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Religionsanthropologie

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Das Fach Religionsanthropologie[1] ist eine Unterabteilung der Religionswissenschaft und befasst sich im Unterschied zur Religionssoziologie, wie sie von Max Weber zu Beginn des 20. Jahrhunderts begründet wurde, weniger mit der Rolle von Religion in Gesellschaften, sondern vor allem im Individuum in seiner anthropologischen und historischen Entwicklung, insbesondere, was religiöse Grundphänomene wie das Heilige, Glaube, Mythos, Riten oder Symbole sowie die damit zusammenhängenden kognitiven und unbewussten Prozesse angeht. Die Betrachtungsrichtung ist also zu der der Religionssoziologie gegenläufig (Individuum → Gesellschaft, nicht Gesellschaft → Individuum).
Ähnliches gilt für den Unterschied zur ebenfalls der Soziologie, vor allem aber der Ethnologie und Volkskunde nahestehende Kulturanthropologie,[2] die aus der vergleichenden Betrachtung der Gesamtheit empirisch erfassbarer Möglichkeiten der Kulturgestaltung durch den Menschen auf den Menschen als kulturfähiges Wesen insgesamt zurückschließt.[3]
Nicht verwechselt werden darf die Religionsanthropologie hingegen mit der Theologischen Anthropologie, die den Menschen im Rahmen der christlichen Glaubenslehre und seiner Gottesebenbildlichkeit deutet und mit der Christologie eng verbunden ist.[4]

Entstehung und Forschungsgegenstand

Als Mitbegründer gilt Julien Ries, der mit der ab 1989 erschienenen 10-bändigen Reihe „Abhandlung über die Anthropologie des Heiligen (Treatise on the Anthropology of the Sacred)“, zusammen mit über 50 Gelehrten aus der gesamten Welt entscheidend zur Entstehung des Faches in seiner modernen Form beigetragen hat. In der Religionsanthropologie werden Religionsgeschichte, Geschichte, Kulturgeschichte, Vorgeschichte und Paläoanthropologie, Ethnologie und Soziologie eng miteinander verknüpft.[5] Im Zentrum des Interesses stehen dabei das Phänomen des Heiligen und die Anthropologie des Homo religiosus sowie die Rolle, die die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins vor allem bei der Entdeckung der Transzendenz dabei spielte. Mythos und Symbol des so genannten Homo symbolicus, Ritus und Strukturen religiösen Verhaltens sind in diesem Zusammenhang ebenfalls wesentliche Themenkomplexe.[6] Im Unterschied zur thematisch ähnlichen Religionsphänomenologie beschäftigt sich die Religionsanthropologie aber vor allem nicht so sehr mit den abstrakten Phänomenen eines Edmund Husserl, sondern mit ganz konkreten menschlichen Vorgängen, insbesondere mit den frühesten Befunden etwa der Paläoanthropologie, der Archäologie sowie den Ergebnissen der Psychologie und Tiefenpsychologie, und hier insbesondere mit den Ergebnissen der Bewusstseinsforschung. Entsprechend sind Sigmund Freud (etwa in „Totem und Tabu“) und C.G. Jung (z.B. in seiner Archetypenlehre) mit ihren religionspsychologischen Untersuchungen auch wichtiger Vorläufer gewesen, desgleichen Mircea Eliade mit seinen religionsethnologischen Untersuchungen. Julien Ries notiert dazu in „Ursprung der Religionen“:[7]

„Der hermeneutische Ansatz führt den Historiker zur Begegnung mit dem Urheber dieser Tatsachen (Anm.: religiöse Phänomene in ihrer Funktion als Bedeutungsträger), das heißt dem Menschen selbst. Das bedeutet, dass die Hermeneutik die Intervention der Religionsanthropologie fordert. Diese hat in der Tat die Aufgabe, sich mit dem Menschen in seiner Eigenschaft als Schöpfer und Verwender der gesamten sakralen Symbolik zu beschäftigen. Die erst vor kurzem entstandene Religionsanthropologie gehört zur Anthropologie der symbolischen Systeme, mit denen sich die Arbeiten von C.G. Jung, Henry Corbin, Georges Dumézil, Mircea Eliade, André Leroi-Gourhan und Georges Durand beschäftigten“

Julien Ries, 1989

Definition und Hauptsächliche Forschungsbereiche

In enger Verbindung mit Religionsgeschichte, vor allem hinsichtlich ihrer frühesten und frühen Phasen, mit Religionssoziologie und Religionspsychologie beschreibt die Religionsanthropologie die Bedingungen religiösen Erlebens im gläubigen Individuum sowie die Wechselwirkungen zwischen diesem, Gesellschaft und Glaubensgemeinschaft. In der von Julien Ries mit herausgegebenen 10-bändigen Abhandlung über die „Anthropologie des Heiligen“ sind einiger der Themen paradigmatisch präsent:[8] 1. Ursprünge und Repräsentanz des Homo religiosus, 2. Der indoeuropäische Mensch und das Heilige, 3. Die Mittelmeerkulturen und das Heilige, 4. Der religiös Glaubende in der jüdischen, muslimischen und christlichen Religion, 5. Krise, Brüche und Veränderungen, 6. Eingeborenenkulturen in Zentral- und Südamerika, 7. Die Kulturen und Religionen amerikanischer Eingeborenen, 8. Japan. Die großen Religionen im Fernen Osten, 9. China. Die großen Religionen im Fernen Osten, 10. Metamorphosen des Heiligen.
Ries definiert wie folgt:[9]

