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Vor dem Ruhestand

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Vor dem Ruhestand ist eine „Komödie[1] des österreichischen Dichters, Dramaturgen und Schriftstellers Thomas Bernhard (1931–1989). Anlass für die Entstehung des Stücks war eine Auseinandersetzung zwischen dem Regisseur Claus Peymann und dem baden-württembergischen Ministerpräsidenten Hans Filbinger, der aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit als Marinestabsrichter zum Rücktritt gezwungen wurde.[2] Vor dem Ruhestand wurde am 29.6.1979 im Württembergischen Staatstheater Stuttgart uraufgeführt. [3]

Inhalt

Die drei Akte der „Komödie von deutscher Seele“ spielen im Haus des Gerichtspräsidenten Höller, auch ein ehemaliger SS-Offizier und stellvertretender KZ-Kommandant ist und als solcher jedes Jahr am siebten Oktober Himmlers Geburtstag feierlich begeht. Das Theaterpublikum darf sowohl den Vorbereitungen für das Fest als auch diesem selbst zuschauen. Am Ende des Stücks stirbt der von nationalsozialistischem Wahn ergriffene Rudolf an einem Herzkollaps. Das Warten und das Feiern bilden den „kargen Aktionskern“[4] des Stücks.

Aufbau

Erster Akt

Im ersten Akt warten die zwei Schwestern auf ihren Bruder. Vera bügelt Rudolfs Richtertalar , aber auch seine SS-Offiziersuniform. Dadurch werden sowohl die gesellschaftliche Stellung des Gerichtspräsidenten Höller und somit seine gegenwärtige Macht, als auch seine nationalsozialistische Vergangenheit inszeniert. Beide fangen an, sich wegen der – Clara zufolge schlechten - Behandlung ihres Kindermädchens Olga zu streiten. Dabei muss der Zuschauer feststellen, dass die zwei Schwestern „grundverschiede[n]“ sind und ihre Beziehung zueinander eine äußerst konfliktreiche ist.

Zweiter Akt

Am Anfang des zweiten Aktes sitzt Rudolf, der „ziemlich erschöpft“ von der Arbeit zurückgekommen ist, in einem Sessel und erzählt, dass er von jüdischen Kindern „angerempelt“ wurde. Ferner berichtet er stolz, dass er den Bau „eine[r] Giftgasfabrik […] vor [den] Fenstern“ des gemeinsam bewohnten Elternhauses verhindert hat – was nichts anderes als eine Fortsetzung von Himmlers Politik darstellt. Diese Berichte sind der Ausgangspunkt einer scharfen Kritik an der modernen Gesellschaft durch Rudolf und Vera, wobei die Juden für die angebliche „Verwahrlosung […] auf allen Gebieten“ verantwortlich gemacht werden. Als Vera den Raum kurz verlässt, bricht zwischen der bisher schweigsamen. Clara und Rudolf ein sehr heftiger Streit aus, durch welchen den ganzen Hass zwischen den beiden Geschwistern zum Ausdruck kommt.

Dritter Akt

Im dritten Akt sitzen alle drei Geschwister am Speisetisch und trinken anlässlich des Geburtstages von Himmler Sekt. Rudolf erscheint in „kompletter SS-Obersturmbannführeruniform mit Kappe, Pistole am Koppel und in schwarzen Schaftstiefeln“ [S.979, S. 89]. Indem er sich zusammen mit Vera sein Fotoalbum anschaut, erzählt er wie unbekümmert von der „Steiermärkerin aus Graz“, die ihn bei einer Exkursion „am Stadtrand von Leningrad“ begleitet hatte und „dann erschossen“ wurde, „weil sie Juden begünstigt hat[te]“ sowie von den „paar“ Ukrainern, die er „eigenhändig erschossen“ hat [S. 108]. Beim Feiern trinkt der Gerichtspräsident Höller „zuviel“, zieht schließlich seine Pistole aus dem Halfter heraus und droht, seine Schwestern „um[zu]legen“ [S. 118]. Aber er hat einen Herzanfall – woran er höchstwahrscheinlich sterben wird -, so dass Vera sich gezwungen sieht, einen jüdischen Arzt anzurufen. Bevor sie zum Telefon geht, sagt sie noch Folgendes zu Clara: „Du bist schuld / mit deinem Schweigen / du mit deinem ewigen Schweigen“ S. 119]. In der Tat übt Clara mit ihrem bedrückenden Schweigen – während des ganzen dritten Aktes spricht sie nur ein einziges Wort [S. 110] - eine besondere Macht aus[5] .

Figuren

Rudolf lebt mit seinen beiden Schwestern Vera und Clara völlig zurückgeszogen, die Geschwister haben keine soziale Kontakte mehr. Es gbit außer ihnen nur, wie in einem Gespräch erwähnt, ein taubstummes und analphabetisches Dienstmädchen namens Olga.

