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Bürgerkrieg in Libyen 2011

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Der Aufstand in Libyen 2011, der sich gegen das dort herrschende Regime unter Muammar al-Gaddafi richtet, entstand im Zusammenhang mit einer Welle ähnlicher Proteste in der arabischen Welt und nahm nach den politischen Umstürzen in Tunesien und Ägypten an Schärfe zu. Ab dem 15. Februar eskalierten die Konflikte und führten innerhalb von nur wenigen Tagen zu mehreren hundert Toten. Dabei gingen Einheiten der Polizei und des Militärs mit Schusswaffen gegen Demonstranten vor, es kam zu hunderten Toten. In dem Land ist keine freie Berichterstattung möglich.[1]

Hintergrund

Libyen wird seit 1969 vom autoritär herrschenden Muammar al-Gaddafi regiert. Der Maghreb-Staat wird zu den Ländern mit der am meisten verbreiteten Korruption gezählt.[2] Die Organisation Reporter ohne Grenzen listet Libyen in seiner Rangliste der Pressefreiheit im Jahr 2010 auf dem 160. von 178 Plätzen.[3] Willkürliche Verhaftungen, Misshandlungen und Folterungen von Oppositionellen sind an der Tagesordnung.[4] Die Arbeitslosenquote ist mit (nach dem letzten Zensus von 2009) 20,74 Prozent[5] sehr hoch, sogar im Vergleich zu anderen Maghreb-Staaten (z.B. hatte Tunesien 2009 eine offizielle Arbeitslosenquote von 13,3 Prozent.[6]) Statistiker vermuten, dass ebenso wie in anderen Maghreb-Staaten auch in Libyen die tatsächliche Arbeitslosigkeit noch etwas höher liegt, als in der offiziellen Statistik ausgewiesen. Aufgrund der Erdölvorkommen im Land gibt es eine extrem reiche Oberschicht. Das Land ist Mitglied der OPEC und zählt zu den wichtigsten Gas- und Öllieferanten Europas.[7]

Verlauf

Bei den Protesten wird zum Teil die frühere Flagge Libyens, jenes des Vereinigten Königreichs Libyen, als Oppositionsflagge verwendet.[8][9]

Erste größere Proteste gab es Mitte Januar, als eine aufgebrachte Menge gegen Verzögerungen bei der Errichtung von Sozialbauten demonstrierte und Teile der Gebäude besetzte.[10] Ende Januar rief der prominente libysche Schriftsteller und Oppositionelle Jamal al-Hajji zu Protesten gegen das Regime auf und wurde wenig später verhaftet.[11]

15. Februar

Am 15. Februar versammelten sich Demonstranten nach verschiedenen Aufrufen im Internet in verschiedenen größeren Städten Libyens zu Protestmärschen gegen Korruption und Willkür. In Bengazi, Tripolis, Al-Baida und einigen anderen Städten kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Sicherheitskräften.[12]

Tag des Zorns am 17. Februar

Für den 17. Februar wurde von der Opposition ein Tag des Zorns ausgerufen, was zu Demonstrationen in allen großen libyschen Städten führte. An diesem Tag kamen Dutzende Demonstranten ums Leben. Augenzeugenberichten zufolge gingen Gruppen von bewaffneten Söldnern gezielt und schwer bewaffnet gegen die Bevölkerung vor, Spezialeinheiten der Polizei schossen von Dächern aus in die Menge.[13] Es sollen sogar Panzer gegen Zivilisten eingesetzt worden sein.[14] Das Regime machte ausländische Unruhestifter für die Gewalt verantwortlich.[15]

18. und 19. Februar

In den folgenden Tagen weiteten sich die gewaltsamen Auseinandersetzungen zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen aus. In der Stadt Al-Baida sollen Aufständische nach Kämpfen die Kontrolle übernommen haben.[16] Vereinzelt sollen Sicherheitskräfte und Offiziere der Armee zu den Demonstranten übergelaufen sein. Die Berichterstattung sowie die Kommunikation innerhalb des Landes kam am 19. Februar nahezu gänzlich zum Erliegen, da das Regime die Internet- und Telefonleitungen kappen ließ.[17] Vom 19. bis 20. Februar sollen Berichten eines Krankenhauses zufolge allein in Bengazi Dutzende Menschen getötet worden sein, die Gesamtzahl der Toten stieg auf über 200.[18] Saif al-Islam al-Gaddafi, Sohn von Muammar al-Gaddafi, bezeichnete in einer Fernsehansprache am 20. Februar 2011 die Anzahl Toten von über 200 als übertrieben und gab die Todesopferzahl mit 84 an.[19]

