Kitsch
Kitsch ist ein zumeist abwertend gebrauchter gemeinsprachlicher Begriff zur Bezeichnung eines aus Sicht des Betrachters emotional minderwertigen, sehnsuchtartigen Gefühlsausdruckes. In Gegensatz gebracht zu künstlerischer Bemühung um das Wahre oder das Schöne, meint die Kritik mit Kitsch einen aus ihrer Sicht zu einfachen Weg zum Ausdruck bzw. überhaupt die ihr suspekte Grundlage dieses Ausdrucks. Daher Gefühle selber in dem Zusammenhang abwertend als sentimental, trivial oder kitschig bezeichnet werden.

Als ein um 1870 im Münchner Kunsthandel entstandenes Wort bleibt seine genaue Abkunft unsicher und wird verschieden gedeutet. Es stammt möglicherweise vom mundartlichen: kitschen, soviel wie Straßenschmutz oder Schlamm zusammenkehren, klatschen und klitschen. Es hätte danach einen lautnachahmenden Ursprung, der dann als Pejorativ in das Bildhafte übertragen wurde - im Sinne von "zusammengeschmierter Dreck". Häufig genannt wird ebenfalls eine mögliche Abstammung vom engl. sketch, also eine Skizze oder flüchtige Malerei, wie sie englische oder amerikanische Touristen jener Zeit für wenig Geld als Souvenir am Kunstmarkt nachfragten.
Als psychologische oder soziale Attribute solcher als kitschig bezeichneten Empfindungen nennt die Kritik: Konfliktlosigkeit, Kleinbürgerlichkeit, Massenkultur, Verlogenheit, Stereotypisierung, Zurückgebliebenheit, Wirklichkeitsflucht, falsche Geborgenheit oder etwa dümmlich Tröstende(s) (Adorno). H.D. Gelfert unterscheidet in Was ist Kitsch? den niedlichen, gemütlichen, sentimentalen, religiösen, poetischen, sozialen Kitsch, Naturkitsch, Heimatkitsch, Blut und Boden-Kitsch, mondänen, sauren, erotischen Kitsch, Gruselkitsch, erhabenen Kitsch, Monumentalkitsch, patriotischen, ideologischen Kitsch und Einschüchterungskitsch.
Dabei geht der Vorwurf der Kritik zunächst weniger auf einen Mangel an Wahrheit, wie bei schlechter Kunst, sondern häufig auf die psychologische Berechnung des Kitsches. Als beliebte Illustration einer solch "kalkulierten Gefühlsverlogenheit" dienen etwa die gefühlbetonten Stereotypen der Schlagermusik oder Trivialliteratur, handwerklich oder maschinell verfertigte Bildwerke mit Idyllen- oder Kindchenschemata.
Umgekehrt konzentriert die Verteidigung von Kitsch oder Trivialität sich zumeist auf die Qualität des Zugebens einfacher Gefühle, beispielsweise des Patriotismus, aber auch auf den Erfolg, wie etwa den Erfolg von Trivialliteratur. In der Trivialliteratur verschmelzen die Gefühle von Kindern und Jugendlichen mit Bedürfnissen vieler Erwachsener jedes Alters. So ist der meistgelesene Schriftsteller deutscher Sprache weder Goethe noch Thomas Mann, sondern Karl May. (Siehe auch Walter Benjamin: "Was die Deutschen lasen als ihre Klassiker schrieben")
Danach wäre die Entscheidung, ob etwa Karl May Kitsch ist oder nicht, abhängig vom Alter seiner Leser. Eine kaum haltbare Definition. So relativiert sich vielfach der Wert typischer Kitsch-Kritik, wie Kitsch sei die "Gestaltung erkenntnisloser Wunschbilder". Vielmehr erscheint die Definition des Kitsch an die Definition von Kunst unauflöslich gebunden. Je undeutlicher der Begriff von Kunst, desto unfaßbarer der Kitsch, denn es ist schwer bestreitbar, wie etwa Umberto Eco einwirft, daß die der Kunst zugeschriebenen Wirkungen, wie Anstöße zum Denken, Erschütterung, Emotionen ebenso von Kitsch ausgehen können.
Eine unkritische Herabsetzung anderer Menschen Empfindungs- und Ausdrucksart kann indessen im Kitsch-Begriff ein Heim für dumpfe und selbst gefährliche Empfindungen haben. So wenn etwa Adolf Hitler in Mein Kampf: ... neun Zehntel alles literarischen Schmutzes, künstlerischen Kitsches und theatralischen Blödsinns auf das Schuldkonto der Juden gehen lassen möchte, indes Abgesehen vom Kitsch der neueren Kunstentwicklung, dessen Produktion allerdings auch einem Negervolke ohne weiteres möglich sein dürfte, war der Besitzer und auch Verbreiter wahrer Kunstgesinnung nur der Deutsche allein.