„Die Religionsanthropologie untersucht den Menschen in seiner Eigenschaft als Schöpfer und Verwender der symbolischen Gesamtheit des Sakralen insofern, als damit religiöse Überzeugungen zum Ausdruck kommen, die sein Leben und sein Verhalten bestimmen. Parallel zur speziellen Religionsanthropologie, die sich mit jeder einzelnen Religion beschäftigt (Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Islam, Christentum) entwickelt sich eine Anthropologie, die sich mit dem Homo religiosus und seinem Verhalten während der Erfahrung des Sakralen beschäftigt.“

Julien Ries, 1989

Insgesamt untersuchen Religionsanthropologen in der eigenen und in fremden Gesellschaften vor allem die im Folgenden auf der Grundlage der wichtigsten Interpretationen von Julien Ries und anderen kurz beschriebene Phänomene und Aspekte.[10]

Alltagsreligiosität und Strukturen religiösen Verhaltens

Die Alltagsreligiosität umschreibt in allen Religionen die praktischen Erscheinungsformen der täglichen religiösen Praxis insgesamt, also Gebete, Opfer, Rituale usw. und zeigt enge Beziehungen zum Brauchtum. Besonders hier ergeben sich starke Überschneidungen zu den anderen Subdiziplinen der Religionswissenschaft, aber auch zur Volkskunde, Ethnologie und zur Psychologie allgemein, zumal der Forschungsgegenstand hier relativ unspezifisch und breit gefächert ist. Dabei gibt es auch Berührungen mit kirchenpolitischen Problemstellungen (vgl. dazu das Zeit-Interview mit dem jüdischen Religionsanthropologen Richard Sosis[11]).

Die Grundstrukturen religiösen Verhaltens[12] bilden jedoch die Basis jeglicher Alltagsreligiosität und sind damit wichtiger Forschungsgegenstand der Religionsanthropologie. Dabei ergeben sich religionsanthropologisch drei Hauptaspekte:[13]

  1. Der Komplex Bild, Symbol und Kreativität: Der Raum für symbolhafte Erfahrungen öffnet sich über Bilder, die von Objekten der Außenwelt stammen, zum Beispiel Himmel, Sonne, Sterne, Tiere, Pflanzen, Berge usw. Nach Eliade funktioniert das Symbol nicht mit Objekten, sondern mit Bildern. Diese Bilder wiederum wirken auf das Bewusstsein und aktivieren Urbilder (Archetypus), also uranfängliche Muster, die im individuellen und kollektiven Unbewussten existieren als offenbar angeborene standardisierte neuronale Muster, die sich evolutionär im Zusammenhang mit der Entwicklung kognitiver Fähigkeiten entwickelten und ähnlich wie andere Eigenschaften des Menschen als günstige Faktoren im Genom verankert wurden.[14] Werden diese so archetypisch verankerten Symbole angesprochen, aktivieren sie wiederum psychische Kräfte aus dem Unbewussten, und das Bewusstsein beginnt nach den Entsprechungen und Wurzeln zu suchen, die mit den Archetypen korrelieren. Kreativität entsteht durch diese Dynamik aus der Einheit des Urbildes, das aus ihrem Zentrum heraus expandiert.
    Datei:Circumcision Sakkara 2.jpg
    Beschneidung bei Erwachsenen. Wandmalerei aus Sakkara, Grab des Ankhmahor, Sakkara. 2350-2000 B.C., 6. Dynastie. Es ist dies die älteste bekannte Darstellung einer Beschneidung, ein sehr alter Initiationsritus.
  2. Vorstellungswelt: Damit gemeint ist die Gesamtheit der Bilder und ihrer Beziehungen, die im Homo sapiens auf diese Weise entstanden sind. Sie ist durch einen ordnenden Dynamismus geprägt, der auf der Basis der ursprünglichen Einheit und im Rahmen der bestehenden und darauf rückwirkenden Umweltbedingungen nach Systematik sucht. Es entwickelt sich ein unaufhörlicher Austausch zwischen beiden Ebenen: der der subjektiven Aneignung und der der objektiven Anregungen und Forderungen, die dem kosmischen und realen Umfeld entstammen. Damit sind im menschlichen Seelenleben stets zwei Faktoren wirksam: das Seelenleben selbst und seine Mechanismen, welche das Bild des Objektes in sich aufnehmen und interpretieren und die Reaktionen der objektiven Umwelt, die das Seelenleben beeinflussen.
  3. Der dritte Hauptfaktor ist nach Ries die Initiation: Sie gewährt erst einen Zugang zum religiösen Erbe, das sich in Jahrtausenden gebildet hat und im kollektiven Gedächtnis erhalten geblieben ist. Die Initiation ist eine Offenbarung, die zur Teilhabe an diesem Erbe und seinen Weisheiten führt. Es umfasst Mythen, Symbole, Riten, Glaubensinhalte, Ideen und Vorstellungen, heilige Schriften, Tempel und Heiligtümer und ist sowohl religiöses wie kulturelles Erbe. Die Initiations-Tradition ist mit ihren sozialen, kulturellen und religiösen Strukturen für den Homo religiosus unabdingbar, denn sie ermöglicht ihm erst, neue Erfahrungen des Sakralen zu erleben. Entsprechend sind Initiationen weltweit in allen Religionen präsent und bilden einen zentralen Teil des rituellen Bestandes vor allem als Übergangsriten wie Geburt, Beschneidung, Mannbarkeit, Taufe, bei Bestattungen, Heiraten usw.

Entstehen und Wirken religiöser Symbolik

Eines der bekanntesten Symbole ist das taoistische Yin und Yang, das die kosmologische Dualität umschreibt.

