Wahhabiten
Als Wahhabiten wird eine Gruppierung des Islams bezeichnet. Es wird behauptet, das Scheich Muhammad ibn Abd al-Wahhab, der im 18. Jahrhundert im heutigen Saudi-Arabien lebte, als Begründer gilt. Dies entspricht aber nicht der Wahrheit, da die Glaubensinhalte und Praktiken sich bis zum Propheten Muhammad zurückführen lassen. Die sogenannten Wahhabiten, welche sich selbst als Ahl as Sunna oder Salafiya bezeichnen, legen den Islam in seiner reinsten Form aus. Sie werden heute noch von vielen Islamexperten als die "Puritaner des Islams" bezeichnet, aufgrund der Tatsache, dass sie den Islam ohne jeglichen ideologischen Einflüssen (z.B. Mysik und Philosophie aus Griechenland, der einen enormen Einfluss auf den Sufismus hatte) praktizieren. Dies bedeutet, dass die ursprünglichen Quellen des Islams (der Koran und die Worte des Propheten) mit der Auslegung der ersten drei Generationen im Islam (Gefährten des Propheten, die Generation danach und deren Folgegeneration) verstanden werden.
Ursprung und Lehre
Der als Gründer dargestellte Muhammad ibn Abd al-Wahhab stammte aus der Oasenstadt Uyaina im Nadschd (Zentralarabien). Er studierte in Bagdad den islamischen Rechtsgelehrten Ahmad Ibn Hanbal. Dieser wandte sich im 8. und 9. Jahrhundert gegen die veränderten Glaubensvorstellungen, welche zum größten Teil durch den Sufismus geprägt waren, der seinerseits dem Einfluss der Mystik und Philosophie des alten Griechenlands unterlag. Praktiken wie das Anbeten von heiligen Scheichs, das Schreiben von Wunschzetteln und ihr Anhängen an Bäumen sowie die allgemeine Beigesellung neben dem Schöpfer waren Punkte, welche Abdul Wahhab mit seinen Büchern bekämpfte. Abduhl Wahhab fasste diese Lehren im Buch der Einheit (arabisch kitab at-tauhid) zusammen, das eine "einfache Natur" Gottes und seiner Offenbarung verkündete. Ein genauerer Blick in diese Bücher zeigt dem Leser, dass Abdul Wahhab den Islam mit dem Koran und den Worten des Propheten lehrte und die Muslime zurück zum "wahren Glauben" rief, der durch diese beiden Quellen (Koran und Sunna) beschrieben wird. Die Anhänger Wahhabs nennen sich selbst deshalb Unitarier (arabisch al-Muwahhidun).
Ibn Abdal Wahhab übernahm auch die Lehren Ibn Taimiyas, eines anderen Schülers Hanbals, der im 14. Jahrhundert lebte. Taymiya wandte sich gegen eine Schwächung des Islam durch fremde Einflüsse. Er geißelte die Logik und die empirische Wissenschaft Griechenlands sowie die islamische Mystik, die er für ein feindliches, dem christlichen Glauben entlehntes Element hielt. Ibn Taimiya wurde später auf Mehrheitsbeschluss der Sunnitischen Gelehrten in den Kerker geworfen, da sie sich durch seine Ansichten zu weit vom Sunnitentum abspalteten.
Die so genannten Wahhabiten betrachten den Weg, dem sie folgen, als einzig wahren Weg. Sie lehnen alle anderen Richtungen des Islam ab, insbesondere den Sufismus (islamische Mystik) und die Schia, ohne sie jedoch - wie oft behauptet - vom Islam auszuschließen.
Geschichtliche Entwicklung
Die Schule wurde von Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1699-1792 n.Chr.) gegründet. Er entstammt dem östlichen Teil des heutigen Saudi Arabiens aus dem Nadschd. Sein Vater soll ein sehr rechtschaffener und reiner Mensch gewesen sein, wie auch sein Bruder Suleyman, die beide in der Tradition der Hanbalitischen Rechtsschule standen.