Hermann Broch sieht dementsprechend in Adolf Hitler den Prototyp des Kitsch-Menschen:
- „Der Spießergeist, dessen Rein-Inkarnation Hitler gewesen ist … entpuppt sich immer wieder als der des prüden Raubtiers, das jegliche Grausamkeit, also nicht zuletzt auch die Scheußlichkeiten der Konzentrationslager und Gaskammern ohne weiteres hinnimmt … Vielerlei Gründe lassen sich für das böse Phänomen anführen, beispielsweise das Abreißen der abendländischen Werttradition sowie die hierdurch bewirkte seelische Unsicherheit und Haltlosigkeit, von der eine so traditionsschwache Zwischenschicht wie das Spießertum sicherlich am intensivsten erfaßt worden ist.“
Jemand der Kitsch herstellt, ist nach Broch "nicht einer, der minderwertige Kunst erzeugt, er ist kein Nichts - oder Wenigkönner … er ist kurzerhand ein schlechter Mensch, er ist ein ethisch Verworfener, ein Verbrecher, der das radikal Böse will. Oder etwas weniger pathetisch gesagt: er ist ein Schwein."
Broch steht mit seiner Kritik des Kitsches in einer im weitesten Sinne marxistisch geprägten Tradition, mit der sich Namen wie Walter Benjamin, T. W. Adorno oder Ernst Bloch verbinden. Deren eigentliches Interesse geht dabei über eine Kritik totalitärgesellschaftlicher oder spätbürgerlicher Verhältnisse weit hinaus. Der Kitsch erscheint Adorno als der unverfälschte Ausdruck des Verfalls aller Kultur zur Massenkultur in der Moderne: Heute, da das Bewußtsein der Herrschenden mit der Gesamttendenz der Gesellschaft zusammenzufallen beginnt, zergeht die Spannung von Kultur und Kitsch.
Die Volkskunst, wie etwa Trachten und Trachtenschmuck, geschnitztes Holzgeschirr usw., mit ihrer europäischen Blütezeit im 18. Jahrhundert, wird dem Kitsch oft wie ein Echtes einem Falschen gegenüber dargestellt. Aus dieser Sicht drückt der Kitsch weitgehend den Niedergang des Brauchtums in der Moderne aus. Es ist aber eine prinzipiell unbefriedigende Vereinfachung zu sagen: Volkskunst sei Handarbeit, Kitsch maschinell imitierte Volkskunst. Handarbeit kann maschinelle Produktion imitieren. Außerdem gehen ästhetische Qualitäten in eine solche Vereinfachung nicht ein uam. Brauchtum und Volkskunst können jedoch erstarren und niedergehen, während die kritische Sicht im Kitsch den Niedergang immer schon auf höchster Stufe vollendet sieht.
Typisch ist hier die Haltung von Marcel Reich-Ranicki, das Triviale aus anderen als qualitativen Gründen zu analysieren:
- „… die Mehrheit des Volkes liest keine Literatur, jedenfalls keine, die sich ernst nehmen ließe. So konnte die herrliche Literatur der Weimarer Republik mit Thomas Mann an der Spitze politisch (gegen den Nationalsozialismus) nichts bewirken. Es gehört übrigens zu den Sünden der Literaturkritik, daß sie sich damals um die Trivialliteratur, beispielsweise die Romane der Hedwig Courths-Mahler, überhaupt nicht gekümmert hat. Man hätte zeigen müssen, wie das Zeug gemacht ist. … Und das habe ich [später in den 1970er Jahren] auch getan: ein Buch von Luise Rinser, von Hans Habe, von Willi Heinrich und dergleichen. Ich habe versucht zu erklären und nachzuweisen, wie diese Bücher gemacht sind. Es hat ja keinen Sinn zu sagen: Das ist Kitsch.“
Das Publikum von Volkskunst, Volksmusik, Trivialliteratur, Zirkus usw. wird oft mit dem für den Kitsch empfänglichen in Zusammenhang gebracht. Die Gegenüberstellung eines solchen Publikums gegen ein Publikum mit „gehobenen Ansprüchen“ hat die Kritik immer herausgefordert und aus ihr überhaupt eine Kritik des „gesunden Volksempfindens“ gemacht. Walter Benjamin schreibt: „Sein Publikum [das des Zirkus] ist weit respektvoller als das irgend welcher Theater oder Konzertsäle. ... Es ist immer noch eher denkbar, daß während Hamlet den Polonius totsticht, ein Herr im Publikum den Nachbar um das Programm bittet als während der Akrobat von der Kuppel den doppelten Salto mortale macht. Eben deshalb ist freilich das Zirkuspublikum im Ganzen auch das unselbstständigste: in alle Schranken gepferchtes Kleinbürgertum“
