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95 Thesen

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Thesentür an der Schlosskirche in der Lutherstadt Wittenberg

Martin Luthers 95 Thesen, in denen er gegen Missbräuche beim Ablass und besonders gegen den geschäftsmäßigen Handel mit Ablassbriefen Knecht, wurden am 31. Oktober 1517 als Beifügung an einen Brief an den Erzbischof von Mainz und Magdeburg, Albrecht von Brandenburg, das erste Mal in Umlauf gebracht. Da eine Stellungnahme Albrechts von Brandenburg ausblieb, gab Luther die Thesen an einige Bekannte weiter, die sie kurze Zeit später ohne sein Wissen veröffentlichten und damit zum Gegenstand einer öffentlichen Diskussion im gesamten Reich machten.

Überlieferung

Der Thesenanschlag, bei dem, so die Überlieferung, Martin Luther seine 95 Thesen am 31. Oktober 1517 eigenhändig an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg genagelt haben soll, wird erstmalig erwähnt von Luthers Sekretär Georg Rörer, der 1540 in einer Bearbeitungsnotiz zum Neuen Testament von der Bekanntmachung der Thesen an den Türen mehrerer Wittenberger Kirchen berichtet.[1] Allerdings ist unwahrscheinlich, dass Rörer Augenzeuge des Thesenanschlags war.

Bis zum Fund der Notiz im Jahr 2006 galt eine Bemerkung von Philipp Melanchthon als ältester Beleg des Thesenanschlags. Da Melanchthon aber erst 1518 nach Wittenberg berufen wurde, war er wohl selbst auch kaum Augenzeuge jenes Ereignisses, nach dem sich die Thesen nach üblicher Schilderung von dort aus lauffeuerartig in ganz Deutschland verbreiteten und daher als Einleitung der Reformation angesehen werden.

Darstellung des Thesenanschlags in der Speyrer Gedächtniskirche

Die 95 Thesen

Ausschnitt aus den 95 Thesen
Einleitung zu den 95 Thesen am Portal der Schlosskirche zu Wittenberg

Zusammenfassung

Ausgehend vom Jesuswort „Tut Buße“ (Mt 4,17 LUT) wendet sich Luther zunächst gegen die kirchlich geschürte Angst vor dem Fegefeuer. Ab der These Nr. 21 bildet der Ablasshandel den Schwerpunkt seiner Ausführungen. Er bezeichnet den Ablass als „gutes Geschäft“ (Nr. 67), spricht ihm aber jegliche Wirkungskraft ab, „auch die geringste läßliche Sünde wegzunehmen“ (Nr. 76). In Nr. 81 werden „spitzfindige Fragen der Laien“ angekündigt, die sich als rhetorische Fragen erweisen, beispielsweise Nr. 86: „Warum baut der Papst, der heute reicher ist als der reichste Crassus, nicht wenigstens die eine Kirche St. Peter lieber von seinem eigenen Geld als dem der armen Gläubigen?“ Den Abschluss bildet ein Aufruf an die Christen, „daß sie ihrem Haupt Christus durch Strafen, Tod und Hölle nachzufolgen trachten und daß die lieber darauf trauen, durch viele Trübsale ins Himmelreich einzugehen, als sich in falscher geistlicher Sicherheit zu beruhigen“.

Darstellungen der 95 Thesen

Die 95 Thesen wurden nicht nur in Papierform überliefert, sondern sie waren auch gestalterisches Motiv insbesondere evangelischer Kirchen.[2]

Die Nachricht vom Anschlagen der 95 Thesen Luthers an der Tür der Schlosskirche am Vorabend der alljährlichen Heiltumsweisung 1517 ist erstmals schriftlich festgehalten von Melanchthon 1547 in der Vorrede zum 2. Band seiner Ausgabe der Werke Luthers.[3] Nach Faber u. a. standen ehemals über der Tür Figuren eines heiligen Bischofs, eines heiligen Königs und zweier heiliger Frauen, für die Claus Heffner 1501 Lohn erhielt. Sie wurden 1760 zerstört und um 1765 durch zwei Vasen ersetzt.

Nach Wittenberger Überlieferung schlug Luther die Thesen an der Großen Kirchtür der Schloss- und Universitätskirche an als Herausforderung zu einer der üblichen akademischen Disputationen. Die Tür im dritten Joch der Nordseite wurde nach 1760–1790 stark verändert. Aus der Bauzeit stammt das kräftig profilierte Gewände. Zu beiden Seiten des Scheitelsteins sieht man die Jahreszahl 1499. Über dem Portal stehen auf hohen, wappengeschmückten Postamenten die Figuren Kurfürst Friedrichs des Weisen und Herzog Johanns des Beständigen, nach Entwürfen Friedrich Drakes von Friedrich Wilhelm Holbein 1845. Im Bogenfeld befindet sich ein Kruzifix in Lavamalerei von August von Kloeber 1851. Die hölzernen Türflügel, welche den Thesenzettel getragen haben sollen, verbrannten 1760 und wurden 1768 nach Entwürfen von Fr. W. Exner erneuert.[4] Die Zwickel der rechteckigen Umrahmung enthalten eine kaum noch lesbare Inschrift in Kapitalen, welche an den Brand von 1760 und die darauf folgende Instandsetzung erinnert.