Es gibt mehrere Definitionen des Begriffes Symbol. Beispiele: 1. Ein konkretes Zeichen, das durch eine natürliche Beziehung etwas Abwesendes oder etwas Anderes wachruft, das man nicht wahrnehmen kann. (André Lalande); 2. Das Symbol ist ein Abbild, das einen geheimen Sinn hervortreten lässt, es ist die Epiphanie eines Mysteriums. (Georges Durand)[15]; 3. Die sichtbare Darstellung von etwas Unsichtbarem. (Natale Spineto)[16]; 4. Eine spezifische Art von Zeichen, das seine Bedeutung assoziativ zur Anschauung bringt. [17]; 5. Symbolik umschreibt dabei den Sinnbildgehalt einer Darstellung, bzw. einen durch Symbole dargestellten Sinngehalt.[18]
Religionsanthropologisch haben Symbole vor allem drei Funktionen:

  1. Eine biologische: Bilder, die von Gegenständen und Handlungen ausgehen führen im Bewusstsein eine Einheitlichkeit ein, die wiederum zu einer schöpferischen Dynamik führt. Alle Kulturleistungen beruhen darauf. Über das Symbol spricht die Welt mit dem Menschen und enthüllt die sonst nicht erkennbaren Modalitäten des Realen.
  2. Das Symbol hat eine wichtige Funktion im menschlichen Seelenleben, denn es stellt eine Verbindung zwischen Bewusstem und Unbewusstem her und verleiht dem Bewusstsein die Kraft, das Unbewusste zu leiten und bis zur Wurzel der Archetypen, also die universal gültigen Bilder nach C.G. Jung.
  3. Das Symbol gibt dem Bewusstsein auch das Mittel, eine Verbindung zum „Überbewussten“ herzustellen, was für den Menschen die Entdeckung der Transzendenz bedeutet und ihn als Homo religiosus kennzeichnet.

Da jedes Symbol drei Elemente enthält, das Unsichtbare, das dessen Erscheinung vermittelnde Medium und das Sakrale, spielt es auch für die Hierophanie eine zentrale Rolle. Durch den Mittler (Stein, Baum, Tier, Mensch etc.) als sichtbaren Teil vollzieht sich die Erscheinung des Unsichtbaren, die Offenbarung des Heiligen. Nach Eliade sind Struktur und Funktion der Symbole grundlegende Gegebenheiten für die Erfahrung des Heiligen.[19]
Symbolische Zeichen lassen sich allerdings nur entschlüsseln, wenn sie entweder hinreichend eindeutig sind oder wenn man die religiösen Hintergründe kennt, auf die sie sich beziehen. André Leroi-Gourhan hat diesen allerdings spekulativen und umstrittenen Versuch für die Symbole der Frankokantabrischen Höhlenkunst unternommen.[20] Fehlt die Kenntnis diese Hintergründe aber, ist die wichtigste Feststellung, dass diese Symbole überhaupt vorhanden sind und damit Rückschlüsse auf die generelle Funktion des damaligen menschlichen Seelenlebens zulassen. [21]

Glaubenssysteme, Mythen und Mythogramme

Felsmalerei der Aborigines Australiens, Anbangbang-Abri, Kakadu National Park, Australien. Sie zeigt im Röntgenstil Namondjok, einen mythischen Ahnen, mit seiner Frau Barrginj darunter. Rechts der Blitzmann Namarrgon, darunter eine Gruppe Frauen und Männer mit zeremonieller Haartracht. Eine Darstellung der Traumzeit, in der die Verbindung zwischen Jetztzeit und mythischer Ahnenzeit gezeigt werden soll.
Mythogramme aus der nordspanischen La-Pasiega-Höhle, sog. Tectiforme.

Beim Mythos handelt es sich um „eine Geschichte, über Ereignisse, welche die Ursprünge betreffen und in der das Einbrechen des Sakralen in diese Welt beschrieben ist. Die Geschichte hat die Aufgabe, den Menschen Modelle für die Führung des eigenen Lebens zu liefern. Der Mythos stellt als Sinnträger Denk- und Handlungsmuster dar, die es dem Menschen erlauben, sich in der Welt zurecht zu finden. Er ist eine heilige und exemplarische Geschichte für das Leben der Menschen und der Völker.“[15] Mythen haben eine symbolische Struktur, und es ergeben sich religionsanthropologisch vor allem drei Aspekte:[22]

  1. Mit ihrer Hilfe interpretiert der Mensch die Beziehungen zwischen der aktuellen Zeit und der Zeit der Anfänge, die meist als Goldenes Zeitalter dargestellt werden.
  2. Die Wiederherstellung dieses Goldenen Zeitalters bzw. die Sehnsucht danach ist wiederum ist Grundlage der menschlichen Bemühungen ritueller Bemühungen, eine Verbindung dazu wieder herzustellen.
  3. Der Mythos bestimmt durch seine Botschaften das Verhalten der Menschen im täglichen Leben durch Nachahmung von Vorbildern, die wiederum auf Archetypen beruhen. So verliehen etwa Agrarmythen beim Neujahrsfest der Natur und Vegetation Leben und waren Ursprung der Fruchtbarkeit.

Das Mythogramm (Ries) ist ein „für das Jungpaläolithikum charakteristisches System der Darstellung, das ohne erzählenden Duktus eine Botschaft vermittelt. Die Botschaft benötigte einen Schlüssel, das heißt die Erzählung eines Mythos, dessen Elemente wir verloren haben. Die Mythogramme stellen das Wesen der Struktur der Frankokantabrischen Höhlenmalereien dar“,[15] in der sie erstmal vermehrt auftauchen. Mythogramme sind somit Zeichen von existierenden Mythen, die wiederum auf existierende Glaubenssysteme verweisen.[23]

Glaubenssysteme beinhalten stets solche Mythen und auf sie bezogene Mythogramme. Die Systematisierung eines Glaubens, das heißt die letztlich auch machtpolitisch relevante Verknüpfung von Mythen, ist allerdings typisch für entwickeltere Kulturen und Hochkulturen und dem Wesen nach vor allem Gegenstand der Religionssoziologie. Die Hierophanie und Epiphanie münden hier in die Theophanie.

