Der Zauberberg

Der Zauberberg ist ein 1924 veröffentlichter Roman von Thomas Mann.
Entstehungsgeschichte
Äußerer Anlass für das Werk war ein Sanatoriumsaufenthalt von Thomas Manns Frau Katja in Davos im Jahre 1912. Thomas Mann hatte ursprünglich die Absicht gehabt, die bei einem Besuch dort empfangenen Eindrücke im Rahmen einer Novelle zu verarbeiten; sie sollte ein heiter-ironisches Gegenstück zum 1912 erschienen Tod in Venedig werden. Bereits 1913 begann der Autor das Werk, unterbrach die Arbeit aber 1915 aufgrund des Ersten Weltkriegs und setze sie erst 1920 fort. Die ursprünglich geplante „Novelle“ war mittlerweile zu einem zweibändigen Roman angewachsen, der 1924 im S. Fischer Verlag erschien. Nach vier Jahren war er bereits in fast alle europäischen Sprachen übersetzt und hatte in Deutschland eine Auflage von 100.000 Stück erreicht.
Inhalt
Ankunft im Sanatorium
Der Roman handelt von einem jungen Mann namens Hans Castorp, Sohn eines bankrotten Hamburger Kaufmanns, der nach dem Tod seiner Eltern zunächst bei seinem Onkel Tienappel aufgewachsen ist und schließlich ein Studium der Schiffbautechnik begonnen hat. Vor dem geplanten Eintritt als Volontär bei einer Schiffswerft reist er in die Schweizer Alpen, um dort im Sanatorium „Berghof“ nahe Davos seinen Vetter Joachim Ziemßen zu besuchen.
Ursprünglich beabsichtigt er, nur drei Wochen zu bleiben. Die Atmosphäre der von Hofrat Prof. Behrens und dem Psychoanalytiker Dr. Krokowski geleiteten Tuberkulose-Anstalt übt jedoch eine eigenartige Faszination auf Castorp aus. Beim Mittagessen trifft er auf vor Atemnot röchelnde oder Blut hustende Patienten, oder auch auf die aufgrund ihres Pneumothorax-Leidens aus der Lunge pfeifende Hermine Kleefeld. Er gewinnt den Eindruck, dass Krankheit den Menschen vergeistige und veredele, während Personen von robuster Gesundheit zu einer gewissen Einfalt neigten. Abstoßend findet er demgemäß die Kombination „krank und dumm“, wie er sie bei der „mörderlich ungebildeten“, zu fortwährenden Stilblüten neigenden Karoline Stöhr antrifft.
Settembrini
Bald lernt Castorp den äußerlich verwahrlosten, an einen „Drehorgenspieler“ erinnernden Pädagogen Lodovico Settembrini kennen, einen Humanisten, Freimaurer und „individualistisch gesinnten Demokraten“, mit dem er zahllose Gespräche über philosophische und politische Fragen aller Art führt. Der Italiener bejaht, ehrt, liebt „den Körper (…), die Schönheit, die Freiheit, die Heiterkeit, den Genuss“, vertritt die „Welt, die Interessen des Lebens (…)gegen sentimentale Weltflucht, – den Classicismo gegen die Romantik“. Zwei Prinzipien lägen im ewigen Kampf um die Welt, „die Macht und das Recht, die Tyrannei und die Freiheit, der Aberglaube und das Wissen, das Beharren und der (…) Fortschritt“, Europa und Asien. Gemäß geheiligter Familientradition nimmt Settembrini an dem Kampf im Sinne „der Aufklärung, der vernunftgemäßen Vervollkommnung“ teil. Analyse tauge zwar „als Werkzeug der Aufklärung und der Zivilisation (…) insofern sie dumme Überzeugungen erschüttert, natürliche Vorurteile auflöst und die Autorität unterwühlt (…) indem sie befreit, verfeinert, vermenschlicht und Knechte reif macht zur Freiheit.“. Schädlich, „eine unappetitliche Sache“ sei sie indes, „insofern sie die Tat verhindert, das Leben an den Wurzeln schädigt." Eindringlich warnt Settembrini daher seinen Schützling insbesondere davor, sich allzusehr dem morbiden Reiz der Anstalt zu hinzugeben, empfiehlt ihm gar die Abreise nach Hamburg.