Am 10. November 1858 wurde die von König Friedrich Wilhelm IV. geschenkte Erztür der Wittenberger Schlosskirche der Stadt Wittenberg übergeben und eingeweiht. Sie enthält den Text der 95 Thesen Luthers und ist mit musizierenden Knaben auf den Türkämpfern versehen, nach Zeichnungen Ferdinand von Quasts und Modellen Friedrich Drakes vom Erzgießer Friebel aus Berlin gegossen.[5][6] Daneben wird Luthers Thesenanschlag beispielsweise auch in der Gedächtniskirche Speyer thematisiert.

Bedeutung

Die Veröffentlichung von Luthers 95 Thesen war eines der bedeutendsten Ereignisse in der Frühen Neuzeit mit einer unvorhersehbaren Langzeitwirkung.

Seit dem Frühjahr 1517 erlebte Luther immer häufiger, dass die Wittenberger der Beichte fernblieben und stattdessen in die auf stiftsmagdeburgischem bzw. anhaltischem Gebiet liegenden Städte Jüterbog und Zerbst gingen, um sich, aber auch verstorbene Angehörige von Sünden und Sündenstrafen durch den Erwerb von Ablasszetteln freizukaufen. Tatsächlich war der Missbrauch des Ablasses einer der wesentlichen Kritikpunkte Luthers. Die eine Hälfte der Einnahmen des Ablasshandels diente dem Bau des Petersdoms in Rom, während sich der Erzbischof Albrecht und der Ablassprediger die andere Hälfte teilten. Der Bischof benötigte zudem die Einkünfte, um seine gegenüber den Fuggern aufgelaufenen Schulden abzuzahlen. Mithin waren die Thesen ein Angriff auf das gesamte päpstliche Finanzsystem.

Die als Antwort auf die Ablasspredigten Johann Tetzels veröffentlichten Thesen hatten eine eminente Auswirkung auf nahezu alle gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Strukturen – was Luther selbst kaum vorausgeahnt haben konnte. Die Reformbedürftigkeit der Kirche und damit der Kirchenverfassung war längst augenscheinlich. Die Veröffentlichung seiner Thesen war als Diskussionsgrundlage für fachkundige Theologen gedacht, verselbständigte sich jedoch sehr schnell und wurde immer wieder auf Handzetteln nachgedruckt. Statt zur erhofften Diskussion kam es zunächst zum Ketzerprozess 1518 und schließlich sogar zum Kirchenbann.

Die Wirkung seiner Gedanken hält indes bis heute an. Die Thesen formulieren eine Kritik an den damals herrschenden Zuständen auf der Grundlage der Bibel. Den Ablasshandel erklärt Luther in den Thesen für Menschenwerk, weil die Bibel kein römisch-katholisches Konzept für denselben enthält. Zunächst lässt Luther den Ablass zwar noch für Strafen gelten, die von der Kirche auferlegt wurden; seine Kritik richtet sich aber vor allem gegen die falsche Heilssicherheit, die aus einer falschen Handhabung des Ablasses herrühre. Auch der Papst wird von seiner Kritik nicht ausgenommen. Hier beginnt Luther seine öffentliche Kritik an der Institution des Papsttums – ein geistiger Sprengsatz, der in den nächsten Jahren und Jahrzehnten erst seine volle Kraft entfalten und letztlich zur Trennung innerhalb der abendländischen Kirche führen sollte.

Luthers Landesherr, Friedrich III., unterstützte ihn in seiner Haltung, weil auch er den Abfluss dieser Gelder nach Rom (auch aus seinem eigenen Territorium) mit Argwohn betrachtete.

Der Thesenanschlag wird bis in die Gegenwart vielfältig rezipiert und wurde in verschiedenen Filmen und Büchern szenisch dargestellt und verarbeitet. Er dient auch als Inspiration für den Titel des amerikanischen theologisch-satirischen Magazins The Wittenburg Door.

Frage nach der Authentizität des Ereignisses

Die Authentizität des Thesenanschlags ist umstritten. Zweifelsfrei ist die Existenz eines solchen Thesenpapiers, es dürfte auch in einer größeren Anzahl gedruckt worden sein. Ein Exemplar ging an den Erzbischof Albrecht von Mainz, der zugleich Erzbischof vom Bistum Magdeburg war, in dem auch Wittenberg lag. Weitere gingen an andere geistliche Würdenträger des Reiches, und eins – als Reaktion auf dessen Instruktionen – an den Ablassverkäufer Johannes Tetzel, welcher hierauf jedoch nicht reagierte. Ohne dessen Einverständnis wäre eine solche öffentliche Disputation als schwere Provokation aufgefasst worden. Es ist unwahrscheinlich, dass Luther dieses beabsichtigte oder zumindest sich nicht über eine solche mögliche Konsequenz im Klaren gewesen ist.