Aufbau und das Funktionieren von Ritualen und Institutionen

Der Ritus[24] (Ritual und Ritus werden in der Religionswissenschaft weitgehend synonym verwendet) steht im Schnittpunkt von Mensch, Kultur, Gesellschaft und Religion und ist eine Handlung, die der Geist erdacht, der Wille entschieden und der Körper mit Hilfe von Worten und Gesten ausgeführt hat. Er hat seine Platz im Kontext einer Gesamtheit von Hierophanien und hängt mit der mittelbaren Erfahrung des Übernatürlichen zusammen. Er versucht ein Verbindung mit einer Realität herzustellen, die über diese direkt erfahrbare Welt hinaus reicht. Die rituelle Handlung ist stets an eine Symbolstruktur gebunden, mit deren Hilfe der Mensch den Übergang vom Bedeutungsträger zum Bedeuteten bewerkstelligt, vom Zeichen zum Sein.[15] Es ergeben sich 3 Grundbedeutungen:

  1. Ritus drückt auf der Grundlage archetypischer Urbilder, wie sie C.G. Jung konzipiert hat, mit Hilfe einer Symbolsprache grundlegende Gegenenheiten des Lebens aus. Nach Mircea Eliade kann man aber auch ohne Rückgriff auf das kollektive Unbewusste von einem „Urmodell“ sprechen, wie es sich vor allem in den ersten Religionen des Nahen Ostens manifestierte. Dabei wird eine reale Gegebenheit, ein Objekt usw. durch Rückgriff auf das himmlische Modell sakralisiert. Jedes irdische Phänomen entspricht einer himmlischen Realität. Maße von Bauten und Tempeln, regionale Bezeichnungen, Handlungsabläufe usw. erhalten so kosmische Bezüge.
  2. Die zweite archetypische Komponente manifestiert sich in der Symbolik des Zentrums: kosmischer Berg, Erdmitte, sakraler Raum, Weltenbaum, Fluss der Unterwelt.
  3. Die dritte Komponente ist das göttliche Vorbild, das der Mensch nachahmen muss. Fruchtbarkeitsriten sind ein Beispiel dafür, sie bewirken durch Einhaltung der der sakralen Riten Wachsen und Gedeihen.

Durch die Rituale erlebten die Menschen eine Erfahrung des Sakralen in Beziehung zur göttlichern Welt Dabei gilt es einen wesentlichen Unterschied zwischen magischen und religiösen Ritualen zu beachten: Die Magie wird vom Wunsch nach Beherrschung mit Hilfe bestimmter kosmischer Kräfte beherrscht, während sich die Religion der Transzendenz zuwendet. Religiöse Riten sind im Kontext der Hierophanie wirksam, während magische Riten Kräfte zu Hilfe rufen, die keine Beziehung zum Sakralen haben (vgl. dazu auch Schamanismus).

Handnegative in der Gragas-Höhle als Zeichen einer rituellen Präsenz und körperlichen Verbindung mit dem Jenseitigen, hinter den Höhlenwänden Liegenden (vgl. Frankokantabrische Höhlenkunst).ref>Lewis-Willaims, S. 216–220.</ref>

Funktion religiöser Riten: Sie stehen innerhalb eienes symbolischen Ausdrucks, durch den der Mensch einen Kontakt mit der transzendenten Realität sucht. Der Ritus setzt sich aus Technik und Symbolik zusammen. Die Technik besteht aus Gesten, Handlungen, verbalen Äußerungen usw.; sie hat die Aufgabe, einen Weg in die ontologische Realität zu öffnen, vom Sinnträger zum Sein.
Entwicklungsgeschichte:

  • Die ersten Riten sind mittelpaläolithisch als Bestattungsriten des Neanderthalers in Qafzeh erschlossen oder doch zumindest wahrscheinlich.
  • Im Jungpaläolithikum sind sie vor allem in der Frankokantabrischen Höhlenkunst nachweisbar. Trittspuren werden als Überbleibsel von Initiationsriten gedeutet, desgleichen Handnegative und Handpoisitive an den Wänden, desgleichen allerdings seltene Mensch-Tier-Darstellungen, die verschiedentlich als Schamanen gedeutet werden.
  • Im Neolithikum finden sich vor allem in Valcamonica die ersten Adoranten mit betend zum Himmel aufgereckten Armen. Bei den Sumerern findet sich Entsprechendes. Seit dem 3. Jahrtausend weisen die mesopotamischen und ägyptischen Hochkulturen dann zahlreiche Belege etwa von Weiheriten auf.
  • Bei den großen Religionen schließlich gibt es eine Vielfalt von Riten, vor allem Opferungen, die gleichzeitig mit den ersten Tempeln, Kultstätten und Altären nachweisbar sind als Zeichen einer privilegierten Beziehung zwischen Mensch und Göttern, bei der durch Opferung diese Bindung immer wieder erneuert wird.

Im Gefolge dieser Ritualisierung des religiösen Lebens entstanden dann auch die ersten Institutionen.

