Kanon der deutschen Literatur
Der Kanon der deutschen Literatur ist der umstrittene Komplex der Werke, die in der deutschen Literaturgeschichte größeren Rang haben sollen.
Die Nation der Dichter und Denker?
Daß Deutsche von ihrer Nation als der der „Dichter und Denker“ sprechen, kann man im Ausland kaum nachvollziehen. Weche Dichter denn das sein sollen? Goethe und Schiller ist die Standardantwort und schon hier ist man im Ausland ratlos. Goethe schrieb den Werther (1774), dem man eine gewisse Position am Anfang der europäischen Romantik zugestehen kann. In Asien schätzt man seine Naturgedichte. Doch Goethes Faust ist bereits weitgehend unbekannt und Schiller ohnehin. Deutschland brachte erst wieder im frühen 20. Jahrhundert zwei Autoren von Bedeutung hervor: Thomas Mann mit Tod in Venedig und Franz Kafka mit seinen Erzählungen. Luchino Visconti verfilmte Manns Novelle und fing ein, was an ihr Weltliteratur, ist. Daß die Geschichte in Venedig spielt hat viel mit dem weiltweiten Verständnis, das sie findet, zu tun. Franz Kafka wird in einer Düsterkeit wie seinem subtilen Humor als Autor eines magischen Realismus geschätzt.
Das sind die Werke der deutschen Literatur auf dem Weltpakett zu denen man noch Grimms Märchen zählen kann, die heute Rang unter den Klassikern der weltweiten Kinderbuch-Literatur haben, in modernisierten vereinfachten Ausgaben.
Bis vor 20 Jahren genossen die Romane Hermann Hesses in der Jugendkultur eigenen internationalen Kultstatus. Unter Kennern deutscher Geschichte wird Günter Grass Blechtrommel als Geheimtip gehandelt. Man kommt mit dem Buch, das mit lateinamerikanischer Erzählfreude mithält, in Tiefen der abenteuerlichen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Unter Kennern der europäischen Barockliteratur weiß man, daß Grimmelshausens Simplicissimus ein Meisterwerk des "pikaresken Romans" ist, doch bleibt er Fachleuten vorbehalten.
Deutschlands Denker sind berweigend schwer verständlich und eine Sache von Eingeweihten an Universitäten forschenden. Im Ausland wird man seltsam angesehen, wenn man die deutsche Nation für ihre Dichter und Denker hochhält - warum bemerkt Deutschland nicht, daß es die Nation der großen Komponisten ist? Bach, Händel, Mozart, Haydn, Beethoven, Schubert, Mendelsohn-Bartholdy, Schumann, Brahms, Wagner, Mahler – man kann den weltweiten Konzertbetrieb verfolgen, und internationale Klassiksender anschalten, dies ist das Gebiet, auf dem Deutsche den Ton angeben. (Man könnte hinzusetzen, auch wenn es politisch unbequem ist, daß von Deutschland besonders viele ideologisch-politische Bewegungen ausgingen: Die Reformation war ein Exportschlager wie der Kommunismus und im 20. Jahrhundert die Grünökologische Bewegung.
Die Selbsteinstufung als die Nation der Dichter und Denker folgt einer Innenwahrnehmung. Eine Außenwahrnehmung entspricht ihr nicht.
Der Kanon Deutscher Literatur und seine Geschichte
Der Kanon deutscher Literatur ist tatsächlich, die Suche nach ihm begann erst in den 1760ern, eine relativ späte Erfindung, wenn auch eine literaturgeschichtlich enorm einflußreiche. Nicht der Kanon selbst gewann dabei den Einfluß, sondern die Bedeutung, die ihm im deutschen nationalen Kulturleben eingeräumt wurde. Man schuf ähnliche nationale Textsammlungen und ähnlichen Umgang mit nationaler Literatur auf dem weltweiten Parkett.
