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Muʿtazila

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Die Mu´tazila ist eine inzwischen ausgestorbene sunnitische Rechtsschule (madhab) des Islam, die sich 770-847, vor allem aber zu Zeiten des Abbasiden-Kalifen al-Ma´mun allerhöchster Protektion erfreute und in eine Inquisition (Mihna) gegen Andersdenkende (Ibn Hanbal) mündete.


Anfänge

Der Legende nach soll der Kalif al-Ma´mun im Traume Aristoteles gefragt haben, was im eigentlichen Sinne gut sei. Die Antwort soll gewesen sein, daß nur das gut sei, was vernünftig ist. Es fällt auf, daß diese Antwort, selbst wenn es nur ein Traum oder überhaupt eine Legende gewesen ist, zwar typisch aristoteleisch, dennoch aber unvollständig ist. Ohne den Einklang der Vernunft mit dem Gefühl bleibt sie einseitig. Angewandt auf die Religion aber kann das zu schwerwiegenden Disputen und Argumentationsproblemen führen.

Die muslimische Geistlichkeit unter al-Ma´mun sah sich z.B. mit der von ihr selbst aufgeworfenen Frage konfrontiert, wieso Gott das von ihm selbst geschaffene Böse überhaupt bestrafen könne. Die Betonung der Vernunft gab ihnen die Antwort und legte die Grundlagen für die neue islamische Rechtschule der Mu´tazila.


Hauptvertreter und Gegner

Als frühe Vordenker dieser Rechtsschule gelten Hasan al-Basri (†728) sowie seine Schüler Wasil (†748) und Amr ibn Ubayd, ihr eigentlicher Gründer aber war Abu al-Hudhayl (†841). Er vertrat die Auffassung, daß Gott nur Gutes wolle und auch tue und daß das Böse nur ein Zwischenstadium zwischen Glaube und Unglaube sei wie ein sündiger Muslim selbst. Diese Zwischenstufe entspricht dem aristotelischen Suchen nach der Mitte ebenso wie die mu´tazilistische Sicht auf den Islam schlechthin als Weg zwischen Versprechen (auf die sieben Himmel) und Drohung (mit Hölle, Fegefeuer und Verdammnis). Der richtige Weg zwischen diesen beiden Extremen jedoch beruht auf aktivem Handeln für das Gute und gegen das Böse - ähnlich den aristotelischen Tugenden.

Ebenso wie bei Aristoteles finden wir logische Argumentationsketten und - wo diese enden - Spekulationen bzw. Interpretationen. Aristoteles hatte bei seiner Vorliebe für diese Logik bemerkt, daß diese Argumentationsketten am Ende zu subjektiven Meinungen führen konnten. Islamische Machthaber aber auch religiöse Modernisierer und Intellektuelle hatten sich ein Instrument geschaffen, jede beliebige Stelle des Heiligen Koran in ihrem Interesse auszulegen. Hauptargument für die Entscheidungsfindung und Interpretation islamischer Prinzipien sollte die Vernunft sein - als Maßstab an Überlieferung und Offenbarung sowie ihre Anwendung auf veränderte politische und soziale Verhältnisse. Die Aristoteles-Kommentatoren al-Kindi (800-870) und Ibn Rushd (Averroes) unterschieden jedoch hierbei zwischen der dem Mensch eigenen passiven Vernunft und der von ihm im Laufe seines Lebens und Erkennens erworbenen aktiven Vernunft.

Die Geschichte jedoch verlief anders. Gegen diese religiöse Staatslehre stellte sich sehr bald die konservative sunnitische Geistlichkeit, deren Hauptargument die unveränderliche Befolgung der Tradition und ihre ständige Nachahmung war. Die Vermischung von göttlichen Anweisungen und menschlichen Gedanken durch den Menschen erklärten sie zur Sünde. Ihre Hauptvertreter waren Ibn Hanbal (†855) und später al-Ghazali (†1111), ein Kritiker Averroes. Kein halbes Jahrhundert und kaum drei Herrscher später hatte sie wieder die religiöse Führung im Reiche der Kalifen gewonnen. Die in Opposition zum Staat stehenden Schiiten aber gaben die Konzeption der selbstständigen Entscheidungsfindung nicht einfach auf, entwickelten sie aber weiter. Auch die Mu´tazila konnte sich außerhalb des Kalifenhofes noch einer Duldung und gewissen Förderung an den Höfen der persischen Buyiden-Sultane und -Emire erfreuen, an denen auch der Aristoteles-Kommentator Avicenna (†1037) als Arzt wirkte.


Übernahme durch die Schia

Allerdings setzte jedoch eine Spaltung der Mu´tazila in eine frühe „Basrer“ und eine spätere „Baghdader Schule“ ein. Letztere darf nicht verwechselt werden mit der „Baghdader Schule“ der imamitischen Schiiten, hat diese jedoch entscheidend beeinflußt und kann in gewisser Weise als eine der Wurzeln derselben gelten. Mit der Machtübernahme durch die der shafitischen Sunna anhängenden Seldschuken endete auch diese Phase in der Mitte des 11. Jahrhunderts, doch bemühten sich die fremden Machthaber und die Abbasiden-Kalifen fortan, die Mu´tazila als Gegengewicht zu den radikalen Hanbaliten zumindest zu erhalten. Eine wahre letzte Blüte erlebte die Mu´tazila unter Zamakhshari (†1144) aber nur noch in Choresmien bis zur Vernichtung durch die Mongolen (ab 1220).