  • Vorbedingungen und Anfänge: Als primäre Voraussetzung der Entstehung des Homo religiosus gilt neben der Fähigkeit zu komplexeren Abstraktionen vor allem die Fähigkeit zur Lautsprache, wie sie paläoanthropologisch bereits für den Homo erectus vor spätesten 400.000 Jahren mit Sicherheit nachgewiesen werden kann (Form des knöchernen Gaumens, Zungenbein, Hirnschädelausgüsse), deren Entstehungsmechanismen aber bis heute nicht geklärt sind. Institutionsähnliche Organisationsformen, die zunächst rein sozialer Art waren (Familiengruppe, Horde), konnten sich nur über sprachliche Mittel zu der Flexibilität und Komplexität entwickeln, die für die Entstehung von religiösen Gedankensystemen und die daraus hervorgegangenen Institutionen unabdingbar sind. sie führten aber für sich genommen noch nicht zur Bildung von auch nur rudimentären religiösen Institutionen, allenfalls zu vor allem sozial bestimmten gruppendynamischen Prozessen, die über die rein soziobiologischen des Tier-Mensch-Übergangsfeldes und des Vor- und Frühmenschen hinaus gehen, allerdings die strukturellen Voraussetzungen liefern für die später nachweisbaren religiösen Entwicklungen.[25]
  • Die ersten Nachweise für eine Existenz eigentlicher Systeme und Institutionen lassen sich erst aus der jungneolithischen Höhlenkunst mit Sicherheit ableiten, die nur im Zusammenhang mit einer sich differenzierenden Gesellschaft mit überregionaler Bedeutung möglich war, die zudem bereits arbeitsteilig und spezialisiert funktionierte, ein rudimentäres Ausbildungssystem besaß und über Riten verfügte, etwa Jagd- und Initiationszeremonien und damit vermutlich auch über Mythen, das belegt die überlieferte Höhlenkunst mit relativ großer Sicherheit. Die Struktur dieser frühest nachweisbaren Religiosität war vermutlich schamanisch.[26].
  • Im Neolithikum finden sich schließlich schon sehr früh Belege, die auf die Existenz einfacherer religiöser Institutionen hinweisen, wie die Beispiele von Göbekli Tepe und später von Catal Hüyük und Jericho zeigen. Hier haben sich die Riten nun derart vervielfacht und wurden mit einem so reichen Symbolgehalt versehen, dass auf eine zunehmende Professionalisierung und Institutionalisierung des religiösen Verhaltens geschlossen werden kann. Auch das Auftreten der nur durch enorme kollektive Anstrengungen realisierbaren Megalithkultur in Europa und dem Vorderen Orient, die eine institutionalisierte religiöse und politische Führung voraussetzt, weist in diese Richtung.[27]

Transzendentale Phänomene

Camille Flammarion: L'Atmosphere: Météorologie Populaire (Paris, 1888). Der Holzschnitt zeigt symbolisch die Transzendenz des Menschen, der hier aus der irdischen Atmosphäre heraus blickt, um wie durch einen Vorhang das innere Wirkungsprinzip des Universums zu schauen.

Die Religionsanthropologie beschäftigt sich intensiv mit der Suche nach dem Ursprung der Transzendenz, die hier aber nicht wie etwa bei Platon, in der Scholastik oder bei Immanuel Kant und Heidegger philosophisch abstrakt zu verstehen ist, sondern anthropologisch-kognitiv. Untersucht wird außer ihrer potentiellen Entstehung vor allem der Umgang mit den Phänomenen wie Symbol, Heiliges, Mythos usw., die mit ihr einhergehen und religionsanthropologisch von Interesse sind.[28]
Transzendenz in diesem Sinne ist somit die kognitive Fähigkeit zur Überschreitung der Seins- und Erfahrungsbereiche. Sie hat ihren Ursprung in der ontologischen Zweiteilung der Welt (Dualismus), die offenbar zwangsläufig entstand, als bei der Weltbetrachtung zwischen Verstandenem und Unverstandenem geschieden werden musste. Dabei entwickelte sich kognitiv wie real ein „logisch-ontologischer Bereich, der seine Geltung nicht aus der sinnlichen Erfahrungswelt bezog, und ihr gegenüber also transzendent ist, andererseits aber zu ihr einen sinnstiftenden Bezug hat und insofern zugleich immanent ist, für sie seiend und aus ihr erkennbar oder erfahrbar, ohne von ihr zu sein“.[29]
Die Werkzeugproduktion des frühesten Menschen (Homo habilis, Homo erectus) erforderte bereits diese Fähigkeit, ein bestimmtes abstraktes Ziel in die Form und damit Wirkung eines bestimmten Werkzeuges umzusetzen, also zu imaginieren, wie es funktionieren würde/sollte. Dazu ist die Fähigkeit zur Symbolbildung erforderlich. Diese Fähigkeit wurde, so Ries, dann bald auch auf die nicht oder schlecht verstandenen Erscheinungen der Umgebung übertragen, also Himmel, Sterne, Mond, Sonne, Wetter, aber auch Wachsen und Sterben. Der frühe Mensch hat diese zentrale Fähigkeit jedoch nicht auf verstandesmäßigem Weg, sondern durch das Spiel seiner Vorstellungkraft entdeckt und dann nach und nach perfektioniert. Mythen, die ja komplexe Symbolsysteme darstellen, spielten damals vermutlich noch keine Rolle, sind als Möglichkeit erst im Jungpaläolithikum und seiner Felskunst nachweisbar und treten zunächst wohl als Symbolismus der Himmelskuppel auf, die dem frühen Menschen seine erste Erfahrung des Heiligen ermöglichte, wie vor allem Eliade postulierte, nach dem schon das einfache Betrachten des Himmelsgewölbes im Bewusstsein des archaischen Menschen eine Erfahrung des Heiligen bewirkte, da die Höhe eine dem Mensch unzugängliche Dimension darstellt und die Gestirne dadurch den Nimbus des Unzugänglichen, Transzendenten erhielten, etwas, das unerreichbar, doch ungeheuer mächtig war.[30]
Die Forschung hat hier vor allem 4 Quellen:.[31]

  1. Die Untersuchung der schriftlosen Völker vor allem durch Ethnologen und Anthropologen, die Belege für einen sehr alten Symbolismus der Himmelkuppel mit Astralmythen ergaben. Die Begriffe für Himmel und Gott sind bei ihnen oft identisch.
  2. Die Untersuchung der ersten großen Religionen in Ägypten und Mesopotamien, später auch der indoeuropäischen Völker. Auch bei ihnen ist der Symbolismus der Himmelskuppel von überragender Bedeutung. Tag- und Nachthimmel haben religiöse Funktion.
  3. Felsinschriften. Sie liefern reichliches Material etwa durch die Darstellung betender Menschen (Adoranten).
  4. Die nun stark zunehmenden Riten des Neolithikums: Bestattungsriten sind jetzt ausgeprägt und weisen auf den Glauben an ein Leben nach dem Tode hin. Feuerrituale und andere Riten belegen Religiosität und das Bewusstsein einer Transzendenz.