Dem Kanon deutscher Literatur im 17. und 18. Jahrhunder ging der Kanon internationaler Belletristik voran
An Deutschlands Schulen Universitäten wurde kaum auch nur lateinische Poesie gelesen. Die Rückbesinnung auf die Antike stand nicht zur Debatte. Man bildete Theologen, Jursiten und Mediziner an den Universitäten aus. Für die deutsche Poesie hatte man im Unterrichtsbetrieb kaum Verwendung. Wer Bildung außerhalb des universitären Fächerkanons suchte, vor allem Frauen taten das, vom Universitätsbetrieb ausgeschlossen, der las französisch. Hier gab es neben dem Markt der Fachbücher den Markt der belles lettres, die im Lauf des 17. Jahrhunderts unter Gebildeten in Frankreich und England akzeptabel wurden, so wie das Kino im 20. Jahrhundert nach einigen Anlaufschwierigkeiten unter aufgeschlossenen Intellektuellen akzeptabel wurde - nicht sofort Gegenstand des Universitätsunterrichts, aber nach einigen Jahren doch ein Bereich, in dem es sowohl seichte Unterhaltung wie Kunst gab.
In den belles lettres bildeten sich europäische Klassiker aus - siehe hierzu den eingehenderen Artikel zum Kanon der Weltliteratur. Dazu gehörten Klassiker der Antike, von Homer über Vergil, Ovid und Petron bis zu Lukian und Heliodor. Sie wurden zuerst auf Französisch, dann Ende des 17. Jahrhunderts auch auf Englisch vorgelegt - London entwickelte einen gleichartigen urbanen modischen Buchmarkt wie Paris und Amsterdam, und auch hier suchte man neben neuer Belletristik Klassiker, in Leipzig und Hamburg las man diesen Markt am liebsten in den aktuellen Ausgaben aus Amsterdam und Paris. Das Mittelalter fand im Kanon der belles lettres keine Bedeutung. Dante, Boccaccio und Chaucer gehörten bereits aus der Sicht des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zu denen, die die eigene Moderne vorbereiteten. Die aktuelle Produktion begann dann mit Cervantes, und zu ihr gehörten Scarron, Molliere und Racine auf Seiten der Franzosen und Shakespeare und Milton auf Seiten der Engländer. Alexander Pope wurde Mitte des 18. Jahrhunderts moderner lebender Klassiker im englischen Sprachraum und trug maßgeblich zur Shakespeare-Entdeckung seines Zeitalters bei.
Die Klassiker der internationalen belles lettres kamen ohne institutionelle Deckung aus. Sie verkauften sich als gut lesbare Texte einem Publikum eleganten Geschmacks. Es gab keinen Schulunterricht, in dem man die Jugend der Nation an sie heranführte. Man schätzte auf dem gebiet der belles lettres gerade die breite Palette und den Blick in entlegene Kulturen. Arabische Klassiker waren da so spannend wie die Suche nach dem ersten Roman der Weltgeschichte, wo immer der herkommen sollte. Die belles lettres waren ansonsten wie die heutige Belletristik ein überwiegend aktueller Markt.
Auf der Suche nach nationaler Identität: Deutschland und der nationale Kanon
Die Suche nach einer spezifisch deutschen Produktion vergangener Dichtung setzte in den 1720ern ein. Zum guten Teil war sie eine Antwort auf den internationalen Markt der Belletristik der fortbestand und der sich im deutschsprachigen Raum breiter Beliebtheit erfreute. Über eigene deutsche Titel verfügte man in den 1720ern nicht. Die Werke des Mittelalters waren in einer fremden Sprache geschrieben und lagen in unentzifferbaren Handschriften in Klöstern. Mittelalterliches Deutsch belächelte man, wos sich Kostprobe davon fanden.
Man las, wenn es um Poesie und Romane ging, zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht einmal deutsche Bücher aus dem 17. Jahrhundert. Die letzte Grimmelshausen Ausgabe war 1713 auf dem aktuellen Markt untergegangen. Romane und Gedichte des 17. Jahrhunderts waren "ungalant", ihnen fehlte europäischer Geschmack. Sollten sie einen nationalen Geschmack aufweisen, war der eher peinlich provinziell.