Rudolf

In der Nazizeit hat Rudolf einen „Richterkurs“ [S. 107] besucht und wurde während des Krieges zum jüngsten Richter an der Ostfront. Dank Himmlers Hilfe und mit Veras Unterstützung Ruhestand. Eine Komödie von konnte er nach Kriegsende in Deutschland seine Vergangenheit als stellvertretender KZ-Kommandant verbergen und entging somit einem Prozess und der Hinrichtung. Nach zehn Jahren wurden keine Fragen mehr über seine Tätigkeit in der Nazizeit gestellt. Obwohl Rudolf seine nationalsozialistischen Ideen nicht aufgegeben hat und bereit ist, sie mit Waffengewalt zu verteidigen , obwohl er davon träumt, Himmlers Geburtstag „ganz offen“ feiern zu können, erlebte er nach dem Krieg einen schnellen Aufstieg und wird Gerichtspräsident und Abgeordneter Als guter und überzeugender Redner, ist Rudolf ein besonders einflussreicher Mensch. Er scheint sogar den stellvertretende[n] Ministerpräsidenten persönlich zu kennen. Trotz seiner „Würdemaske“ [S. 71] und der Gefühllosigkeit, mit derr er über seine ukrainischen Opfer spricht, hat der Gerichtspräsident Höller auch seine „zarten Seiten“ [S. 104]. Laut Vera wurde er nie ganz erwachsen und bleibt nach wie vor ein zaghafter und scheuer Mensch. So lässt er sich von Kindern einschüchtern Rudolf steht kurz vor dem Ruhestand, den er fürchtet, weil ihm dann zu viel Zeit bleiben wird, "zu grübeln".

Vera

Vera ist die ältere der zwei Schwestern. Auch wenn sie die Rudolfs Faszination für Himmler nicht ganz teilt, auch wenn sie von seinem Wahn überzeugt ist, will sie ihn beim Begehen des Geburtstages seines "Idols“ unterstützen. Daher kann sie als Opportunistin betrachtet werden [6]. Mit ihrem Bruder unterhält sie eine inzestuöse Beziehung, die als Parodie der nationalsozialistischen Bemühungen um die Bewahrung der Blutreinheit gelesen werden kann [7] .

Clara

Clara kann dagegen als Oppositionelle angesehen werden [8] . Sie ist „Sozialistin“ und war in einen „Revolutionär“ verliebt, der allerdings Selbstmord beging. Sie liest "linke" Bücher Zeitungen. Infolge eines amerikanischen Bombenangriffs ist sie querschnittsgelähmt und sitzt im Rollstuhl. Clara hasst ihre Geschwister, ist aber auf sie angewiesen und kann deshalb nicht davonlaufen. Lange Zeit hat sie die „Gesetze“ [S. 36] ihrer Geschwister hingenommen, weigert sich aber jetzt, das weiter zu tun. Mit ihrem bedrückenden Schweigen bringt sie schließlich ihren Bruder um [9] .

Rezeption und Interpretation

In der DDR, wo "Vor dem Ruhestand“ ab 1986 aufgeführt wurde, sah man in der „Komödie von deutscher Seele“ vor allem ein „antifaschistisches Werk“: „Bernhard Stück wurde zur Bestätigung der Staatsideologie herangezogen, es schien – politisch gesehen – den Interessen der DDR in hohem Maße entgegenzukommen“[10] . In der „Komödie von deutscher Seele“ geht es nicht nur um Hans Filbinger [11] . Vielmehr scheint es, als ob Bernhard zeigen wollte, dass der „Verbrecher“ in „jedem von uns“ ist. Als er am vom 23.6. 1980 in einem Spiegel-Interview mit Hellmuth Karasek und Erich Böhme gefragt wurde, ob „Vor dem Ruhestand“ ein Filbinger-Stück sei, sagte er „Also missverstehen Sie mich nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich und allen anderen mit allen verwandt sind. Dass auch ein Filbinger in mir ist wie in allen anderen.“[12]