20. Februar

Banghazi soll Berichten zufolge im Laufe des Tages in die Hände von Aufständischen gefallen sein.[20] Am Abend des 20. Februar wurden auch aus der Hauptstadt Tripolis, sowie aus kleineren Städten wie Darna und Tobruk schwere Auseinandersetzungen gemeldet. Ein Sprecher der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch befürchtete angesichts der Eskalation der Gewalt eine „sich anbahnende Katastrophe“.[14]

Der ständige Vertreter Libyens bei der Arabischen Liga Abdel Moneim el Honi gab aus Protest gegen die Gewalt gegen Demonstranten seinen Posten auf und erklärte, er schließe sich der Revolution gegen den Machthaber Gaddafi an.[21]

21. Februar

Augenzeugenberichten zufolge gingen die Auseinandersetzungen in der Hauptstadt Tripolis in der Nacht und am Morgen weiter. In der Nacht sollen Berichten aus Krankenhäusern zufolge über 60 weitere Menschen getötet worden sein.[22] Ein Regierungsgebäude soll in Flammen stehen.[23] Weiteren Berichten zufolge sollen auch die Zentrale des staatlichen Fernsehens und ein Gerichtsgebäude gestürmt und geplündert worden sein.[24] Derweil sollen sich verschiedene Stämme aus dem Landesinneren der Protestbewegung angeschlossen haben. Eine Gruppe führender libyscher Geistlicher veröffentlichte eine Fatwa, in der sie zur Teilnahme an der Revolution gegen die Staatsmacht aufrief.[25] Wie schon am Tag zuvor gibt es Gerüchte, dass Muammar al-Gaddafi das Land verlassen habe.[26] Der britische Außenminster William Hague erklärte, es gebe Hinweise, dass Gaddafi nach Venezuela geflüchtet sei,[27] Der venezolanische Kommunikationsminister Andrés Izarra wies dies in einem Interview zurück.[28]

Verschiedene Länder forderten ihre Staatsangehörigen auf, das Land zu verlassen. Das Auswärtige Amt gab eine Reisewarnung für Libyen aus.[29] Die Preise für Öl, Gold und Silber stiegen infolge der Krise stark an.[30][31]

Aus Protest gegen den exzessiven Gewalteinsatz gegen die unbewaffneten Demonstranten trat der libysche Justizminister Mustafa Abdel-Jalil von seinem Amt zurück.[32] Auch verschiedene libysche Diplomaten legten aus Protest gegen die Gewalt ihre Posten nieder, darunter ein ranghoher Diplomat in China und der Botschafter in Indien,[33] sowie die Botschafter im Vereinigten Königreich und in Indonesien. Der stellvertretende Botschafter Libyens bei den Vereinten Nationen, Ibrahim Dabbashi, erklärte vor Reportern, dass Gaddafi Krieg gegen das libysche Volk erklärt habe und Völkermord verübe. Dabbaschi forderte von der internationalen Gemeinschaft außerdem ein Flugverbot für Libyen auszusprechen, damit das Regime keine weiteren Söldner, Waffen und Vorräte aus dem Ausland nach Libyen schafft. Der Stabschef der libyschen Armee, Generalmajor Abu Bakr Younis Jaber soll zurückgetreten oder unter Hausarrest gestellt worden sein.[34]