Die führenden Poesiektitiker der Zeit - Gottsched, Bodmer und Breitinger - riefen die deutschsprachigen Autoren auf, eine Poesie von nationalem Rang zu verfassen. Erst mit Lessing, Gellert und Klopstock zeichnete sich jedoch ab, wie eine solche Dichtung von nationalem Rang aussehen könnte - das war Mitte des 18. Jahrhunderts. Man hatte damit eine Gegenwart, nicht aber auch schon eine Vergangenheit. Die Suche nach ihr verlief über die deutsche Entdeckung Shakespeares, die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzte. In den 1760ern gewann die Bewegung Macht einer Gegenkultur. Der Bruch mit dem empfindsamen und verfeinerten 18. Jahrhundert schien bei einer Rückbesinnung auf Shekespeare möglich. Die europäische Kultur, die zwischen 1690 und 1720 den Markt erobert hatte, wurde als verlogen wahrgenommen, sie hatte nichts „echtes“, „deutsches“, „ehrliches“. Shakespeare hatte die „Echtheit“, die nun gefragt war. Er war ungekünstelt, so die Wahrnehmung der 1760er. Euphorisch feierte man in den späten 1760ern die Ossian-Fragmente, die man zur ältesten verlorenen schottischen Literatur rechnete, bevor sich herausstellte, daß sie ein modernes Imitat dessen waren, was man gerne als "ursprünglich" und "unverbildet" gelesen hätte.
In den 1770ern und 1780ern erschienen erste Neuausgaben von deutschsprachigen Texten des 17. Jahrhunderts. Grimmelshausen wurde wiederentdeckt. Eine Chance hatte an Schriften aus dem 17. Jahrhundert nur, was sich als national orientiert lesen ließ. Opitz erhielt großen Rang, wie die Tragödien, die im 17. Jahrhundert gegenüber der internationalen Oper tatsächlich kaum Bedeutung hatten; nun jedoch erschienen sie das Herz einer deutschen Epoche, für die noch der Name fehlte.
Die große Entdeckung des deutschen Kanons sollte das deutsche Mittelalter werden. Goethe hatte 1772 in seinem Aufsatz "Von Deutscher Baukunst" das Straßburger Münster revolutionär neu bewertet. Die Gotik war bis dahin verpönt unter Kunstliebhabern. Gegenüber der modernen an der Antike geschulten Architektur (das, was wir heute Barock nennen, nahm sich selbst eher als eine klassische Besinnung auf Rom wahr), war die Gotik von Barbarentämmen, den Goten erfunden worden. Goethe wertete um (und machte dabei versehentlich aus dem Bauzmeister des Straßburger Münsters einen Deutschen): Mit der Gotik lebte, so die neue Sicht, das Gefühl für den Wald und seine Schönheit fort. Tacitus hatte Germanien als bewaldetes Gebiet beschrieben. Der gotische Spitzbogen empfand nach, wie im Wald die Baumkronen ein luftiges hohes Dach bildeten, so Goethes Umwertung dessen, was man bis dahin als schroffe Ästhetik sah.
Der mittelalterlichen deutschen Dichtung kam aber erst das 19. Jahrhundert näher, das eine bis jetzt unbekannte Sprachforschung zu diesem Zweck aufbaute. Die indogermanischen Sprachen wurden systematisiert, Lautverschiebungen wurden als gesetzmäßge notiert. Textausgaben der großen Autoren des deutschen Mittelalters erschienen im 19. Jahrhundert mit Variantenapparaten, in ganz neuer Wissenschaft kritischer Editionstechnik.
Die ersten deutschen Literaturgeschichten, die in den 1830ern das Mittelalter in den jetzt entstehenden nationalen Kanon einführten, formulierten politische Interessen am Aufbau des Nationalstaats. Frankreich hatte mit der französischen Revolution und der nachfolgenden nationalen Euphorie der Napoleonischen Eroberungszüge Deutschlands Intellektuellen einen Schock versetzt. Der eigene Kulturraum war zersplittert in einzelne Regentschaften. Die Religion kam als Gebiet einer Einigung so wenig in Frage wie die Politik. Der Katholizismus hing von Rom ab, die Reformation hatte sich selbst in Konfessionen auseinanderdividiert. Mit der deutschen Sprache wurde eine gemeinsame kulturelle Wurzel denkbar, und mit der deutschen Literatur wurde ein übergreifender Debattengegenstand geschaffen.
