Verherrlichung von Normen an, die ihren Interessen widersprachen, sowie als Verherrlichung des Selbstmordes.
Die Kritik der Verherrlichung des Selbstmordes kam auch in großem Maße von der Kirche und von einigen zeitgenössischen Dichtern - angeblich ahmten zahlreiche Jugendliche die Tat nach. Es kam sogar zu einem Prozess, in dem die Kirche die Zahl der Selbstmorde jedoch so geschickt übertrieb, dass bis heute nicht klar ist, wieviele es nun wirklich waren. Es kam erwiesenermaßen zu Nachahmungsselbstmorden, jedoch weit weniger als die Kirche behauptete. In einigen Regionen (z. B. Leipzig, Kopenhagen, Mailand) wurde das Buch sogar verboten. Goethe selbst argumentierte sinngemäß, er gebe durch sein eigenes Überleben das beste Beispiel ab: Man müsse sich seinen Kummer vom Herzen schreiben. Dem Bischof von Derby, Lord Bristol, der Goethe Verführung zum Selbstmord vorwarf, entgegnete Goethe eher zynisch:
Und nun wollt Ihr einen Schriftsteller zur Rechenschaft ziehen und ein Werk verdammen, das, durch einige beschränkte Geister falsch aufgefasst, die Welt höchstens von einem Dutzend Dummköpfen und Taugenichtsen befreit hat, die gar nichts besseres tun konnten, als den schwachen Rest ihres bisschen Lichtes vollends auszublasen.
Was Goethe hier ziemlich radikal ausdrückt, ist, dass es keinenfalls seine Intention war, den Selbmord als moralisch einwandfreie Lösung zu definieren. Er wollte das Handeln Werthers weder billigen noch tadeln, sondern die Menschen dadurch "erleuchten", indem er ihnen "Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge" aufzeigt.
"Werther-Fieber"
Während Goethe von kirchlich-bürgerlicher Seite viel Entrüstung und Kritik hinnehmen musste, gab es auch begeisterte Anhänger des Briefromans. Vor allem unter den Jugendlichen brach ein regelrechtes "Werther-Fieber" aus, das Werther zu einer Kultfigur werden ließ. Es gab die Werther-Mode (gelbe Hose, gelbe Weste, blauer Rock), die berühmte Werther-Tasse, die in keinem bildungsbeflissenen Haushalt fehlen durfte, und sogar ein Eau de Werther. Szenen aus "Werthers Leiden" (von Daniel Chodowiecki) schmückten Tee- und Kaffeekannen, Tassen, Keksschalen und Teedosen. Dem Bildungsbürgertum dieser Jahrzehnte wurde die tägliche Tee- und Kaffeestunde zur stimmungsvollen Begegnung mit zeitgenössischer Literatur.
Anhänger fand und findet der Roman vor allem unter den Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation wie Werther befinden und so direkt angesprochen werden. Diejenigen, die Goethe richtig verstanden haben, können ihre Situation so mit etwas Abstand reflektieren und in den Leiden, die Werther quasi stellvertretend auszutragen hat, Erbauung und Trost finden.
Hierauf zielt auch der Herausgeber-Hinweis, der sich im Buch noch vor dem ersten Brief befindet:
"Was ich von der Geschichte des armen Werthers nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt, und lege es euch hier vor, und weiß, daß ihr mir's danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe, seinem Schicksale eure Thränen nicht versagen.
Und du, gute Seele, die du eben den Drang fühlst wie er, schöpfe Trost aus seinen Leiden, und laß das Büchlein deinen Freund sein, wenn du aus Geschick oder eigener Schuld keinen nähern finden kannst!"
Bedeutung
"Die Leiden des jungen Werthers" gilt als Schlüsselroman des Sturm und Drang. Das Buch wurde in für damalige Zeiten sehr hohen Auflagen gedruckt und war Mitauslöser der so genannten "Lesesucht".
Dass dieses Buch zu solch einem Welterfolg werden würde, war auch für Goethe nicht vorhersehbar. Um das auch "Wertherfieber" genannte Phänomen zu dokumentieren, sind heute in Wetzlar, neben einem wertvollen Erstdruck des Werthers, Parodien, Nachahmungen, Streitschriften und Übersetzungen in zahlreichen Sprachen ausgestellt. Der Erfolg des Romans war aber mehr als nur eine Modeerscheinung. Goethe selbst sagte dazu:
"Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer, und vorzüglich deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf." (Dichtung und Wahrheit)
Kunstwerke, die auf den 'Werther' zurückgehen
Der Roman beeinflusste sowohl in seiner Form wie auch in seinem Inhalt viele weitere nachfolgende Romane, so den Briefroman "Obermann" von Étienne-Pivert den Senancour (1779-1846), den Roman "Adolphe" von Henri Benjamin de Constant-Rebecque (1767-1830) und den psychologischen Roman "Ohne Dogma" von Henryk Sienkiewicz (1846-1916).