Muhammad ibn Abd al-Wahhab studierte Religion in Medina. Er war stark beeinflusst von der Lehre Ibn Taymiyyas (661-728 H./ 1263-1328 n.Chr.) und Ibn Kayyim al-Jawiziyyas (691-751 H./ 1292-1350 n.Chr.). Beide Gelehrten riefen die Muslime zum ursprünglichen ("reinen") Islam auf, indem sie davor warnten, blind den Meinungen der Gelehrten zu folgen. Denn die Gelehrten selbst riefen dazu auf, dass man ihre eigenen Worten keine Beachtung schenken sollte, wenn sie im Widerspruch zu den Worten des Propheten stünden. Dies war die Meinung der großen vier Imame. Ihre Richtung ist bekannt als die Salafi-Schule, sie bildet sozusagen die fünfte Schule neben der Maliki, Hanbali, Schafi und Abu Hanife.
Trotzdem gelingt ihnen bis heute immer wieder, Anhänger für ihre Lehre über Einheit (Tawhid), Irrglauben (Schirk) und Unglauben (kufr) zu gewinnen. Die Glaubenslehre der Salafiyya deckt sich mit denen der vier Imame, wie aus den Aussagen der vier Imame (Abu Hanifa, Malik, Schafi und Ibn Hanbal) entnommen werden kann. Bezüglich der Aussagen dieser vier Imame wurde eine wissenschaftliche Arbeit an der bekannten Universität in Medina (Saudi Arabien) von Dr. Muhammad Al Chumayyis angefertigt. Jedoch sollte man hinzufügen, dass die Glaubenslehre (die Aqida) der vier Imame und der Salafiyya (welche dieselbe ist) sich von der Glaubenslehre des Sufismus und Schiitentums enorm unterscheiden.
In den Schriften Ibn Abdul Wahhabs kann nirgendwo entnommen werden, dass er jene, die seine Ansichten nicht vertraten, als "Ungläubige" bezeichnete. Dies wird des öfteren von sufistischen Orden behauptet, die sich dabei aber auf keine Quelle von Ibn Abdul Wahhab als Beweis beziehen können.
Entstehung und Zerfall des 1. Wahhabitenreichs
Muhammad ibn Abd al-Wahhab begann seine Missionierung 1143 H. (1731 n.Chr.), und sein Glaube verbreitete sich durch die Wüste Nadschd. 1152 H. (1740 n.Chr.) begann er in Huraimala nahe Riad seine puritanischen Glaubenssätze zur Reinigung des Islam zu verkünden. Es gelang ihm den Emir von Dariya, Muhammad ibn Saud, und dessen Sohn Abdulaziz für seine Lehren zu gewinnen. Die Saudis verfolgten das Ziel, die Einigung der Stämme Arabiens auf der Grundlage des wahhabitischen Glaubens unter ihrer Oberhoheit gewaltsam herbeizuführen. Der Puritanismus des wahhabitischen Glaubens entsprach der bescheidenen Lebensführung der einfachen Menschen in der kargen Landschaft Zentralarabiens, die die Verbreitung seiner Lehren unterstützten. Die Absicht Ibn Abdul Wahhabs war es eine von den ersten Geneartionen des Islams festgelegte Interpretation der Einheit (Tawhid) zu festigen und den Schirk (Irrglauben) zu eliminieren. Wie in seinen Büchern nachzulesen ist, rief er zum Beschreiten dieses Wegs mit Weisheit und Brüderlichkeit auf (siehe Kitab al Tauhid etc.)
Viele von Muhammad ibn Abd al-Wahhabs Lehrern sagten: „Seine Lehre wird viele Menschen von den Sunniten trennen und den wahren Praktiken des Islams.“ Dies schließt auch seinen Vater und sein Bruder Scheich Suleyman ein, welcher das Buch „Göttlicher Donnerschlag im Widerlegen der Wahabitischen Lehre“ schrieb, erschienen 1888 n.Chr. im Irak.