Madame Chauchat
Des Weiteren verliebt sich Castorp in die verheiratete, zu Exzentrik neigende Russin Madame Clawdia Chauchat, die am Mittagstisch stets durch Zu-Spät-Kommen, lautes Türenschlagen, das Drehen von Brotkrümeln und andere „Disziplinlosigkeiten“ auffällt. Angeheizt wird Castorps Begehren noch durch eine gewisse Eifersucht auf Prof. Behrens, dem Frau Chauchat „beinahe täglich“ Modell für seine Ölgemälde steht. Settembrini rät ihm von der Liaison ab. Die Russin, die er zu den „Parthern und Skythen“ rechnet, bestätige eindrucksvoll die These, dass Krankheit nicht nur eine Folge, sondern eine Form der Liederlichkeit sei.
Während eines Karnevalsfestes bittet Castorp Frau Chauchat bei einem Zeichenspiel um einen Bleistift. Sie überreicht ihm „ein kleines silbernes Crayon (…), dünn und zerbrechlich (…), zu ernsthafter Tätigkeit nicht zu gebrauchen“. Es kontrastiert zu dem Stift, den sich Castorp einst in seiner Jugend von seinem homoerotisch verehrten Mitschüler Pribislav Hippe ausgeliehen hatte, dem „versilberten Crayon mit einem Ring, den man aufwärts schieben musste, damit der rot gefärbte Stift aus der Metallhülse wachse“. Nachdem Frau Chauchat ihre unmittelbar bevorstehende Rückreise nach Daghestan angekündigt hat, gesteht ihr Castorp überschwänglich seine Liebe.
Castorps Eingewöhnung
Nicht zuletzt mit Blick auf die äußere Routine des geregelten Sanatoriumlebens mit seinen festen Aufsteh-, Essens-, Untersuchungs- und Ruhezeiten läuft die Zeit für Castrop subjektiv schneller ab als tatsächlich, sie wirkt auf ihn wie eine „ausdehnungslose Gegenwart“. Castorp hält sich zunächst für völlig gesund, eine Einschätzung, die die Klinikleitung nicht teilt. So wird auch im Rahmen einer Röntgenuntersuchung auf Castorps Lunge eine „feuchte Stelle“ gefunden, die sich zunehmend ausweitet. Auf Professor Behrens’ Rat bleibt er vorerst auf dem Berghof, nimmt zunehmend an therapeutischen Maßnahmen wie den Liegekuren teil und kauft sogar ein Fieberthemometer, um, wie die anderen Berghofbewohner, mehrmals täglich seine Temperatur zu messen. Die Tagesordnung der Patienten begann, „in seinen Augen das Gepräge einer heilig-selbstverständlichen Unverbrüchlichkeit anzunehmen, so dass ihm das Leben im Flachlande drunten (…) fast sonderbar und verkehrt erschien.“
Auch besucht er Dr. Krokowskis Vortragsreihe, in der der Psychoanalytiker die zentrale These behandelt, dass „Krankheitssymptom(e) (…) verkappte Liebesbetätigung und alle Krankheit verwandelte Liebe“ sei. Schließlich treibt Castorp diverse Studien etwa auf medizinischem und psychologischem Gebiet.
Naphta
Settembrini, unheilbar krank, verlässt den Berghof, um ins nahegelegene Dorf zu ziehen. Er bezieht Quartier im Haus des Damenschneiders Lukaçek, in dem auch sein Bekannter und intellektueller Widerpart wohnt, der asketische Jesuit Naphta, ein zum Katholizismus konvertierter galizischer Jude mit bewegter Vergangenheit. Ein brillanter, rhetorisch begabter und sophistisch-kalter Logik verpflichteter Intellektueller, vor dessen Einflüssen Settembrini seinen jungen Freund erfolglos fernzuhalten versucht. In anarcho-kommunistischer Tradition strebt er nach der Wiederherstellung des „anfänglichen paradiesisch justizlosen und gottesunmittelbaren Zustands“ der „Staat- und Gewaltlosigkeit (…), worin es weder Herrschaft noch Dienst gab, nicht Gesetz noch Strafe, kein Unrecht, keine fleischliche Verbindung, keine Klassenunterschiede, keine Arbeit, kein Eigentum, sondern Gleichheit, Brüderlichkeit, sittliche Vollkommenheit.“. Nach Abschaffung „der Greuel des modernen Händler- und Spekulantentums (…) der Satansherrschaft des Geldes, des Geschäfts“ sei ein totalitärer, auf Terrorherrschaft gestützter Gottesstaat zu errichten; das Prinzip der Freiheit sei ein überlebter Anachronismus.