Die Regentschaften im deutschsprachigen Raum ließen sich auf die deutsche Literatur als Debattenfeld ein. Im Schulunterricht bewies die Literatur eigene Vorteile. Länder wie Bayern enteigneten in der Säkularisation soeben ihre Klöster. Da paßte es wenig ins Konzept, wenn die ganze Kultur weiterhin auf die Religion ausgereichtet blieb.
Der Kanon deutscher Literatur schuf Ersatz für den Kanon der religiösen Texte - man konnte mit ihm sehr ähnlichen Unterricht durchführen wie mit religiösen Texten zuvor. Der Staat brachte die neue Literatur in aggressiven Schritten in die Debattenkultur ein. Das wird in München besonders gut sichtbar, wo die Regentschaft sich in der Residenz neue Räume schuf, in denen die deutsche Literatur die Wände zierte. In den oberen Räumen schmückte man sich mit den Klassikern Bürger, Goethe, Schiller und Wieland, die man an die Klassik der Antike heranführte. Das untere Stockwerk gab der neuen Literatur das Fundament. Hier regierten in großen Fresken die Szenen des Nibelungenlieds. Man sah hier auf den Wänden blutige Kampfesszenen und urtümliche, bärtige Menschen, wo das 18. Jahrhundert sich mit der feinen Klutur galanter Perückenträgern zufrieden gegeben hatte. Vor der Residenz stand bis 1802 das Franziskanerkloster. Es wurde zugunsten des Nationaltheaters abgerissen. Als der Bau abbrannte, sah Münchens Bevölkerung das als einen Fingerzeig Gottes an. Die Nation und ihr neuer Gegenstand, die Nationalliteratur, waren stärker. Das Nationaltheater wurde wieder vor der Residenz aufgebaut und stand bis in den zweiten Weltkrieg.
Mit der Zeit Goethes und Schillers verfügte die deutsche Literatur Mitte des 19. Jahrhunderts über eine eigene Klassik, mit der Romantik über eine Gegenreaktion auf diese. Mit Lessings Epoche ließ sich die Aufklärung vorschalten. Schwierigkeiten machte die Zeit vor 1730. Sie wurde zu einer Zeit der Suche nach der Nationalliteratur. Das Mittelalter hatte nationale Größe bewiesen, die Humanisten wurden als Vorkämpfer einer neuen nationalen Kultur, die auf internationalem Parkett mithielte und sich an der Klassik maß. Die barocken Sprachgesellschaften folgten ihnen. Erst die Aufklärung ließ jedoch die Frage nach der deutschen Literatur mit Blick auf die Weltliteratur aufkommen, bevor das 19. Jahrhundert ihr dann zum Durchbruch verhalf, so die Geschichtssicht, die in den Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts aufkam.
Die Gegenwartsliteratur des 19. Jahrhunderts trug schwer unter der Last, die ihr aufgebürdet wurde. Deutsche Literatur war jetzt Unterrichtsfach. Die Frage nach ihrem Kanon beschäftigte nicht nur die Verfasser von Literaturgeschichten. Man suchte eine Gegenwartsliteratur, die so groß war wie die Klassik, so revolutionär wie die Romantik und gleichzeitig so national, daß sie sich im Prozeß der nationalen Einigung in allen deutschen Ländern als Unterrichtsgegenstand eignen würde. Für lebende Autoren gab es fast nur zwei Wege zu bestehen: National gesinntes Epigonentum, oder den Rückzug ins Private und den Bruch mit dem Literaturbetrieb.