1156 H. (1744 n.Chr.) kam es zum Abschluss eines Vertrages, nach dem sich Abd al-Wahhab die religiöse und Ibn Saud die militärische Führung im "Heiligen Krieg" der Wahhabiten teilten. Bis 1198 H. (1786 n.Chr.) eroberten die Saudis den gesamten Nadschd und begründeten damit das erste Reich der Saud-Dynastie. Hierzu ist es unbedingt erforderlich zu erwähnen, dass sich der Nadschd niemals unter der Herrschaft des osmanischen Reichs befand, wie aus reichlichen Quellen hierzu ersichtlich ist. Muhammad ibn Abd al-Wahhab gewann durch seinen Ruf immer mehr Zulauf. Sie schickten Imame zu den beiden Heiligen Moscheen, um die dortigen Imame wieder zurück zum "reinen" Islam zu rufen.
Dem Prinz von Hidschas, Masud b. Said, gelang die Rückeroberung der heiligen Moscheen. Er trieb die Wahhabiten zurück in den Nadschd. Aber der Sieg war nur vorübergehend. Muhammad ibn Abd al-Wahhab erklärte eine Fatwa gegen die beiden Heiligen Moscheen, obwohl die Orte im Koran als "unantastbar" bezeichnet werden. Und wieder blockierten sie die Pilgerwege nach Mekka.
Im Jahre 1217 H. (1816 n.Chr., zehn Jahre nach dem Tod Muhammad ibn Abd al-Wahhabs), marschierten sie in Ta’if bei Mekka ein, schleiften es und massakrierten alle Männer, Frauen und Kinder, weil sie Sunniten waren. Die Bewohner von Mekka befürchteten, dass ihnen das gleiche wie in Ta’if widerfahren würde und übergaben 1218 H. Mekka den Angreifern. Die Eindringlinge blieben in Mekka, zwangen die Leute ihrem Schirk ("Unglauben") abzusagen und einen nach ihrem Vorbild reformierten Islam anzunehmen.
Bereits 1218 H. (1803 n.Chr.) wurden sie wieder von den Prinzen Scharif Ghalib und Scharif Pascha vertrieben. Aber 1220 H. (1805 n.Chr.) kehrten sie erneut zurück und vernichteten Mekka und Medina. Sie schändeten alle Frauen, verkauften ihre Kinder in die Sklaverei und schlachteten grausam alle Männer, ob alt oder jung. Dann setzten sie Prinz Mubarak bin Madya als Machthaber in Medina ein. Die Regentschaft über die beiden Heiligtümer dauerte sieben Jahre lang an. Sie hielten die Pilger aus Syrien und Ägypten davor ab, die Heiligtümer zu besuchen, da sie "Ungläubige" seien.
Im Jahre 1226 H. (1811 n.Chr.) befahl der osmanische Sultan Muhammed Ali Pascha seinem ägyptischen Gouverneur, er solle sie bekämpfen "und sie aus den Heiligen Stätten vertreiben." Eine Armee aus allen islamischen Ländern eroberte erst Medina, danach Mekka und schließlich Anfang des Jahres 1228 H. Ta’if. Aufgrund der Erfahrungen aus der Vergangenheit ließ Sultan Muhammed Ali Pascha eine Armee unter seinem Sohn Ibrahim Pascha 1231 H. (1816 n.Chr.) nach Nadschd einmarschieren. Mit seinem Gegner Abdullah bin Saud, Prinz von Dariya, lieferte er sich viele Schlachten. Im Jahre 1233 H. wurde er endgültig besiegt.
Die wahhabitischen Feldzüge gelten als die schrecklichsten und "unheiligsten" Kriege der Moslems. Nach Meinung vieler zeigen sie ein grausam verzerrtes Gesicht des Islam.