Ziemßens Weggang und Tod
Auch Vetter Ziemßen kehrt dem Sanatorium zwischendurch den Rücken, um sich als Soldat aktiv und schaffenskräftig dem Weltleben zuzuwenden. Mit verschlimmertem Leiden kommt er nach einer Weile zurück, versucht die ihm verbleibenden Wochen noch nach Kräften zu genießen und stirbt schließlich auf dem Berghof. Im Rahmen einer der von Dr. Krokowski geleiteten spiritistischen Sitzungen wird sein Geist aus dem Totenreich heraufbeschworen, mahnt seinen Vetter Castorp zu tatkräftigem Wirken.
Der Schneesturm
Während eines Skiausflugs gerät Castorp in einen Schneesturm. In der elementaren Urkraft der Naturgewalt erlebt er, körperlich erschöpft und übermüdet, in seiner Phantasie eine „wunderschöne Bucht am Südmeer“, mit „verständig-heiterer, schöner, junger Menschheit“, „Sonnen- und Meereskinder“, die „mit Freundlichkeit, Rücksicht, Ehrerbietung“ miteinander verkehren. Getrübt wird das ganze freilich im Anschluss durch schauerliche Hexen, die kleine Kinder zerreissen und verschlingen. Von der lebensfrohen ersten Vision geläutert, zweifelt Castorp an seinen Mentoren Settembrini und Nafta, aber auch an den Gegensatzpaaren „Tod-Leben“, „Krankheit-Gesundheit“, „Geist-Natur“. Der Mensch, vornehmer als sie, hebe sie auf, durch Liebe, Güte und Frömmigkeit. Er beschließt daher, „dem Tode keine Herrschaft einzuräumen über (seine) (...) Gedanken.“
Mynheer Peeperkorn
Schließlich kehrt auch Clawdia Chauchat zurück, in Begleitung des niederländischen Kaffee-Pflanzers Mynheer Pieter Peeperkorn. Ungeachtet seiner Eifersucht gegen den neuen Rivalen, zeigt er sich von dessen kraftstrotzender Vitalität beeindruckt: Das Leben betrachtet Peeperkorn als „ein hingespreitet Weib, mit dicht beieinander quellenden Brüsten (…), das in herrlicher, höhnischer Herausforderung unsere höchste Inständigkeit beansprucht, alle Spannkraft unserer Manneslust, die vor ihm besteht oder zuschanden wird.“ Nach schwerer Erkrankung wählt Peeperkorn den Freitod durch Gift, worauf Madame Chauchat den Berghof für immer verlässt.
Endphase
Gegen Ende des Romans verflachen die Aktivitäten der meisten Berghofbewohner zu Langeweile und banalem Zeitvertreib wie Briefmarkensammeln, „Schweinchenzeichnen“ und Schokoladeessen. Castorp wendet sich mit Vergnügen dem neu angeschaffen Grammofon zu. Der zwischen Settembrini und Naphta von jeher schwelende weltanschauliche Streit eskaliert indes. Schließlich mündet er gar in einem Pistolenduell, in dessen Verlauf sich Naphta aus Wut und Verzweifelung selbst tötet.
Aus dem ursprünglich geplanten dreiwöchigen Aufenthalt im Sanatorium waren für Castrop mittlerweile sieben Jahre geworden. Erst der Ausbruch des Ersten Weltkriegs ist der unerwartete "Donnerschlag", der den vermeintlich Endgültigen aus der Passivität in Abgeschiedenheit reißt. Hastig kehrt die internationale Patientenschaft des Berghofs in seine Herkunftsländer zurück, darunter auch Hans Castorp selbst. Dessen überstürzte Rückreise führt ihn jedoch in eine vollkommen veränderte - entbürgerlichte - Welt. Im letzten Kapitel nimmt Castorp, als gewöhnlicher Heeressoldat im Schlachtgetümmel anonymisiert, an einem der zahllosen Angriffe an der Westfront teil. Dort gerät er schließlich aus dem Blickfeld, wobei sein Überleben im Bombenhagel mehr als ungewiss erscheint.