Einige Werke greifen jedoch direkt auf Goethes Werther zurück. Christoph Friedrich Nicolai verfasste eine beißende Parodie unter dem Namen "Die Freuden des Jungen Werthers". Darin gewinnt Werther Charlotte und steigt zum vom Glück gesegneten Landbesitzer auf, der sich seiner Kinderschar erfreut.
- Oper von Jules Massenet, Werther (Oper)
- Thomas Mann Lotte in Weimar
- Ulrich Plenzdorf, Die neuen Leiden des jungen W.
Jedoch hat Goethes Werk nicht nur historische Bedeutung. Es hat an Aktualität auch heute nichts verloren. Das Motiv der unglücklichen Liebe ist überzeitlich und wird immer wieder thematisiert. So ist es auch in vielen Schulen Standardlektüre.
siehe auch: Wertheriaden
Ausgaben
- Die Erstausgabe erschien im Jahre 1774.
- Im Jahre 1774 gab es eine französische Übersetzung, die Napoleon sieben Mal las.
- Im Jahre 1775 kamen sieben deutsche Neudrucke heraus.
- Es folgten Übersetzung ins Holländische (1776), Englische (1779), Italienische (1781) und Russische (1788).
1787 veröffentlichte Goethe eine überarbeitete Version des Romans. Darin ist erstmals die so genannte "Bauernburschen-Episode" enthalten, außerdem wird das Verhältnis zwischen Werther und Albert deutlicher herausgearbeitet. Allerdings benutzte Goethe nicht die Originalausgabe des Leipziger Verlegers Weygand von 1774 für seine Änderungen, sondern einen unberechtigten Nachdruck, der 1775 bei Himburg in Berlin erschienen war und bereits zahlreiche Abweichungen vom Original enthielt.
Zitate
"Es ist ein Meisterwerk, worin hinreißendes Gefühl und frühreifer Kunstverstand eine fast einmalige Mischung eingehen. Jugend und Genie sind sein Gegenstand, und aus Jugend und Genie ist es selbst geboren." (Thomas Mann über den 'Werther'-Roman)
Werther-Effekt
Seit den 1970er Jahren befasst sich die Psychologie mit dem Phänomen von "medial vermittelten Nachahmungs-Suiziden", das unter dem Namen Werther-Effekt bekannt ist.
Literatur
Ausgaben
- Digitale Bibliothek Vollständiger Text
- Vollständiger Text beim Projekt Gutenberg
Sekundärliteratur
- Horst Flaschka: Goethes »Werther«. Werkkontextuelle Deskription und Analyse, München 1987
- Dirk Grathoff: Der Pflug, die Nußbäume und der Bauernbursche. Natur im thematischen Gefüge des Werther-Romans, in: Goethe Jb. 102 (1985), 184–198
- Karl Hotz (Hg.): Goethes »Werther« als Modell für kritisches Lesen. Materialien zur Rezeptionsgeschichte, Stuttgart 1974
- Klaus Hübner: Alltag im literarischen Werk. Eine literatursoziologische Studie zu Goethes »Werther«, Heidelberg 1982
- Victor Lange: Die Sprache als Erzählform in Goethes Werther, in: Formenwandel. Festschrift für Paul Böckmann, hg. v. Walter Müller-Seidel, Hamburg 1964, 261–272
- Norbert Miller: Goethes »Werther« und der Briefroman, in: ders., Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts, München 1968, 138–214
- Karl N. Renner: »Laß das Büchlein deinen Freund seyn«. Goethes Roman »Die Leiden des jungen Werther« und die Diätetik der Aufklärung, in: Zur Sozialgeschichte der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Jahrhundertwende, hg. v. Günther Häntzschel, Tübingen 1985, 1–20
- Kurt Rothmann (Hg.): Erläuterungen und Dokumente. Johann Wolfgang Goethe, »Die Leiden des jungen Werthers«, Stuttgart 1971
- Klaus Scherpe: Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürgerlicher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert, Bad Homburg 1970
Per Internet verfügbar
- Interpretationen:
- Axel Sanjosé, Die Leiden des jungen Werthers; auf: xlibris.de
- Vorträge:
- Giorgio Cusatelli, Goethes Werther(in Italien); Vortrag vom 25. November 1999
- Anderes:
- Thomas Anz, Geheimnisse des Genies Goethe. Eine Erinnerung an Kurt R. Eisslers große psychoanalytische Studie; auf: literaturkritik.de 7. Juli 1999
- Goethes geliebte Lotte Charlotte Buff, Vorbild für »Werthers Leiden«, wurde vor 250 Jahren geboren; in: Hamburger Abendblatt, 7. Januar 2003