Kernschmelze

1. 2B-Anschluss
2. 1A-Anschluss
3. Hohlraum
4. lose Bruchstücke des Kerns
5. Kruste
6. geschmolzenes Material
7. Bruchstücke in unterer Kammer
8. mögliche Uran-abgereicherte Region
9. zerstörte Durchführung
10. durchlöcherter Schild
11. Schicht aus geschmolzenem Material auf Oberflächen der Bypass-Kanäle
12. Beschädigungen am oberen Gitter
Als Kernschmelze bezeichnet man einen schweren Unfall in einem Kernreaktor, bei dem sich die Brennstäbe im Reaktorkern übermäßig erhitzen, schmelzen und gegebenenfalls ineinanderlaufen.
Eine Kernschmelze kann auftreten, wenn Reaktorkühlung und sämtliche Notkühlsysteme ausfallen. Bei einem solchen Unfall kann hochradioaktives Material unkontrolliert aus dem Reaktor in die Umgebung gelangen und Mensch und Umwelt gefährden, ein Unfall, den man als Super-GAU bezeichnet. Von der Gefahr einer Kernschmelze sind grundsätzlich alle Reaktortypen betroffen.
Ablauf einer Kernschmelze
Druckwasserreaktoren und Siedewasserreaktoren werden bei fehlendem Kühlwasser unterkritisch, das heißt die atomare Kettenreaktion endet und erzeugt selbst keine Wärme mehr. Die Nachzerfallswärme durch den Zerfall der Spaltprodukte erhitzt jedoch bei Ausfall der Kühlung die Brennstäbe weiter, bis ihre Hüllrohre und der darin eingeschlossene Kernbrennstoff schmelzen und am Boden des Reaktorbehälters zusammenlaufen.
Im Endstadium könnte sich das flüssige Material durch den Reaktorbehälter und sämtliche Gebäudehüllen schmelzen, das Grundwasser erreichen und somit große Mengen radioaktiver Stoffe in die Umwelt freisetzen. Vergleichbar gefährlich für die Bevölkerung ist eine oberirdische Freisetzung durch ein Gebäudeleck, so wie bei der Katastrophe von Tschernobyl, bei der das Gebäudeleck durch eine Explosion entstand.
Wird der Reaktor trotz fehlendem Kühlmittel nicht unterkritisch, kann auch die weiterlaufende Leistungserzeugung durch die Kettenreaktion im Extremfall zur Kernschmelze führen. Dies ist grundsätzlich möglich bei Reaktoren, bei denen unter anderem der Dampfblasenkoeffizient nicht in jedem Betriebszustand negativ ist, etwa bei natriumgekühlten Brutreaktoren.
Folgen
Eine besonders schwerwiegende Variante des Unfallablaufs ist die Hochdruckkernschmelze, die eintritt, wenn es nicht gelingt, in der ersten Zeit den Druck im Reaktor stark abzusenken. Es ist dann möglich, dass die glühend heiße Schmelze des Reaktorkerns die Wand des Reaktorbehälters stark schwächt und unter gleichzeitigem, auch explosionsartigem Druckanstieg, zum Beispiel durch eine Knallgasexplosion oder schnelle Verdampfung des Wassers (physikalische Explosion), aus dem Reaktorbehälter entweicht. Der hohe erzeugte Druck im Containment könnte zu Leckagen führen, was radioaktives Material freisetzt. Entsprechende Szenarien wurden 1989 in der „Deutschen Risikostudie Kernkraftwerke Phase B“ veröffentlicht und führten zu umfassenden Diskussionen (siehe Artikel Kernkraftwerk). Um solche Risiken zu mindern, wurde nach dem Super-GAU in Tschernobyl in Deutschland das sogenannte Wallmann-Ventil vorgeschrieben, mit dem Gas gefiltert in die Atmosphäre abgelassen werden kann.
Die o.g. Begleiterscheinungen der Kernschmelze, wie Dampf- und Wasserstoffexplosionen, gehen typischerweise mit einer Kernschmelze einher, setzen sie aber nicht notwendigerweise voraus.
Auch wenn es nicht zur Explosion kam, muss der geschmolzene Kern durch provisorische Maßnahmen gekühlt werden, da die regulären Kühleinrichtungen durch die Schmelze unbrauchbar werden und eine weitere Erhitzung ein Durchschmelzen auch des äußeren Schutzbehälters bewirken kann. Diese Kühlung ist ggf. über Monate aufrecht zu erhalten, bis die Spaltprodukte weit genug zerfallen sind, dass die verbleibende Nachzerfallswärme keine Temperaturerhöhung mehr verursacht.
Vermeidung von Kernschmelzen
Wegen der verheerenden potenziellen Folgen einer Kernschmelze wird mittlerweile, vor allem im asiatischen Raum, der Betrieb inhärent sicherer Reaktoren, speziell von dezentralen Hochtemperaturreaktoren mit reduzierter Leistung, erprobt. Für alle derzeit in Europa betriebenen kommerziellen Kernreaktoren gilt allerdings, dass das Risiko einer Kernschmelze durch zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen zwar signifikant verringert, aber nicht prinzipiell ausgeschlossen werden kann.
Bei neueren Reaktorkonstruktionen sollen spezielle Vorrichtungen, so genannte Core-Catcher, den Reaktorkern bei einer Kernschmelze auffangen, die Freisetzung des Spaltstoffinventars verhindern und somit die Folgen einer Kernschmelze eindämmen.
Liste bekannter Kernschmelzunfälle
Unfälle mit Kernschmelze werden auf der Internationale Bewertungsskala für nukleare Ereignisse ab INES-Stufe 4 geführt.