Interpretation
Allgemeines
Der Zauberberg ist in gewissem Sinne eine Parodie auf den klassischen deutschen Bildungsroman. Wie dessen übliche Protagonisten verlässt Hans Castorp sein Vaterhaus und begegnet, im Sanatorium, Kunst, Politik und der Liebe. Besonders in den Gesprächen mit seinen Mentoren Settembrini und Naphta lernt er eine Reihe verschiedener Ideologien kennen. Anders als im klassischen Bildungsroman sollte die "Erziehung" auf dem Zauberberg Hans Castorp indes nicht zu einem tüchtigen Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft machen, sondern führte ihn unmittelbar in den Tod im Schützengraben führen.
Zusammenhang mit „Der Tod in Venedig“
Nach eigenem Bekunden des Autors war der ursprünglich als Novelle konzipierte Zauberberg als heiter-ironisches Gegenstück, als „Satyrspiel“ zu der erst 1912 vollendeten Novelle „Der Tod in Venedig“ gedacht. Ihre Atmosphäre sollte „die Mischung von Tod und Amüsement“ sein, die Mann beim Besuch seiner Frau im Sanatorium kennengelernt hatte. „Die Faszination des Todes, der Triumph rauschhafter Unordnung über ein der höchsten Ordnung geweihtes Leben, die im Tod in Venedig geschildert ist, sollte auf eine humoristische Ebene übertragen werden.“
Und so stellt der Zauberberg in vielerlei Hinsicht die Antithese zur genannten Novelle dar. Dem etablierten Schriftsteller Gustav von Aschenbach steht hier ein junger, lebensunerfahrener Ingenieur gegenüber. Dem schönen polnischen Knaben Tadzio entspricht die "asiatisch-schlaffe" Russin Madame Chauchat, der Cholera in Venedig schließlich die Tuberkulose im Sanatorium.
Zauber- und Bergsymbolik
Den „Berg“ trägt der Roman bereits im Titel. Die Bezüge hierzu sind vielschichtig: So liegt der Schauplatz der Handlung, das Sanatorium Berghof, nicht nur rein geographisch im Gebirge, sondern stellt auch, wie ein realer Berg, eine hermetisch abgeschlossene Welt für sich dar. Der groteske Karneval, während dessen Castorp Clawdia Chauchat seine Liebe gesteht, ist mit „Walpurgisnacht“ überschrieben und gemahnt damit an die Szene im ersten Teil von Goethes Faust, wo sich auf dem Blocksberg Hexen und Zauberer zu einem obszön-höllischen Fest treffen. Auch stellt die Welt des Sanatorium einen Gegensatz zu Castorps Heimat, dem nüchternen, geschäftlichen und (im Falle Joachim Ziemßens) tödlichen "Flachland" dar. Nicht übersehen werden darf schließlich auch die Parallele zum Venusberg, einem verbreiteten Topos der deutschen Literatur, der nicht zuletzt in Richard Wagners Oper Tannhäuser eine zentrale Rolle spielt: Dort ist er eine Art "höllisches Paradies", ein Ort der Wollust und Zügellosigkeit. Bei Tannhäuser heißt es: "Hast Du im Venusberg geweilt: so bist auf ewig Du verdammt". Im Venusberg (oder: Zauberberg?) verläuft die Zeit anders: Wer dort ist, glaubt nur wenige Stunden dort verbracht zu haben. Doch wenn er wieder aus dem Berg herausfindet, sind sieben Jahre vergangen.
Krankheit und Tod
Krankheit und Tod sind in dem Roman allgegenwärtig. Nahezu alle Protagonisten leiden in unterschiedlichem Maße an Tuberkulose, die auch den Tagesablauf, die Gedanken und Gespräche beherrscht („Verein Halbe Lunge“). Immer wieder sterben auch Patienten an der Krankheit, wie etwa Barbara Hujus, die dem Leser durch die düstere Viatikum-Szene im Gedächtnis bleibt, oder Vetter Ziemßen, der „heroisch“ wie ein antiker Held aus dem Leben scheidet. In den Gesprächen mit Settembrini und Naphta wird die Todesthematik schließlich auf eher metaphysischer Ebene disputiert. Neben die krankheitsbedingten Todesfälle treten schließlich mehrere Selbstmorde (Peeperkorn, Naphta) sowie schließlich der Tod des Protagonisten auf dem Schlachtfeld.