Den Kitsch aber darzustellen, als wäre mit dem Begriff zugleich die Sache selber neu erfunden worden, kann nicht unbedingt einleuchten. Ein Beispiel mag hier zeigen, daß man beim Kitsch von einer altbekannten eher als von einer modernen Erscheinung oder Befindlichkeit sprechen kann. In den Römischen Gesprächen antwortet Michelangelo auf die Frage, ob nicht die niederländische Malerei frommer als die italienische sei: Die niederländische Malerei wird, Herrin, im allgemeinen jedem Frommen mehr gefallen als ein italienisches Werk, das ihm keine Träne entlocken wird, wie ein niederländisches es tut, jedoch nicht wegen der Trefflichkeit und Güte dieser Malerei, sondern wegen der Milde jenes frommen Beschauers. Den Frauen wird sie gut gefallen, insbesondere den sehr alten oder den ganz jungen, und ebenso auch den Mönchen und Nonnen und einigen amusischen Edelleuten, denen die Empfindung für wahre Harmonie fehlt. Die Niederländer malen recht eigentlich, um das äußere Auge zu bestechen, etwa durch Dinge, die gefallen, oder durch solche, über die man nichts Schlechtes sagen kann, wie Heilige und Propheten … und wiewohl dies alles gewissen Augen wohlgefällt, so fehlt darin in Wahrheit doch die echte Kunst, das rechte Maß und das rechte Verhältnis, die Auswahl und die klare Verteilung im Raum und schließlich sogar Inhalt und Kraft.
Siehe auch: Trivialliteratur, Staubfänger, Jeff Koons.
Literatur
- Gelfert, Hans-Dieter: Was ist Kitsch? Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2000. (ISBN 3525340249)
- L. Giesz: Phänomenologie des Kitsches (1971)
- A.A. Moles: Psychologie des Kitsches (1972) ; Kitsch. Soziale und politische Aspekte einer Geschmacksfrage (1985)
- K. Deschner: Kitsch. Konvention und Kunst. Eine literarische Streitschrift (1987)
- Umberto Eco: Apokalyptiker u. Integrierte. Zur krit. Kritik der Massenkultur
- Gert Ueding: Glanzvolles Elend. Versuch über Kitsch und Kolportage. (1973)
- Gillo Dorfles: Der Kitsch. (1969)
- Ludwig Giesz: Phänomenologie des Kitsches. (1971)
- Jürgen Hasse: Heimat und Landschaft. Über Gartenzwerge, Center Parcs und andere Ästhetisierungen. (1993)
- Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik. (1971)
- Fritz Karpfen: Der Kitsch. Eine Studie über die Entartung der Kunst. (1925)
- Walter Killy: Deutscher Kitsch. Göttingen 1964
- Klaus Christian Köhnke/Uta Kösser: Prägnanzbildung und Ästhetisierung in Bildangeboten und Bildwahrnehmungen. Leipziger Studien zur Erforschung von regionalen Identifikationsprozessen (2001)
- Lexikon der Ästhetik: Kitsch
- Georg Maag: Kunst und Industrie im Zeitalter der ersten Weltausstellungen. München: Fink 1986; darin: III. Die Weltausstellungen von 1851und 1855, S. 78 - 132; V. Die Ästhetisierung der Industrie
- Werner Plum: Weltausstellungen im 19. Jahrhundert: Schauspiele des sozio-kulturellen Wandels
- Jochen Schulte-Sasse: Kitsch. in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (1979)
- Braungart, Wolfgang: Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. (2002)
- Norbert Elias: Kitschstil und Kitschzeitalter. (2004)
- Liessmann, Konrad Paul: Kitsch! Oder warum der schlechte Geschmack der eigentlich gute ist. (2002)
- Willkomm, Liebgunde: Ästhetisch erleben. Eine psychologische Untersuchung des Übergangs von Kunsterleben und Kitscherleben. (1981)
- Frank Illing: Kitsch, Kult, Kommerz - Zur Soziologie des schlechten Geschmacks [dies war ein Uni-Seminar. kein Buchtitel, F.I.]
- Broch, Hermann: Das Böse im Wertsystem der Kunst. (1933); Zum Problem des Kitsches. In: Die Idee ist ewig. Essays und Briefe. (1968)