Partielle Kernschmelzen
Bei einer partiellen Kernschmelze bleibt der Reaktorkern noch weitgehend intakt. Einzelne Brennstäbe können jedoch geschmolzen sein.
- Am 21. Januar 1969 kam es im schweizerischen Versuchsatomkraftwerk Lucens (8 MWel) zu einem schwerwiegenden Unfall. Ein durch Korrosion bedingter Ausfall der Kühlung führte zur Kernschmelze und zum Brennelementebrand mit anschließender Freisetzung aus dem Reaktortank. Die Radioaktivität blieb im Wesentlichen auf die Kaverne und das umliegende Stollensystem beschränkt. Der Reaktor wurde 1969 stillgelegt.[1] Die Aufräumarbeiten im versiegelten Stollen dauerten bis 1973 beziehungsweise 2003, als noch die Abfallbehälter vom Standort entfernt wurden.[2][3]
- Am 17. Oktober 1969 schmolzen kurz nach Inbetriebnahme des Reaktors 50 kg Brennstoff im gasgekühlten Graphitreaktor des Kernkraftwerks Saint-Laurent A1 (450 MWel).[4][5] Der Reaktor wurde daraufhin 1969 stillgelegt. Die heutigen Reaktoren des Kernkraftwerks sind Druckwasserreaktoren.
- Am 22. Februar 1977 schmolzen im slowakischen Kernkraftwerk Bohunice A1 (150 MWel) wegen fehlerhafter Beladung einige Brennelemente. Die Reaktorhalle wurde radioaktiv kontaminiert.[6] Der Reaktor wurde daraufhin 1977 stillgelegt.[7]
Totale Kernschmelzen
Bei einer totalen Kernschmelze wird der Reaktorkern vollständig zerstört.
- Am 28. März 1979 fiel im Reaktorblock 2 des Kernkraftwerks Three Mile Island (880 MWel) bei Harrisburg (Pennsylvania) im nichtnuklearen Teil eine Pumpe aus. Da das Versagen des Notkühlsystems nicht rechtzeitig bemerkt wurde, war einige Stunden später der Reaktor nicht mehr steuerbar. Eine Explosion konnte durch Ablassen des freigesetzten radioaktiven Dampfes in die Umgebung verhindert werden. Untersuchungen des Reaktorkerns, die unfallbedingt erst drei Jahre nach dem Unfall möglich waren, zeigten eine Kernschmelze, die allerdings noch vor dem Durchschmelzen des Reaktordruckbehälters zum Stehen gekommen war.[8] Dieser Unfall wurde auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse mit der INES-Stufe 5 eingestuft.
- Am 26. April 1986 ereignete sich im graphitmoderierten Druckröhrenreaktor des Reaktorblocks 4 des Kernkraftwerks Tschernobyl ein katastrophaler Reaktorunfall. Als Folge einer totalen Kernschmelze und einer Wasserstoff-Explosion innerhalb des Reaktorkerns wurden beim Brand von Graphit große Mengen radioaktiver Stoffe freigesetzt.[9] Diese Katastrophe wird auf der Internationalen Bewertungsskala für nukleare Ereignisse mit INES-Stufe 7 als der schwerste nukleare Unfall der Geschichte bewertet. Das Ausmaß des Unfalls war deswegen so schwerwiegend, weil keine Sicherheitshülle (Containment) den Reaktor umgab.
- Neben dieesen drei Kernschmelzen in zivilen Kernreaktoren gab es
- 1952 eine Kernschmelze im NRX-Reaktor in Ontario, Kanada
- 1955 in Idaho, USA, im militärisch genutzten Experimental Breeder Reactor I (EBR-I)
- 1957 in Windscale (häufig "Windscale fire" = Windscale-Brand genannt)
Siehe auch
- Sicherheit von Kernkraftwerken
- Liste der Unfälle in kerntechnischen Anlagen
- Auslegungsstörfall (GAU)
Weblinks
- Was ist ein Kernschmelzunfall? unter www.antiatom.de
- BIU Hannover: Kernschmelzunfälle in deutschen Atomkraftwerken und ihre Auswirkungen auf Menschen und Umwelt
- Kugeler, Kurt. Physikalische Blätter 57 (2001) Nr. 11. Gibt es den katastrophenfreien Kernreaktor? (PDF-Datei; 776 kB)
Einzelnachweise
- ↑ Nuclear Power Reactor Details - LUCENS. In: International Atomic Energy Agency (IAEA). 14. März 2011, abgerufen am 14. März 2011 (eng.).
- ↑ Accidents: 1960's. In: Nuclear Age Peace Foundation. 14. März 2011, abgerufen am 14. März 2011 (eng.).
- ↑ [www.world-nuclear.org/info/inf86.html Nuclear Power in Switzerland.] abgerufen am 14. März 2011 (eng.). In: World Nuclear Association. 14. März 2011,
- ↑ Accidents: 1960's. In: Nuclear Age Peace Foundation. 14. März 2011, abgerufen am 14. März 2011 (eng.).
- ↑ Nuclear Power in France. In: World Nuclear Association. 14. März 2011, abgerufen am 14. März 2011 (eng.).
- ↑ Nuclear Power in Slovakia. In: World Nuclear Association. 14. März 2011, abgerufen am 14. März 2011 (eng.).
- ↑ Nuclear Power in Slovakia. In: World Nuclear Association. 14. März 2011, abgerufen am 14. März 2011 (eng.).
- ↑ Three Mile Island Accident. In: World Nuclear Association. 14. März 2011, abgerufen am 14. März 2011 (eng.).
- ↑ Chernobyl Accident. In: World Nuclear Association. 14. März 2011, abgerufen am 14. März 2011 (eng.).