Der Kanon deutscher Literatur, wie sie sich im ausgehenden 19. Jahrhundert abzeichnete, war damit nach außen kaum mehr vermittelbar. Das Mittelalter befremdete im Ausland wie die nationalistische Ausrichtung des deutschen 19. Jahrhunderts. Für den Schulunterricht waren beide Ausrichtungen des Kanons dagegen von Vorteil. Mittelhochdeutsch mußten Schüler auf den höheren Schulen erst lernen – das neue Fach Nationalliteratur war damit kein weiches Fach, in dem nur geredet wurde, es war ein Fach, das Anstrengung und Lernaufwand verlangte wie Fremdsprachen und Mathematik. Die nationalen Dichtung machten das neue Fach in der Welle nationaler Euphorie bei der Jugend gleichzeitig akzeptabel.
Die Niederlage des ersten Weltkriegs brachte den Kanon des späten 19. Jahrhunderts nur partiell in Mißkredit, sie verstärkte eine Beschäftigung mit der Klassik, mit Goethe und Schiller und eine Suche nach der Empfindung und dem Erhabenen.
Die Autoren der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts, die heute die Germanistik besonders beschäftigen, hatten dabei nur geringe Chancen in modernen Kanon aufgenommen zu werden. Döblin, Musil oder Brecht, die Gebrüder Mann antworteten auf den bestehenden Kanon in unbequemer Weise. Die Nationalsozialisten gaben ihnen erst recht keine Chance. Verfolgung und Exil standen für die besten Autoren dieser Generation an.
Von den Autoren, die die Nationalsozialisten in den Kanon einzubringen suchten, konnte sich dagegen selbst keiner nach dem zweiten Weltkrieg halten. Hans Grimms Volk ohne Raum schien vor 1945 zum Klassiker des 20. Jahrhunderts befähigt und ist heute weitgehend unlesbar.
Der Kanon Deutscher Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Kulturellen Entwicklungen werden kurzlebiger. Das Nationale, das Soziale und das Religiöse geben ihnen in Deutschland die Kraft. Gegenbewegungen folgen jedem Epochenhöhepunkt - ein sehr handfestes Beispiel dafür´, wie die Epochengeschichte intendierten politischen Aussagen folgt. Aus: Dr. E. Brenner, Deutsche Liiteraturgeschichte, 13 Auflage, 122-131. Tsd. Mit einer farbigen Beilage (Wunsiedel/ Wels/ Zürich, 1952).
Die Katastrophe des zweiten Weltkriegs brachte eine Verunsicherung im Blick auf den Kanon mit sich. Auf der einen Seite schien es, als hätte die Nation ihren eigenen Kanon der Klassiker verraten und die humanistische Grundströmung nicht verstanden, mit der gerade ein Autor wie Goethe den Kanon ausstattete. Die Rückbesinnung auf den Kanon wurde hier gesucht. Auf der anderen Seite nahm man die kritischen Autoren des 20. Jahrhunderts von Thomas Mann bis Bertold Brecht in den Kanon auf. Autoren, die gesellschaftsweite Diskussionen entfachten, kamen frisch hinzu: Die Autoren der Gruppe 47, die führend an einer Aufarbeitung des Zweiten Weltkriegs interessiert waren, ferner die Autoren, die die 1968er Bewegung inspirierten.
Der Literaturunterricht, der den Kanon deutscher Literatur vor allem benötigte, war an Werken interessiert, die es erlauben, die deutsche Geschichte möglichst komplex zu diskutieren. Bis in die 1950er hinein hatte man bei der Konstruktion des deutschen Kanons durchaus noch nach dem Erhabenen und dem Erhebenden der künstlerischen Sprache gefragt. Diese Diskussion wurde in den 1970ern bedeutungslos - der Kanon änderte sich entsprechend. Die Literatur wurde weit klarer auf Diskutierbarkeit zugeschnitten.
Die Kanondebatten der letzten 30 Jahre: Ein internationales Phänomen
Der Aufbau eines nationalen Kanons war unter kritischen Intellektuellen der 1950er und 1960er kein zentrales Anliegen. Der Kanon gehörte zum nationalen Schulunterricht, er legte Bildungsziele fest und diente eher dazu, die Kultur in ihrer kritischen Vielfalt mit staatlicher Deckung zu beschneiden. Ein Kanon soll Konsens zu schaffen, so die Kritik an der Kanonbildung. Streit war dagegen gesucht.
