Epoche (Literatur)
Eine literarische Epoche ist ein Periodisierungsabschnitt der Literaturgeschichte.
Der Geschichtsschreibung der literarischen Epochen liegt die Annahme zugrunde, daß es heuristisch sinnvoll sein kann, Werke, die in einen gemeinsamen Zeitabschnitt fallen, durch gewisse "Trennereignisse" oder "Epochenschwellen" (Blumenberg) formatiert sind (etwa das Schaffen Goethes "nach Schillers Tod") und ähnliche stilistische und formale Eigenschaften aufweisen, ein zugrundeliegendes gemeinsames Ordnungsprinzip zu geben. Eine Schwierigkeit ist dabei ein 'Henne-Ei'-Problem, das sich in der Auswahl des Materials ergibt: ordnet man Autoren einer Epoche zu, weil sie für den 'Geist der Zeit' repräsentativ sind, oder hat man schon einen Epochenbegriff im Kopf und läßt dann entsprechend ausgesuchte Autoren diese repräsentieren? Was kann 'repräsentativ' sein, wenn durch Kanonbildung stets Minderheitenliteraturen ausgegrenzt werden?
Die theoretische Herkunft der Epochenbegriffe ist höchst unterschiedlich: aus der Religionsgeschichte (Reformationszeit, Gegenreformation), aus der politischen Geschichte (Restauration, Vormärz, Gründerzeit), aus der Kunstgeschichte (Barock, Biedermeier, Expressionismus, Jugendstil, Neue Sachlichkeit); Ableitungen von Personen (besonders im anglophonen Raum: elisabethanische, viktorianische Literatur; aber auch: Goethezeit; 'Nach-Hegels-Tod'), enthalten ein impliziertes Werturteil (Ästhetizismus, Manierismus, Biedermeier, Dekadenz), oder entstehen durch Relativierung bereits bestehender Epochenbegriffe (Postmoderne).
Mehrere dieser Begriffe können um einen einzelnen Zeitabschnitt konkurrieren (so etwa Jugendstil und Impressionismus); umgekehrt kann ein Begriff mehrere Zeitabschnitte umfassen (etwa kann man Manierismus als die Endform des Barock sehen oder als das Ende der realistischen Erzähltradition Anfang des 20. Jahrhunderts). Verschiedene Kulturen können mit scheinbar gleichnamigen Epochen verschiedene Zeitabschnitte bezeichnen (das restauration age dauert in Großbritannien bis ins 18. Jahrhundert, während im deutschen Sprachraum die Restaurationszeit 1688 endet.)
Epochenbegriffe können überzeitliche Kriterien darstellen und zugleich einen festen geschichtlichen Abschnitt bezeichnen (so wird Hesses Prosa (neu)-romantisch genannt; unter Romantik im engeren Sinne aber nur die Literatur von 1780-1810 verstanden). Unterschieden werden müssen Epochen, die durch die Selbstbezeichnung ihrer 'Bewohner' gekennzeichnet ist (programmatische Epochen wie etwa der Expressionismus), oder die durch nachträgliche literaturgeschichtliche Reflexion entstanden sind (so zum Beispiel Barock); hier muß man zwischen Epoche und "Epochenbewußtsein" (Reinhart Koselleck) trennen.
Positionen, nach denen es einen gewissen naturnotwendigen Entwicklungsprozeß der Epochen gibt (etwa das Schema 'Barock' - 'Aufklärung' - 'Klassik' - 'Romantik'; oder die These von Ernst Robert Curtius, Epochen der Klassik und des Manierismus lösten sich immer wieder ab), werden inzwischen kaum mehr vertreten. Die deterministischen Geschichtsteleologien, die sie bewarben, entfalteten dennoch besonders im 19. Jahrhundert und im beginnenden 20. Jahrhundert eine nicht zu unterschätzende Wirkung.

Die kulturellen Entwicklungen werden, so die Aussage, kurzlebiger; das Nationale, das Soziale und das Religiöse geben ihnen in Deutschland jedoch vor allem Kraft. Gegenbewegungen folgen jedem Epochenhöhepunkt - ein sehr handfestes Beispiel dafür, wie die Epochengeschichte politische Aussagen macht. Aus: Dr. E. Brenner, Deutsche Literaturgeschichte, 13. Auflage, 122-131. Tsd. Mit einer farbigen Beilage (Wunsiedel/ Wels/ Zürich, 1952).
Literatur
- Reinhart Koselleck: Epoche und Epochenbewußtsein. München 1987
- Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main 1995
- Hans Ulrich-Gumbrecht, Ursula Link-Heer: Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur und Sprachhistorie. Frankfurt am Main 1985