Das Heilige

Grabkammer des Thutmosis III. in Theben-West: Der König wird vom Heiligen Baum gesäugt (um 1500–1450 v. Chr.). Der Baum hat einen Arm, an dem sich der Pharao festhält, und bietet ihm gleichzeitig eine Brust, damit er sich von seinem Saft ernähren kann, den nur eine Gottheit zu spenden vermag.[32]

Entstehung, Konstitution und Abgrenzung des Heiligen zum Profanen sind die hauptsächlichen religionsanthropologischen Untersuchungsgegenstände.[33]
Hier sind vor allem zwei Begriffe und Konzepte von Bedeutung:[15]

  • Das Heilige oder Sakrale bzw. Numinose: Es ist dies die menschliche Fähigkeit, das Göttliche zu erfassen. Die Etymologie von „sakral“ mit der Wurzel *sak- führt über das lateinische Verb sancire zur Bedeutung „Gültigkeit, Realität verleihen, etwas real werden lassen“. Damit ist die grundlegende Struktur der Dinge und Lebewesen gemeint. Es ist ein gleichzeitig metaphysischer wie theologischer Begriff, dessen religiöse und kulturelle Färbung bei den verschiedenen Völkern spezifisch ausfällt. Es manifestiert sich als Macht, die ganz anders ist als die Ordnung der Natur. Die universelle Erfahrung des Heiligen impliziert somit die Entdeckung einer absoluten Realität, die der Mensch als Transzendenz wahrnimmt. Seine Terminologie wurde allerdings erst von den Menschen der Hochkulturen geschaffen, doch ist es mit Sicherheit als Phänomen weit älter und steht am Anfang der inneren Erfahrung von Religion.[15] Die Erkenntnis des Heiligen verläuft dabei nach Rudolf Otto in 4 vor allem emotional bestimmte Stufen:
  1. Das Gefühl, ein Geschöpf zu sein.
  2. Der Schrecken darüber (tremendum).
  3. Das Gefühl des Mysteriums.
  4. Die Faszination der Entdeckung (fascinans).[34]
  • Die Hierophanie als Manifestation des Heiligen: Der Begriff wurde 1949 von Mircea Eliade geprägt als „Aufscheinen des Heiligen im Profanen“. Das Heilige erscheint in der Welt der Phänomene und kann vom Menschen wahrgenommen werden. Es ist das zentrale Element in der Welt der Religion. Dabei spielen vier Faktoren eine Rolle:
  1. Der Gegenstand oder das Wesen, mit dessen Hilfe sich das Heilige mainfestiert.
  2. Die unsichtbare Realität, welche diese Welt transzendiert.
  3. Das „ganz Andere“, „Göttliche“, „Numinose“.
  4. Das zentrale vermittelnde Element, also das Wesen oder der Gegenstand, der die neue Dimension des Sakralen enthält. Beim Menschen kann das der Priester, der Prophet, Schamane oder Seher usw. sein. Ist es ein Ding, etwa ein heiliger Baum, bleibt dieser zwar ein Baum, doch hat sich die Beziehung des Homo religiosus zu ihm verändert.[15]

Der Begriff des Heiligen ist allerdings nicht eindeutig definiert. Es gibt mehrere Varianten:[35]

  • Die Definition Ottos orientiert sich vor allem an christlich-jüdischen Prämissen und transzendental-philosophischen Ansätzen.
  • Hingegen wertet vor allem die deutsche Religionsphänomenologie die Kategorie des Heiligen als nicht eigentlich definierbar und als „erlebnishafte Begegnung des Menschen mit heiliger Wirklichkeit“ (Gustav Mensching).
  • Mircea Eliade hat dann in Fortführung der romantischen Offenbarungstheologie und mit Bezug auf Otto die Auffassung von der kontinuierlichen Offenbarung des Heiligen (Hierophanie) vertreten.
  • Die empirisch orientierte Religiosnwissenschaft geht wiederum von der Beoabachtung aus, dass Kulturen unterschiedliche Dinge oder Sachverhalte zu unterschiedlichen Zeiten als heilig einordnen.
  • Émile Durkheim hat den Dualismus heilig vs. profan zur Grundstruktur der Religion erklärt, eine Dichotomie, die die Religionssoziologie dann aufgriff.
  • Die Kulturanthropologie konnte allerdings nachweisen, dass diese oppositionelle Paarung so nicht ausreichend ist für die Erklärung von Religionen und dass der jeweilige kulturspezifische Zusammenhang ebenfalls berücksichtigt werden muss.
  • Ken Wilber verweist in diesem Zusammenhang auf die menschliche Fähigkeit zur Ich-Transzendenz, wie sie vor allem in den mystisch geprägten östlichen Religionen, aber auch die Mystiker des Westens praktiziert wurde und wird, wobei eine höherer Bewusstseinszustand erreicht wird, der auch die intensive Wahrnehmung des Heiligen, ja sogar sein Aufgehen in ihm beinhaltet.[36]
  • Die moderne Neurotheologie schließlich versucht, Gott und damit das Heilige in bestimmten Hirnregionen zu lokalisieren, ohne allerdings die Frage zu beantworten, wie es dahin gekommen ist.