Einzelnachweise

  1. In der Einzelausgabe von 1979 wird das Stück mit dem Untertitel „Eine Komödie von deutscher Seele“ versehen. Mit dieser Bezeichnung berief sich Bernhard allerdings nicht auf aristotelische Gattungsdefinitionen, sondern er folgte seiner eigenen Konzeption eines das Tragischen mit dem Komischen mischenden Theater (vgl. Winkler, Jean-Marie: L’attente et la fête. Recherches sur le théâtre de Thomas Bernhard. Bern [u.a.]: Lang 1989 (= Contacts: Série 1, Theatrica; 7), S. 169–175).
  2. Vgl. Andreas Herzog: Vor dem Ruhestand der DDR: Missverständnisse um das komplizierteste Stück Thomas Bernhards. In: Forum Modernes Theater 7 (1992), H. 1, S. 18–35, S. 22. Thomas Bernhard. Werkgeschichte. Hrsg. v. Jens Dittmar. Zweite, aktualisierte Aufgabe. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990 (= Suhrkamp-Taschenbuch; 2002), S. 209.
  3. Alle Textzitate aus Vor dem Ruhestand.Frankfurt am Main 1979.
  4. Michaelis, 1982.S. 25-45, S. 43.
  5. Krammer 2003.S. 118
  6. Herzog 1992. S. 18-35, S. 23
  7. Hoff 2003. S. 150
  8. Federico 1984. S. 142-148, S. 143.
  9. Krammer 2003.S. 118
  10. Herzog 1992. S. 18-35, S. 19.
  11. Vgl. Herzog 1992. S. 18-35, S. 22.
  12. Zitiert nach: Herzog 1992 S. 18-35, S. 23.

Bibliographie

Textausgabe
  • Vor dem Ruhestand. Eine Komödie von deutscher Seele. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1979.

Sekundärliteratur

  • Laurent Ancion: Théâtre – „« Avant la retraite ». A Mons Thomas Bernhard traque la haine sous le masque. Auteur hors normes, impressions inédites“. In: Le Soir. 16.10. 2003, S. 26.
  • Joseph A. Federico: Millenarianism, Legitimation, and the National Socialist Universe in Thomas Bernhard’s “Vor dem Ruhestand”. In: Germanic Review 59 (1984) H. 4, S. 142-148.
  • Herzog, Andreas : Vor dem Ruhestand der DDR: Missverständnisse um das komplizierteste Stück Thomas Bernhards. In: Forum Modernes Theater 7 (1992), H. 1, S. 18-35.
  • Dagmar von Hoff: Familiengeheimnisse. Inzest in Literatur und Film der Gegenwart. Köln 2003 (=Literatur, Kultur, Geschlecht : Große Reihe; 28).
  • Hans Höller: Thomas Bernhard: Vor dem Ruhestand. In: Interpretationen: Dramen des 20. Jahrhunderts. Bd. 2. Stuttgart: Reclam 1996, S. 239-259.
  • Kiesenhofer, Anton: Aus Protest und Resignation. Künstlerproblematik und Gesellschaftsanalyse in vier Stücken von Thomas Bernhard: Ein Fest für Boris, Die Jagdgesellschaft, Vor dem Ruhestand, Am Ziel. In: Modern Austrian Literature 21 (1988) H. 3/4, S. 123-134.
  • Krammer, Stefan: "Redet nicht von Schweigen ...". Zu einer Semiotik des Schweigens im dramatischen Werk Thomas Bernhards. Würzburg : Königshausen & Neumann 2003 (= Epistemata : Reihe Literaturwissenschaft ; 436).
  • Martin, Charles W.: The nihilism of Thomas Bernhard. The portrayal of existential and social problems in his prose work. Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1995.
  • Rolf Michaelis: Kunstkrüppel vom Übertreibungsspezialisten. Notizen zu Thomas Bernhards Theaterstücken der Jahre 1974 bis 1982. In: Thomas Bernhard. In: Text + Kritik 43 (1982; zweite, erweiterte Auflage), S. 25-45.
  • Pikulik, Lothar: Heiner Kipphardt: Bruder Eichmann und Thomas Bernhard: Vor dem Ruhestand. Die „Banalität des Bösen“ auf der (Welt-)Bühne. In: Deutsche Gegenwartsdramatik. Bd. I. Hrsg. v. demselben. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987 (=Kleine Vandenhoeck-Reihe; 1520), S. 141-191.
  • Klaus von Schilling: Die Gegenwart der Vergangenheit auf dem Theater. Die Kultur der Bewältigung und ihr Scheitern im politischen Drama von Max Frisch bis Thomas Bernhard. Tübingen: Narr 2001 (=Forum Modernes Theater : Schriftenreihe; 29).
  • Bernhard Sorg:: Das Leben als Falle und Traktat. Zu Thomas Bernhards Der Weltverbesserer. In: In Sachen Thomas Bernhard. Hrsg. v. Kurt Bartsch [u.a.]. Königstein im Taunus: Athenäum 1983, S. 148-157.
  • Thomas Bernhard. Werkgeschichte. Hrsg. v. Jens Dittmar. Zweite, akt. Ausgabe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990. (= Suhrkamp-Taschenbuch; 2002).
  • Von einer Katastrophe in die andere. 13 Gespräche mit Thomas Bernhard. Hrsg. v. Sepp Dreissinger. Weitra : Publication PN°1 1992.
  • Jean-Marie Winkler: L’attente et la fête. Recherches sur le théâtre de Thomas Bernhard. Bern [u.a.]: Lang 1989 (= Contacts: Série 1, Theatrica; 7).