Auf dem Flughafen Malta landeten zwei libysche Kampfflugzeuge vom Typ Mirage F1. Die Besatzungen baten um politisches Asyl. Nach Angaben von AFP zufolge sollten die Jets in Bengasi gegen die Demonstranten eingesetzt werden. Bei dem ebenfalls auf dem Flughafen Malta gelandeten zwei Hubschraubern vom Typ AS 332L, handelt es sich um Maschinen der französischen Heli Union, einem Dienstleister für die Offshore-Bohrplattformen.[35] Al Jazeera berichtete über den Einsatz von Kampffliegern gegen Demonstranten in Tripolis;[36] die BBC, dass Gaddafi den Einsatz von Kampffliegern gegen militärische Einrichtungen befohlen habe. Dem US-amerikanischen Think Tank Stratfor (Strategic Forecasting Inc.) zufolge hat es auch Berichte von Angriffen der libyschen Marine auf Ziele an der Küste sowie von einem Befehl Gaddafis gegeben, Soldaten zu exekutieren, die sich geweigert hätten, auf Demonstranten zu schießen.[37]

Stellungnahmen des Regimes

Zu Beginn der Proteste gab das Regime keine Stellungnahmen ab und in den staatlich kontrollierten Medien wurde über die Auseinandersetzungen zunächst nicht berichtet. In einer im Staatsfernsehen übertragenen Rede an die Nation am 20. Februar räumte Saif al-Islam al-Gaddafi, einer der Söhne Muammars und potentieller Nachfolger seines Vaters, ein, dass es Unruhen mit Toten im Land gegeben habe und dass die Armee vereinzelt Fehler gemacht hätte. Er kündigte außerdem einen nationalen Dialog und Reformen an. Die Protestler hätten die Eskalation jedoch zu verantworten, da sie die Sicherheitskräfte und Soldaten angegriffen hätten. Diese Protestler seien eine kleine Minderheit, außerdem Kriminelle und Drogenabhängige, die eine Gefahr für die Gesellschaft seien. Saif al-Gaddafi beschrieb außerdem verschiedene Horrorszenarien, sollten die Proteste weitergehen, darunter einen Zerfall der Einheit des Landes, einen Bürgerkrieg mit zahllosen Opfern, einen Zusammenbruch der Wirtschaft und eine Rückkehr des Kolonialismus. Den arabischen Nachbarstaaten warf er vor, die Konflikte im Land zu schüren und insgeheim über Libyen zu lachen.

Internationale Reaktionen

Am 20. Februar verurteilten die Vereinigten Staaten und die Europäische Union die staatliche Gewalt gegen Demonstrationen. Der deutsche Außen-Staatssekretär Werner Hoyer sprach außerdem von "unglaublichen Vorgängen", die er "mit Empörung" aufnehme.[38]

Eine Koalition aus 42 internationalen Menschenrechtsgruppen forderte die Vereinten Nationen auf, die Mitgliedschaft Libyens im UN-Menschenrechtsrat auszusetzen und eine Untersuchungskommission in das Land zu entsenden.[39]

Am 21. Februar bestellte Bundesaußenminister Westerwelle den Botschafter Libyens, Dschamal el-Barag, in das Auswärtige Amt ein, um gegen das gewalttätige Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten zu protestieren[40].