Umso größer war die Diskussion als Ende der 1970er und Anfang der 1980er die Zeit eine Liste der 100 besten Bücher der Weltliteratur vorstellte. Das Projekt kam nicht im Rahmen einer nationalen Selbstbesinnung auf. Kritische Schriftsteller und Intellektuelle hatten hier ihre Lieblingsbücher genannt und besprochen, und eben doch dabei eine Liste von 100 Titeln zustande gebracht. Für jeden von ihnen sah der Kanon anders aus - doch war eben gleichwohl eine Bestenliste zustande gekommen. Sie war zwar international ausgerichtet, doch darin fanden sich deutsche Autoren, die niemandem im Ausland etwas sagten. Deutsche behaupteten also, daß ausgerechnet diese ihre Lieblingstitel es wert wären, unter die besten der Welt gerechnet zu werden. Gleichzeitig stand fest, daß hier der Deutschunterricht, der sich so sehr als kritisches Angebot verstand, noch immer ienes war: ein nationaler Unterricht. Die Ausländer blieben dem Fremdsprachenunterricht überlassen. Es gibt an den Schulen der Nation keinen Unterricht im Kanon der Weltliteratur, wie ihn die Zeit vorstellte.
Die Debatte führte nicht zu einer internationaleren Ausrichtung der Bildung. Sie führte viel eher zu einer unbefangeneren Frage nach dem deutschen Kanon. Marcel Reich-Ranicki legte einen solchen unter dem Titel Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke in den 1990ern im Spiegel vor. Vermarktet wurde er unter dem wuchtigen Titel "Der Kanon". Dietrich Schwanitz landete mit Bildung. Alles was man wissen muss (Frankfurt: Eichborn, 1999) einen Erfolgstitel. Hinter beiden Projekten zeichnet sich deutlich eine Suche nach gesellschaftlichem Konsens, nach bindenden Benimmregeln, nach einer Bildung, über die man verfügen sollte, um dazuzugehören, ab. Neu ist an der Bewegung, daß sie nicht aus dem Schulsystem kommt und nicht in gewichtigen Literaturgeschichten vorgetragen wird. Die neue Suche nach einem Kanon ist vielmehr ein Angebot der Medien, eine Liste, die auf Kundenwünsche nach Orientierung antwortet. Fernsehshows heizten die Suche an. Warum nicht nach "Deutschland sucht den Superstar" nach dem größten Deutschen fragen? Man kann dies, da nicht mehr zu befürchten ist, daß dabei ein problematischer Nationalismus dabei zu Tage treten wird. Der neue Kanon ist bunter und selbstkritischer als seine Vorgänger.
Der deutsche Kanon im Vergleich mit den Kanonvorstellungen anderer Nationen
Die Frage nach den großen Werken der Weltliteratur wäre unproblematisch, wenn diese Werke einfach nur auszeichnete, daß sie Menschen über die Zeiten hinweg beschäftigen. Literatur hätte dann überzeitliche Qualitäten, und die Literaturwissenschaft wäre dann schlicht die Wissenschaft, die versucht, diese Qualitäten zu erfassen.
Europas Leser des späten 17. Jahrhunderts, die nach Klassikern der Belletristik fragten, hatten gerade das gegenteilige Problem. Ihnen gefielen die Texte der Gegenwart und sie fragten, ob nicht auf die Antike so elegante „belles lettres“, „polite literature“ geschaffen hätte. Ovid und Petron bestätigten die Hoffnung, Homer erschreckte dagegen in seiner rohen Sprache die Leser des frühen 18. Jahrhunderts, als ihn erstmals in französischer Prosa lasen. Erst die Zeit Goethes begann den alten Griechen als urtümlichen Meister in seiner eigenen Kunst zu schätzen. Dennoch: dies kann der belletristische Klassikerkanon der zwischen 1670 und 1770 entstand, sich zugute halten: Er sprach ein neugieriges Publikum an, das nach solchen fremdartigen Büchern suchte. Die hier verkauften Titel verkauften sich letztlich von selbst. Moderne französische und moderne englische Klassiker mußten mit den Klassikern dieses Marktes mithalten. Es gab vor dem 19. Jahrhundert keinen Nationalstaat, der für sie eintrat. Das Ergebnis war, daß sich englische und französische Romanautoren und Dichter weit mehr auf Liebhaber der entstehenden Weltliteratur ausrichteten, weit eher Lesbarkeit anstrebten als Deutschlands Dichter.