Nach dem Ersten Weltkrieg
Mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg entstanden durch die Vereinbarungen zwischen dem Völkerbund, dem Vereinigten Königreich und Frankreich im Nahen Osten die bis heute bestehenden Staaten. Die beabsichtigte Aufspaltung der Arabischen Halbinsel in einen Teil im Osten und einen im Westen (Transjordanien, unter dem Haschemitischen Königshaus) wurde durch die militärischen Erfolge der Al-Saud-Dynastie zunichte gemacht. Mit der Eroberung von Mekka und Medina entstand mit Saudi-Arabien 1932 ein dominanter Staat.
Saudi-Arabiens Gründer, König Abd al-Asis Ibn Saud, nutzte den Wahhabismus zur Begründung seiner Herrschaft und entschuldigte damit 1975 den Mord am saudischen König Feisal. 1979 erstürmten Wahhabiten die Große Moschee in Mekka und hielten sie zwei Wochen besetzt.
Wahhabiten heute
Viele islamistische Organisationen, sowohl in islamisch dominierten Ländern als auch in Europa und Amerika, haben Verbindungen zum Wahhabitismus oder stehen ihm nahe. Trotz des puritanischen Alleinvertretungsanspruchs der Wahhabiten unterstützen sie aus taktischen Überlegungen andere fundamentalistische Strömungen des Islam.
Zu nennen ist die der Salafiya nahestehende Muslimbruderschaft in Ägypten, die von Saudi-Arabien als Gegengewicht zum säkularen Staat Nassers begünstigt wurde. Aus ihr ging später unter anderem die Palästinenserorganisation Hamas als Nachfolgegruppierung des in den 40er Jahren entstandenen palästinensischen Ablegers hervor, der ebenfalls enge Kontakte zur saudischen Theokratie nachgesagt werden.
Die Bezeichnung „Wahhabiten“ wird in Russland, besonders auf dem Kaukasus, für islamische Fundamentalisten gebraucht, die – häufig aus dem arabischen Ausland kommend – einen von lokalen Bräuchen gereinigten Islam predigen. In der Zeit der Zerstörung und Orientierungslosigkeit nach dem Ersten Tschetschenienkrieg 1994-1996 gelang es ihnen, viele – besonders junge – Leute in Dagestan und Tschetschenien für sich zu gewinnen. Prominente Rebellenführer wie Schamil Bassajew schlossen sich den Wahhabiten an und sind verantwortlich für Aktionen wie die Geiselnahme von Beslan. Im Konflikt zwischen Aslan Alijewitsch Mashadow und Achmad Kadyrow ging es auch darum, wie man den Wahhabiten begegnen sollte.
Wahhabiten in Saudi-Arabien heute
In Saudi-Arabien ist der Wahhabitismus heute Staatsreligion. Gleichzeitig fördert der saudi-arabische Staat wahhabitische Organisationen in allen Teilen der Welt.
Als Hochburg der Wahhabiten im heutigen Saudi-Arabien darf Riad und Buraida genannt werden. Insbesondere in den südlichen Altbaustadtvierteln, das von armen Einwanderern aus Pakistan und Afghanistan dominert wird, ist der Einfluß groß.
Ein besonderer Auswuchs der saudischen Wahhabiten ist die Religionspolizei, die Mutawas. Mutawas sind - neben der regulären Polizei - Wächter, die die Einhaltung sittlicher Normen in der Öffentlichkeit kontrollieren sollen. Ungewöhnlich ist ferner, dass während des Freitaggebetes die Predigt auf sehr laut gestellt wird, so dass das gesamte Umfeld der Moschee beschallt wird. Dabei ist antiwestliche Propaganda nicht selten.
Wie in vielen anderen arabischen Ländern obliegt die Justiz den Religionsgelehrten, d.h. den Wahhabiten.
Die dem Islam widersprechende Lebensweise einer Reihe von Mitgliedern des Saudischen Königshauses polarisiert die Gesellschaft. Kommentatoren halten einen religiös motivierten Staatsstreich durch fundamentalistische Geistliche für denkbar.