Einzelnachweise

  1. Cornelia Wegerhoff: Proteste in der arabischen Welt: Libysche Scharfschützen jagen Demonstranten In: tagesschau.de, 20. Februar 2011 
  2. Corruption Perceptions Index 2010: Tabellarisches Ranking, Transparency International, 25. Oktober 2010. Abgerufen am 20. Februar 2011 
  3. Die neue Rangliste 2010! - Rangliste der Pressefreiheit weltweit, Reporter ohne Grenzen, 20. Oktober 2010. Abgerufen am 20. Februar 2011 
  4. Arne Lichtenberg: Situation der Menschenrechte in Libyen, Deutsche Welle, 14. Mai 2010. Abgerufen am 20. Februar 2011 
  5. Libya's jobless rate at 20.7 percent: report, Reuters, März 2009
  6. Tunisia: Unemployment Concerns Raises Political Risks, businessmonitor 2010
  7. Reinhard Baumgarten: Libyen: Wichtiger Erdöllieferant und Diktatur In: tagesschau.de, 20. Februar 2011 
  8. Janathan S. Landay, Warren P. Strobel and Arwa Ibrahim: Violent repression of protests rocks Libya, Bahrain, Yemen. In: The Kansas City Star. 18. Februar 2011, abgerufen am 19. Februar 2011.
  9. Mark Tran: Bahrain in crisis and Middle East protests – live blog. In: The Guardian. 17. Februar 2011, abgerufen am 19. Februar 2011.
  10. Libyans protest over delayed subsidized housing units In: Al-Masry Al-Youm English Edition, 16. Januar 2011. Abgerufen am 20. Februar 2011 (englisch). 
  11. Libyan writer detained following protest call (Memento des Originals vom 8. Februar 2011 auf WebCite), Amnesty International, 8. Februar 2011. Abgerufen am 20. Februar 2011 (englisch). 
  12. Libyan police stations torched (Memento des Originals vom 16. Februar 2011 auf WebCite), Al Jazeera, 16. Februar 2011. Abgerufen am 20. Februar 2011 (englisch). 
  13. Deadly 'day of rage' in Libya, Al Jazeera, 18. Februar 2011. Abgerufen am 20. Februar 2011 (englisch). 
  14. a b Proteste in Libyen: Gaddafi setzt schwere Waffen gegen sein Volk ein In: Spiegel Online, 20. Februar 2011 
  15. Moni Basu, Amir Ahmed, Yousuf Basil, Greg Botelho, Salma Abdelaziz, Zain Verjee, Anderson Cooper, Holly Yan und Mitra Mobasherat: Clashes continue in Libya as protesters attempt to bury the dead In: CNN.com, 20. Februar 2011 (englisch). 
  16. Proteste in Libyen: Gadhafi verliert drittgrößte Stadt des Landes In: Zeit Online, 18. Februar 2011. Abgerufen am 20. Februar 2011 
  17. Aufstände in Arabien: Gaddafi kappt Facebook und Twitter, 19. Februar 2011. Abgerufen am 20. Februar 2011 
  18. Libya unrest: Scores killed in Benghazi 'massacre' In: BBC News, 20. Februar 2011 (englisch). 
  19. Saif al-Islam warnt vor Bürgerkrieg in: Tages-Anzeiger vom 21. Februar 2011
  20. CNN Online vom 20. Februar
  21. Aus Protest gegen Gewalt: Vertreter Libyens bei Arabischer Liga tritt zurück Tagesschau.de online, 20. Februar 2011.
  22. Gaddafi-Gegner zünden Regierungsgebäude an, Spiegel Online, 21. Februar 2011
  23. Libyen: Kampf um Kontrolle der Hauptstadt, ZDF.de, 21. Februar 2011
  24. Gaddafi-Gegner zünden Regierungsgebäude an, Spiegel Online, 21. Februar 2011
  25. Libyan Islamic leaders urge Muslims to rebel, Reuters, 21. Februar 2011
  26. Libyen steht vor Bürgerkrieg - Regierungsgebäude in Tripolis brennt, n-tv.de, 21. Februar 2011
  27. Hague: some information Gaddafi on way to Venezuela, Reuters, 21. Februar 2011
  28. Venezuela bestreitet Gaddafi-Anreise, stern.de, 21. Februar 2011
  29. Auswärtiges Amt warnt vor Reisen in den Osten Libyens
  30. Eskalation in Libyen treibt Ölpreis nach oben Handelsblatt online, 21. Februar 2011.
  31. Gold steigt über Marke von 1.400 Dollar - Silberpreis auf 31-Jahres-Hoch
  32. Libyscher Justizminister zurückgetreten, zeit.de, 21.Februar 2011
  33. Erste Rücktritte in Libyen, taz.de, 21. Februar 2011
  34. Warplanes and Troops Besiege Protesters in Libyan Capital, New York Times, 21. Februar 2011
  35. Malta: Two Libyan fighter jets seen landing, Los Angeles Times, 21. Februar 2011
  36. Reports: Libyan protesters fired on, aljazeera.net, 21. Februar 2011
  37. Unrest and the Libyan Military, stratfor.com, 21. Februar 2011
  38. Proteste gegen Gaddafi erreichen Hauptstadt Tripolis, Die Presse vom 20. Februar
  39. Schwere Zerstörungen in Tripolis, Zeit Online vom 21. Februar
  40. http://www.stern.de/news2/aktuell/westerwelle-bestellt-libyschen-botschafter-in-deutschland-ein-1656379.html