Der Kanon deutscher Literatur entstand weniger im Spiel mit einem Weltmarkt, der in Paris und London in den Läden auslag, als in einem Spiel mit deutschen nationalen Diskussionen. Man konnte als Autor diese Diskussion kritisch und mit Distanz bedienen oder auch mit großem Bekenntnis zur nationalen Geschichte. Das Ergebnis war so oder so ein Kanon, dem man Ausländern schlecht erklären kann. Warum soll Grimmelshausens Simplicissimus ein großes Werk deutscher Literatur sein? Die Antwort ist in der Regel nicht: „Weil dieses Buch jeden gefangen nimmt, der es aufschlägt“. Die Antwort wird in der Regel in einem kleinen Referat über die deutsche Geschichte und ihre Epochen bestehen. Man könne dieses Buch nicht verstehen, ohne etwas vom Dreißigjährigen Krieg zu wissen und vom speziellen barocken Lebensgefühl, das dieser Krieg hervorrief. Man benötigt deutsche Epochengeschichte, um Deutschlands Kanon zu plausibilisieren.
Andere Nationen bildeten kaum eine vergleichbar starke Epochengeschichte aus. Sie sprechen vom 17. und vom 18. Jahrhundert und vertrauen darauf, daß ihre Bücher sich in laufenden Jahrhundert noch blendend lesen. Mit den Epochen ist eine Geschichte der aufeinander antwortenden Kulturströmungen und nationalen Diskussionen behauptet. Was aber, wenn das Ausland gar nicht erfahren will, ob Deutschlands Dichter 1770 ein besonderes Problem mit der Frage einer vorangegenagnenen deutschen Epoche hatten? Der Kanon deutscher Literatur wurde in nationalen Diskussionen zusammengestellt. Goethe, Thomas Mann, Franz Kafka und Hermann Hesse haben da noch relativ gute Chancen, vom Ausland gesehen zu werden als Autoren, die nicht notwendigerweise mit diesen Diskussionen zusammen gelesen werden müssen. Das sagt nichts über den Wert der Werke des deutschen Kanons aus. Es erlaubt jedoch darüber nachzudenken, warum Ausländer es nicht ganz verstehen, wenn Deutsche sich mit ihrer Literatur brüsten.
Die Idee und die wissenschaftliche Realisation, hinter der Zusammenstellung nationaler großer Werke von den Anfänge der eigenen Sprache bis in die Gegenwart, bleiben als deutsche Errungenschaft zu würdigen. Das Konzept der Nationalliteratur hatte größten Einfluß auf die Nationen der Welt. Sie alle bauten vergleichbare Nationalliteraturen auf und drangen mit derselben maßgeblich von deutschen Forschern im 19. Jahrhundert aufgebauten Wissenschaftlichkeit in die Sprachgeschichte und die Textedition ein. In ganz anderen Kontexten enstandene Werke konnten sie dabei zu neuen nationalen geschichtsangeboten zusammenstellen.
Ein Kanon deutscher Literatur
Den Kanon deutscher Literatur kann es nach dem Gesagten nicht geben – allenfalls einen momentanen, der Diskussion unterliegenden. Hier und da wird man einen Satz dazu benötigen, um zu sagen, warum dieses oder jenes Werk es verdient im Kanon bewahrt zu werden. Die nachfolgende Tabelle ist zweispaltig. Die zweite Spalte sollte für Titel offen sein, die sich zu anderen Zeiten im Kanon befanden und aus ihm wieder aussortiert wurden.
Althochdeutsche Literatur
Mittelhochdeutsche LiteraturHumanismus und ReformationBarockAufklärung und EmpfindsamkeitRomantikBiedermeierBürgerlicher RealismusNaturalismusModerneSeit dem Zweiten Weltkrieg |
Was im Kanon war und wieder entfiel |