Wiesbadener Programm
Im Wiesbadener Programm haben der Architekt Johannes Otzen und der Wiesbadener Pfarrer Emil Veesemeyer im Jahre 1891 Vorstellungen vom evangelischen Kirchenbau zusammengefasst, die sich besonders vom Eisenacher Regulativ des Jahres 1861 absetzen. Verwirklicht wurden diese insbesondere in Otzens Wiesbadener Ringkirche und in der Elberfelder Friedhofskirche.
Inhalt des Wiesbadener Programms
Herausragendes Merkmal des Wiesbadener Programms ist die Einheit von Kanzel, Altar und Orgel. Kanzel und Altar werden beispielweise zu einer baulichen Einheit (Kanzelaltar) zusammengefasst und im Chorraum aufgestellt, der möglichst auch noch die Orgel aufnimmt. Im Gegensatz dazu forderte das Eisenacher Regulativ die Trennung dieser Teile und stellte damit den evangelischen Kirchenbau in die Kontinuität der vorreformatorischen mittelalterlichen Kirchen mit dem Altar im Osten der Kirche, der Orgel im Westen und der Kanzel an der Seite des Kirchenschiffs. Das entsprach zum einen Luthers Absicht, nicht eine neue Kirche zu gründen, sondern die bestehende zu reinigen, zum anderen aber auch einer romantischen Verklärung des Mittelalters sowie einer nationalen Begeisterung für die Gotik als den typisch deutschen Baustil. Von diesen mittelalterlichen Vorbildern setzte sich das Wiesbadener Programm ab unter Besinnung auf die barocke evangelische Kirchenbautradition z.B. der Dresdner Frauenkirche. Mit der Idee des Kanzelaltars und der Aufgabe der typischen Kirchenschiffform kann es dabei auf Empfehlungen von Leonhard Christoph Sturm aus dem Jahre 1717 zurückgeführt werden. (Anders als im Wiesbadener Programm spielte freilich im frühen 18. Jahrhundert die Fürstenloge als Gegenüber der Kanzel noch eine ebenso feste Rolle wie diese.)
Für Otzen stand beim Kirchenbau die Raumordnung des evangelischen Gottesdienstes im Mittelpunkt, und dabei bewegte er sich weg vom mittelalterlichen (mehrschiffigen) Grundriss in Richtung eines Zentralbaus, der seinen liturgischen Anforderungen besser entsprach. Ein Beispiel für diesen liturgischen Funktionalismus ist die Elberfelder Friedhofskirche, in der alle Sitzbänke (im Erdgeschoss und auf der Empore) in amphitheatrischer Ausrichtung auf den Kanzelaltar zeigen; hierin ähnelt sie der Frauenkirche.
Abgesehen vom liturgischen Raumkonzept lehnte Otzen gleichwohl eine Wiederkehr des barocken Stils ab und kritisierte die "übertriebene Bewunderung der Dresdner Frauenkirche als Ideal des protestantischen Kirchenbaus". Er blieb der mittelalterlichen Kirchenbautradition verbunden und löste sich davon nur aus funktionalen Gründen, nicht aber aus künstlerischen. Otzens progressivere Zeitgenossen wie der Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt propagierten hingegen eine Umorientierung weg vom mittelalterlichen hin zum neobarocken Stil, und zwar aus generellen künstlerischen Erwägungen, also nicht nur auf gottesdienstliche Räume bezogen. Solche Neuerungen, gegen die Otzen am Ende seiner Laufbahn ohne Erfolg polemisierte, führten im Kirchenbau schließlich in den 1930er-Jahren etwa zu Otto Bartnings Zentralbauten. Während diese mit ihrem Raumkonzept als Fortentwicklung des Wiesbadener Programms gelten können, haben sie Otzens romanisch-gotischen Kombinationsstil hinter sich gelassen.
Thesen des Wiesbadener Programms
(Vergleiche dazu jeweils die Empfehlung des Eisenacher Regulativs, deren Nummer in Klammern angegeben ist.)
- Die Kirche soll im allgemeinen das Gepräge eines Versammlungshauses der feiernden Gemeinde, nicht dasjenige eines Gotteshauses im katholischen Sinne an sich tragen. (1)
- Der Einheit der Gemeinde und dem Grundsatze des allgemeinen Priesterthums soll durch die Einheitlichkeit des Raums Ausdruck gegeben werden. Eine Theilung des letzteren in mehrere Schiffe sowie eine Scheidung zwischen Schiff und Chor darf nicht stattfinden. (2)
- Die Feier des Abendmahls soll sich nicht in einem abgesonderten Raume, sondern inmitten der Gemeinde vollziehen. Der mit einem Umgang zu versehende Altar muss daher, wenigstens symbolisch, eine entsprechende Stellung erhalten. Alle Sehlinien sollen auf denselben hinleiten. (3)
- Die Kanzel, als derjenige Ort, an welchem Christus als geistige Speise der Gemeinde dargeboten wird, ist mindestens als dem Altar gleichwerthig zu behandeln. Sie soll ihre Stelle hinter dem letzteren erhalten und mit der im Angesicht der Gemeinde anzuordnenden Orgel- und Sängerbühne organisch verbunden werden. (4 und 5)
Kirchenbauten nach dem Wiesbadener Programm (Auswahl)
- 1892–94 Ringkirche in Wiesbaden
- 1907-10 Lutherkirche in Wiesbaden
- 1894–98 Friedhofskirche in Elberfeld
- 1895–98 Lutherkirche in Hannover
- 1899–1902 Hauptkirche in Rheydt
Literatur
Festschrift Evangelische Hauptkirche zu Rheydt 1902–2002, ISBN 3-00-010531-X, darin die Artikel
- Peter Seyfried: Johannes Otzens opus ultimum
- Holger Brülls: Die Modernität rückwärtsgewandten Bauens
Weblinks
- Wiesbadener Programm
- Eisenacher Regulativ
- Gemeinsame Wege – gemeinsame Räume Vortrag zur Hessisch-Thüringischen Denkmalpflege-Tagung 1996