Theophanie und Institutionalisierung von Religion

Archaische Muttergottheit aus Catal Hüyük. Sie wird von zwei Löwen flankiert. Neolithikum ca. 6000-5500 v.Chr.

Theophanie wird hier als kulturhistorischer Vorgang angesehen, obwohl sie gerne von den mononotheistischenRreligionen alleine beansprucht wird. Sie ist eine entscheidendes Verbindungsglied zur Insatitutionalisiuerung von Religionen, denn wo der Gott „geschaut“ wird entstehen nach und nach auch Spezialisten und Institutionen, die für sich eien besondere Rolle in diesem Zusammenhang in Anspruch nehmen.[37]

  • Theophanie: Am Ende des Natoufien, am Vorabend der Entwicklung der Landwirtschaft, steht die „Geburt der Götter“, und Tiermythen werden offenbar nach und nach zu Agrarmythen transformiert oder durch sie ersetzt.[38]. Die Frankokantabrische Höhlenkunst war nach den Felsbildern zu urteilen eine Tierkunst gewesen, Menschendarstellungen sind sowohl als Höhlemalereien wie als Plastiken sehr selten. Ab dem 8. Jahrtausend v.Chr. finden sich dann in Mesopotamien weibliche Figuren, die nun überall auftreten und immer häufiger werden, so dass manche ForscherInnen (z.B. Marija Gimbutas) daraus schon den Schluss gezogen haben, es handle sich nicht nur um einen Kult neolithischer Göttinen,[39] sondern um die Darstellung der „Großen orientalischen Göttin“, der Magna Mater, und die Trägerkulturen seien matriarchalisch bestimmt gewesen. Gegen 7000 v.Chr. gesellt sich dann eine zweite männliche Figur hinzu, aber erst im 6. Jahrtausend finden sich in Catal Hüyük eindeutige Zeichen dieser oft als Stier dargestellten männlichen Gottheit als Teil eines Pantheons.
  • Endgültige Institutionalisierung: Vor allem die Sesshaftwerdung zusammen mit einem stark an Vegetationsrhythmen orientierten Weltbild boten die Voraussetzungen für die Entstehung immer differenziertere, zunächst lokaler Religionssysteme, die sich nun auch in einer Professionalisierung der Akteure und einer Etablierungen fester Heiligtümer äußerte, die weit über die von ganz anderen Kriterien bestimmte Rolle des Schamanen im Jungpaläolithikum hinaus ging. Religionsanthropologisch wird hier die Frage gestellt, warum dies so war, warum die damaligen Menschen sich diese immer stärkeren Machtansprüche nicht nur gefallen ließen, sondern sie auch entwickelten. Diese Ansprüche waren zudem nicht nur auf das Diesseits bezogen, das war ja nun nachvollziehbar z.B. wegen des Schutzes der Menschen, Felder, Herden, Häuser, Gerätschaften und Vorräte etc. etwa vor marodierenden Nomaden, sondern sie waren auch metaphysisch begründet und reichten teilweise mit Etablierung eines späteren Totengerichtes vor allem in Hochkulturen bis über den Tod hinaus, der nun ebenfalls einen neuen Stellenwert erhielt und in vegetationsmythische Zusammenhänge mit einbezogen wurde. Dass immer stärker geschichtete, nicht mehr egalitäre Gesellschaften solche Verhaltensweisen fördern oder gar erzwingen, gilt als wahrscheinlich, dass es dabei zu einer immer stärkeren Instrumentalisierung der Furcht vor dem Heiligen kommt, die nach Otto ja essentiell ist (s.o.), ebenso.

Entstehung des religiösen Bewusstseins und des Homo religiosus

Dabei ergeben sich 6 Etappen:[40]