Zum Tod und zur Krankheit in seinem Roman kommentiert Thomas Mann: „Was er (gemeint ist Castorp) begreifen lernt, ist, daß alle höhere Gesundheit durch die tiefen Erfahrungen von Krankheit und Tod hindurchgegangen sein muß (...). Zum Leben, sagt einmal Hans Castorp zu Madame Chauchat, zum Leben gibt es zwei Wege: der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg. Diese Auffassung von Krankheit und Tod, als eines notwendigen Durchganges zum Wissen, zur Gesundheit und zum Leben, macht den Zauberberg zu einem Initiationsroman.“
Zeit
Verwoben mit der Leben/Tod-Thematik ist der Begriff der Zeit, ein weiteres zentrales Motiv im Zauberberg. Obwohl der Roman chronologisch aufgebaut ist, verläuft die Handlung nicht in gleichmäßiger Geschwindigkeit, sondern beschleunigt zunehmend. Die ersten fünf Kapitel, etwa die Hälfte des Textes, beschreiben zeitdehnend und detailreich lediglich das erste von Castorps sieben Zauberbergjahren, da dem Protagonisten täglich Neues, Interessantes bringt. Die letzten beiden Kapitel drängen, raffen und verdichten indes einen Zeitraum von sechs für Castorp eher von Routine und Monotonie geprägten Jahren. Der Asymmetrie im Romanaufbau entspricht auf der Erzählebene selbst eine verzerrte Zeitwahrnehmung durch den Protagonisten selbst, der seinerseits wiederum häufig über die Zeitthematik philosophiert.
Zentrale Figuren
Zahlreiche Zeitströmungen finden sich in bestimmten Figuren des vielschichtigen Zauberberg-Kosmos verkörpert.
Hans Castorp, nach des Autors eigenem Bekunden ein „Gralssucher“ in der Tradition Parzivals, ein „reiner Tor“, bleibt im Grunde relativ blass und mittelmäßig gezeichnet. Er steht für das deutsche Bürgertum, das sich, zwischen widersprüchlichen Einflüssen hin- und hergerissen, zu höchsten humanistischen Leistungen aufschwingen kann, aber auch dumpf-philiströser Kulturfeindlichkeit ebenso anheimfallen wie radikaler Ideologie. Die Einflüsse werden durch weitere Hauptfiguren des Werks vertreten:
So repräsentiert Settembrini etwa die bürgerlichen Wertordnungen, die lebensbejahende Welt der Arbeit und des tätigen Schaffens. Deutlich wird dies etwa, soweit er Castorps Hang zur Morbidität entgegenwirkt, vor seiner Liebe zur kranken Madame Chauchat warnt und versucht, seinem Schützling positive Lebensperspektiven aufzuzeigen. Auch vertritt er mit Humanismus und Demokratie, mit Aufklärung, Toleranz und Menschenrechten ein positives kulturpolitisches Programm. Symbolisch kommt Settembrinis „aufklärende“ und damit „erhellende“ Funktion darin zum Ausdruck, dass er Castorp zumeist im Dunkeln vorfindet, vor dem Gespräch aber das Licht anknipst. Settembrini wird von seinem Gegenspieler Naphta als "Zivilisationsliterat" verspottet. Tatsächlich ist die Figur ursprünglich auch als Karikatur des westlich orientierten, liberal-demokratischen Schriftstellertyps, wie ihn etwa Thomas Manns Bruder Heinrich verkörperte, angelegt worden. Parallel zur Entstehungsgeschichte des Romans vollzog sich die Hinwendung des Autors zur demonstrativen Bejahung der demokratischen Weimarer Republik. Aus diesem Grund darf angenommen werden, dass die Figur Settembrinis - insbesondere in den späteren Kapiteln - bisweilen zum Sprachrohr des Autors Thomas Mann wird.