Das Ereignis wird seit 1961 von Erwin Iserloh in Frage gestellt, der den Thesenanschlag als solchen bestritt. Der Kirchenhistoriker Heinrich Bornkamm meinte hingegen, dass es damals neben dem Schreiben an den Erzbischof in akademischen Disputationen durchaus den üblichen Gepflogenheiten entsprochen habe, in Wittenberg die Thesen öffentlich anzuschlagen. Dies ist durchaus denkbar, weil die Schlosskirche zugleich auch die Wittenberger Universitätskirche war. Sie diente als Auditorium Maximum bei Disputationen und Promotionen. Auch der Kirchenhistoriker Kurt Aland stimmte für die Authentizität dieses Ereignisses. Die Diskussion flammte neu auf, als Martin Treu von der Stiftung Luthergedenkstätten 2006 in der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek in Jena eine Notiz von Luthers Sekretär Georg Rörer präsentierte, die um 1544 entstand: „Am Vorabend des Allerheiligenfestes des Herrn im Jahre 1517 sind von Doktor Martin Luther Thesen über den Ablass an die Türen der Wittenberger Kirchen angeschlagen worden.“ Der Fund legt also nahe, dass die Thesen an mehreren Wittenberger Kirchen gleichzeitig veröffentlicht wurden. Allerdings ist die Beweiskraft des Dokumentes umstritten.[7]

Endgültig geklärt ist diese Streitfrage, ob der Thesenanschlag Wahrheit oder Legende ist, bis heute nicht. Nicht nur katholische Kirchengeschichtler wie Iserloh bezweifeln die Authentizität des Thesenanschlages. Auch die evangelische Kirchengeschichtsschreibung beharrt nicht auf dem Beibehalten dieses Diktums. Eine klare Tendenz zur Authentizität des Thesenanschlags gibt es in der aktuellen Forschungsdiskussion nicht. Bis zu Luthers Tod im Jahre 1546 ist hiervon nie offiziell die Rede. Melanchthon spricht davon in einem Abstand von nahezu zwanzig Jahren. Es mögen dabei auch Glorifizierungsabsichten eine Rolle gespielt haben. Eine gewisse Form von Glorifizierung stellt indes das Portal der Schlosskirche dar, an dem der Thesentext seither auf das gusseiserne Portal gebracht wurde.

Gerhard Prause fasste 1966 in seinem Buch Niemand hat Kolumbus ausgelacht. Fälschungen und Lügen der Geschichte richtiggestellt die Geschichte der 95 Thesen zusammen und legte dar, dass der Mythos vom Anschlag der 95 Thesen auf einen Lesefehler eines Textes des damals einzigen bekannten Zeitzeugen Johann Agricola Eisleben zurückgehen könnte. Man las me teste (lateinisch „wie ich bezeugen kann“) statt modeste („in bescheidener Weise“). Prause zufolge schrieb Agricola: „Im Jahre 1517 legte Luther in Wittenberg an der Elbe nach altem Universitätsbrauch gewisse Sätze zur Disputation vor, jedoch in bescheidener Weise und damit ohne jemand beschimpft oder beleidigt haben zu wollen“. Möglicherweise muss diese Ansicht aber mit dem Fund der Notiz des Luther-Sekretärs Georg Rörer revidiert werden.

Literatur

Anmerkungen und Einzelnachweise

  1. http://www.luther2017.de/252.htm Dr. Martin Treu: An die Türen der Wittenberger Kirchen – Neues zur Debatte um den Thesenanschlag
  2. Die Denkmale der Lutherstadt Wittenberg. Böhlau, Weimar 1979, S. 46.
  3. Zu neuerdings vorgebrachten Zweifeln an der Gültigkeit der Überlieferung vgl. Erwin Iserloh: Luther zwischen Reform und Reformation. München 1966.
  4. IfD Dresden, M 65a, Bl. 26
  5. Zur Überlieferung des Thesenanschlags, zur Tür von 1499 und den Veränderungen nach 1760 s. S. 213.
  6. Zur langwierigen Planung und Ausführung der Tür von 1844 vgl. Witte, 15, und Ferdinand v. Quast: Die Türen der Schloßkirche zu Wittenberg. In Christi. Kunstbl. 1859. 49. Erläuterungsbericht v. Quasts zu seinen Entwürfen im GStA Berlin, Rep. 89 H IX Sachsen 5a.
  7. http://www.urmel-dl.de/content/main/collections/roerer.xml Zur neuen Diskussion um den Thesenanschlag
    W. Marchewka, M. Schwibbe, A. Stephainski: Zeitreise. 800 Jahre Leben in Wittenberg / Luther. 500 Jahre Reformation; Edition Zeit Reise, Göttingen 2008/09, S. 39