  • Als 1. Etappe gilt die Entdeckung der Transzendenz: Die Vorstellungswelt des frühen Menschen, der sich einen als Kultur zu bezeichnenden Lebensraum schuf, seine Umwelt zu verstehen suchte und dabei Fragen nach dem eigenen Schicksal stellte schöpfte nach Ries aus 5 Symbolen, mit dene sich bei ihm die erste Erfahrung des Heiligen in Gestalt der von Eliade so genannten Hierophanie verbindet, und sie hat die Ausbildung einer ersten, noch unvollständigen Kultur zur Folge:
  1. dem Himmelgewölbe bei Tag und Nacht,
  2. der Sonne und ihrem Lauf,
  3. dem Mond und seiner Veränderlichkeit und den Sternen und ihren Bahnen,
  4. den Symbolen von Erde und Fruchtbarkeit,
  5. den Symbolen der Umwelt wie Wetter, Wasser, Berge, Bäume.
Datei:Bautzen Großwelka - Sauriergarten - Neandertaler 01 ies.jpg
Rekonstruktion eines Neanderthal-Begräbnisses.
  • Die 2. Etappe ergab sich durch das Nachdenken über den Tod, damit aber auch über das Geheimnis des Lebens nach dem Tod. Eindeutige Nachweise hierfür sind die ersten Bestattungsrituale etwa der Neandertaler bei Qafzeh. Sie zeigen von Gefühlen des Miterlebens und der Zuneigung, insbesondere durch Grabbeigaben und Manipulationen am und Schutzmaßnahmen für den Leichnam. Direkte Schlüsse über die Haltung zum Leben anch dem Tode können hier jedoch noch nicht sicher gezogen werden. Jedoch kann man auf einen Wachstum des Bewusstseins in diesem Zusammenhang schließen, das sich beim darauf folgenden Homo sapiens sapiens noch verstärkt haben müsste. Solche Bestattungsriten sind jedenfalls bis ins Jungpaläolithikum eindeutig nachweisbar. Sie gelten als reltiv sicherer Nachweis auf die stark zunehmende Fähigkeit zur Transzendenz.
  • Die 3. Etappe ist durch das Auftreten der Frankokantabrischen Höhlenkunst gekennzeichnet, deren Kernbereich sich über 20.000 Jahre erstreckt. Mythogramme sind ihr besonderes Kennzeichen. Obwohl man ihre genauen Inhalte nicht mehr erschließen kann, sind sie doch zusammen mit der reichen Bildsymbolik ein Merkmal, das auf das Vorhandensein von Mythen hinweist, die wiederum ihren praktischen Niederschlag in Riten, seien es nun Initiations- oder Jagdriten, fanden. Erstmal gibt es damit heilige Geschichten, die im Clan tradiert werden. Das religiöse Bewusstsein hat sich damit auf individueller wie auf immer breiterer kollektiver Basis stark erweitert.
  • Die 4. Etappe setzt mit dem Übergang zum frühen Neolithikums ein, das in Palästina epipaläolithisch als Übergangskultur des Natoufien auftritt. Erste Darstellungen der Gottheit finden sich nun, zunächst meist nur weibliche, später als männliches Göttersymbol auch der Stier. Der französische Frühgeschichtler Jacques Cauvin wies bereits 1987 darauf hin,[41] dass es sich dabei nicht bloß um eien einfache Form der Transzendenz und des Göttlichen handelt, sondern um dessen sambolische Umsetzung und Darstellung. Erstmal manifestiert sich damit sichtbar die Beziehung des Menschen zur Gottheit und damit eien völlig neue Qualität im Bewusstsaein des Homo religiosus. Erstmals treten nun Menschen in Gebetshaltung mit gegen den Himmel gestreckten Händen auf (sog. Adoranttenhaltung), ein absolutes Novum.
  • Die 5. Etappe beinhaltet die Personifizierung des Göttliche und dessen symbolische Darstellunf durch Statuen, wobei in der Folge Tempel und Heiligtümer entstehen, wo die Begenung mit den Göttern stattfinden kann. Dies ist vor allem in den frühen Hochkulturen wie Ägypten und Mesopotamien der Fall. Es entstehen Priesterkasten. Der Tempel ist die Wohnung der Gottheit, wo ihm umfangreiche Opfer dargebracht werden. Gebetstexte werden niedergelegt, heilige Texte entstehen. Der menschliche Bereich isoliert sich damit aber auch gleichzeitig vom heiligen. Eine Distanzierung wird wahrnehmbar, die in späteren Kulturen wie der griechischen und römischen sogar im Rahmen eienr Säkuularisierung zu einer gewissen Götterverachtung führt.
  • Die 6. Etappe zeigt nach Ries, der hier allerdings den katholischen Priester nicht verleugnen kann, mit dem Wachstum der großen monotheistischen Religionen schließlich die Entdeckung eines einzelnen allmächtigen personalen Wesens und Weltenschöpfers, das sich offenbart, sich direkt und fordernd in das Leben seiner Gläubigen einmischt, Unterwerfung verlangt und Boten wie Christus und Mohammed aussendet. Damit ist aber auch die Phase der christlichen Theophanie erreicht, die sich von der der früherer und anderer Religionen durch einen elementaren Absolutheitsanspruch unterscheidet.
  1. Beachte, dass im englischsprachigen Bereich religious/religion anthropology gewöhnlich im Sinne von Religionssoziologie verwendet wird.
  2. Dieser deutsche Begriff hat ebenfalls im Amerikanischen eine abweichende Bedeutung, wo cultural anthropology oder im Englischen social anthropology eine besondere Ausrichtungen der Ethnologie bezeichnet.
  3. Brockhaus-Enzyklopädie, Bd. 12, S. 583.
  4. Brockhaus, Bd. 1, S. 633.
  5. [1]
  6. Ries, Ursprung der Religionen, S. 116–156.
  7. Ries: Ursprung der Religionen, 1989, S. 115.
  8. [2]
  9. Ries: Ursprung der Religionen, S. 134.
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  12. Ries: Ursprung der Religionen, S. 134.
  13. Ries: Urprung der Religionen, S. 134.
  14. Arnold/Eysenck/Meili, Bd. 1, S. 150.
  15. a b c d e f g Ries: Ursprung der Religionen, S. 157.
  16. Spineto, S. 7 ff.
  17. Brockhaus, Bd. 21, S. 518.
  18. Brockhaus, Bd. 21, S. 519.
  19. Ries: Ursprung der Religionen, S. 121 f.
  20. Leroi-Gourhan, S. 104–107.
  21. Ries: Ursprung der Religionen, S. 122, 142–149.
  22. Ries: Ursprung der Religionen, S. 126.
  23. Ries: Ursprung der Religionen, S. 34–42, 50–53, 119–122.
  24. Ries: Ursprung der Religionen, S. 127–133.
  25. Ries: Ursprung der Religionen, S. 43.
  26. Ries: Ursprung der Religionen, S. 43–53, 58–61.
  27. Ries: Ursprung der Religionen, S. 54–82.
  28. Ries: Ursprung der Religionen, S. 150–152.
  29. Brockhaus, Bd. 22, S. 328.
  30. Ries: Ursprung der Religionen, S. 146 f.
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  34. Ries: Ursprung der Religionen, S. 116 ff.
  35. Brockhaus, Bd. 9, S. 606 f.
  36. Wilber, S. 22 ff.
  37. Ries: Ursprung der Religionen, S. 78–82, 87–114.
  38. Ries: Ursprung der Religionen, S. 62–65.
  39. Ries: Ursprung der Religionen, S. 66 f.
  40. Ries: Ursprung der Religionen, S. 153–156.
  41. In: L'apparition des premières divinités. La Recherche, Paris 1987, S. 1472–1480.

Literatur