Naphta indes steht für die zersetzenden Kräfte, den Extremismus von beiden Seiten, wie er sich in der Weimarer Republik zunehmend etablieren konnte, für die Selbstzerstörung, die in ein totalitäres System führen sollten. Sein heterogen aus radikal-ideologischen Versatzstücken aller Art geformtes Weltbild trägt ebenso kommunistische, anarchistische wie faschistoide Züge. Zentrale Werte werden durch brillant-kalte Intelligenz und sophistische Rhetorik ihres Sinnes entkleidet und ad absurdum geführt, „als wollte er wahrhaben, dass sich die Sonne um die Erde drehe“. Es ist gewiss kein Zufall, dass er in Thomas Manns ursprünglicher Romankonzeption nicht vorgesehen war, sondern erst später eingearbeitet wurde. Als mögliche Vorbilder für die Figur des Naphta werden eine Reihe radikaler Persönlichkeiten der Epoche genannt, u.a. Leo Trotzki und Georg Lukács. Das Duell mit Settembrini gegen Ende des Romans ist Ausdruck der unvereinbaren Positionen der beiden Intellektuellen.
Nicht unterschätzt werden darf schließlich die Rolle des erst relativ spät auftauchenden Peter Peeperkorn, des neuen Partners von Madame Chauchat. Von Settembrini als „dummer alter Mann“ geschmäht, erinnert er erkennbar an jene zwiespältigen Figuren aus Manns früheren Werken, denen der Autor bzw. sein jeweiliger Protagonist ob ihrer naiv-vitalen Kraft Bewunderung, Neid und Verachtung gleichermaßen entgegenbringt. Zu nennen sind insbesondere Herr Klöterjahn aus der Novelle „Tristan“ sowie Tonio Krögers lebenskräftiger Freund Hans Hansen. Pate gestanden haben dürfte der alte Gerhart Hauptmann, doch trägt Peeperkorn auch einige von Thomas Mann kritisch bewertete Züge Goethes.
Vetter Joachim Ziemßen schließlich erscheint als Vertreter der soldatisch-treuen Pflichterfüllung. Eine Figur, die sich den Herausforderungen des Lebens stellt und ihnen durch aktives Tätigwerden zu begegnen sucht. Die hierfür sogar den hermetischen Mikrokosmos des Zauberbergs und seine Morbidität verlässt – um moribund zurückzukehren.
Literatur
- Thomas Mann, Der Zauberberg, Frankfurt 1991, ISBN 3596294339
sekundär:
- Rudolf Kassner, Geistige Welten, Zürich 1958, S. 85ff.
- Borge Kristiansen, Zu Bedeutung und Funktion der Settembrini-Gestalt in Thomas Manns Zauberberg, in: Gedenkschrift für Thomas Mann, Kopenhagen 1975, S. 95ff.
- Hermann Kurzke, Wie konservativ ist der Zauberberg?, in: Gedenkschrift für Thomas Mann, Kopenhagen 1975, S. 137ff.
- Herbert Lehnert, Leo Naphta und sein Autor, in: Orbis Litterarum 37 (1982), S. 47ff.
- Hans Mayer, Thomas Manns Zauberberg als Pädagogische Provinz, in: Sinn und Form – Beiträge zur Literatur I, 1949
- Lotti Sandt, Mythos und Symbolik im Zauberberg von Thomas Mann, Bern 1979
- Klaus Schröter, Thomas Mann, Reinbek 1995, S. 99ff.
- Günther Schwarberg. Es war einmal ein Zauberberg. Göttingen: Steidl, 2001. ISBN 3-88243-775-8. Hinweis: Das Buch bietet keinen exakten Nachweis von Zitaten; Bibliographie, Register und Bildnachweis fehlen.
- Eva Wessel, Der Zauberberg als Chronik der Dekadenz, in: Thomas Mann – Romane und Erzählungen, Stuttgart 1993, S. 121ff.
Verfilmung
- Hans W. Geißendörfer verfilmte den Roman 1981 mit Rod Steiger und Marie-France Pisier.
Lesungen
- Hörbuch Verlag: der hörverlag 10 CDs ISBN 3899402588
- Hörbuch Verlag: der hörverlag 8 Kasetten ISBN 3899402839
- Hörbuch Verlag: Deutsche Grammophon 15 CDs ISBN 382911317X