Mädchen aus dem Uchter Moor
Das Mädchen aus dem Uchter Moor, genannt Moora, ist eine Moorleiche, deren Überreste in den Jahren 2000 und 2005 im Großen Moor im Uchter Ortsteil Darlaten im niedersächsischen Landkreis Nienburg/Weser bei Torfstecharbeiten gefunden wurden. Es handelt sich um die sterblichen Überreste eines jugendlichen Mädchens, das in der vorrömischen Eisenzeit etwa um 650 v. Chr. lebte. Es ist der jüngste Fund einer Moorleiche in Deutschland (Stand: 24. Mai 2025) und gleichzeitig die älteste Moorleiche aus Niedersachsen.
Fundumstände
Der Fund des Mädchens aus dem Uchter Moor erfolgte in zwei Etappen, wobei dessen historische Bedeutung erst fünf Jahre nach der ersten Entdeckung allgemein erkannt wurde. Der Fundort ist ein Teil des Großen Moores bei Uchte, aus dem lange Zeit manuell und seit den 1970er Jahren im industriellen Maßstab verstärkt Torf abgebaut wurde.
Erster Fund
Die Leiche wurde am 6. September 2000 von dem Maschinenführer August Reckweg entdeckt, als er einen Beinknochen im abgebauten Torf bemerkte, worauf er die Torfabbaumaschine drosselte. Nachdem er weitere Skelettteile und Stücke eines Schädelknochens mit Haaren fand, stoppte der die Maschine und benachrichtigte den Leiter des Torfabbaubetriebes, der den Fund der Polizei meldete. Die Uchter Polizei stellte die gefundenen Knochen sicher und übergab den Fall der Kriminalpolizei. Noch am gleichen Tag befragten Beamte der Kripo August Reckweg, untersuchten die Fundstelle und bargen weitere Knochen der Leiche. Aufgrund der Fundumstände ging die Kripo zunächst davon aus, dass es sich um ein Besatzungsmitglied eines im zweiten Weltkrieg abgestürzten US-amerikanischen Flugzeugs oder eine in einem Entwässerungsgraben verscharrte Leichen handeln könnte. Nach der ersten kriminaltechnischen Untersuchung wurde das Geschlecht als weiblich angegeben. Eine archäologische Relevanz des Fundes wurde in Betracht gezogen, konnte aber zu dem Zeitpunkt von der Kriminalpolizei nicht bestätigt werden. Am 11. September wurden die Leichenteile an das Rechtsmedizinische Institut des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zur kriminaltechnischen Untersuchung gesandt. Das bisher vermutete Geschlecht sowie das Alter des Mädchens wurde am 6. Oktober von der Hamburger Gerichtsmedizin mit 16 bis 21 Lebensjahren vorab bestätigt. Aufgrund dieser Daten und der Tatsache, dass an den vorgefundenen Zähnen keine zahnärztliche Behandlung sichtbar war, wurde der Fund mit dem Verschwinden der 16-jährigen Elke Krell aus Loccum in Verbindung gebracht. Die Vermisste, die zu Lebzeiten ebenfalls keine zahnärztliche Behandlung benötigte, verschwand am Morgen des 14. Dezember 1969 auf dem Heimweg von einem Discobesuch spurlos. Mehrere DNA-Untersuchungen und Abgleiche mit DNA-Material der Mutter bestätigten jedoch, dass das Mädchen aus dem Uchter Moor nicht die vermisste Person ist. Da es keine Hinweise auf weitere Verbrechen gab, wurden die Mordermittlungen eingestellt. Obwohl die Bearbeiterin der DNA-Analysen, Susanne Hummel, auf eine mögliche archäologische Relevanz des Fundes in ihrem Bericht an die Kriminalpolizei hinwies, geriet der Fund zunächst in Vergessenheit.
Zweiter Fund
Vier Jahre später, am 5. Januar 2005, entdeckte der Torfarbeiter Werner Ehlers nahe der alten Fundstelle, in der 80 cm tief gelegenen Übergangsschicht vom Schwarz- zum Weißtorf, die Überreste einer mumifizierten rechten Hand. Die herbeigerufene Kriminalpolizei informierte dieses Mal das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege, dessen Mitarbeiter den Fund umgehend begutachteten und ein hohes Alter des Fundes bestätigten. Die Fundstelle wurde auf einer Fläche von 60 Quadratmetern umfassend ausgegraben. Dabei konnten zahlreiche Knochen, Zähne und Hautpartien geborgen und mit den Altfunden aus dem Jahr 2000 zusammengeführt werden. Untersuchungen der Fundstelle mittels Georadar und Metalldetektoren ergaben keine weiteren Befunde. Es wurden weder Metallteile noch Kleidungsreste oder sonstige Gegenstände gefunden. Im Juni 2005 wurde der Fund offiziell der Öffentlichkeit präsentiert und fand in den Medien ein breites Echo. Eine vom NDR initiierte Publikumsbefragung zur Namensgebung des Mädchen aus dem Uchter Moor führte zu dem Populärnamen Moora.
Beschreibung
Die Leiche wurde durch die Torfabbaumaschine stark zerteilt und von ihrem ursprünglichen Liegeort verlagert. Vom Körper liegen nahezu das gesamte Skelett, Teile des Schädels mit anhängender Kopfhaut und -haaren, die vollständige mumifizierte rechte Hand, weitere kleine Hautpartien, zahlreiche Zähne sowie Fuß- und Fingernägel vor. Alle Knochen sind aufgrund der Lagerung im sauren Moormilieu weitgehend entkalkt, geschrumpft, teilweise verformt und haben eine dunkelbraune Farbe. Ihre Kollagenstruktur hat sich jedoch hervorragend erhalten. Die an dem Schädelteil anhaftenden, noch etwa 14 cm langen Haare haben durch die Einwirkung des Moores eine rote Farbe. Die rechte Hand ist ebenfalls stark geschrumpft und hat eine Länge von 13 cm und eine Breite von nur noch 5 cm. Die Haut, Knochen, Sehnen und Gelenke sind gut erhalten und die Papillarleisten der Finger sind so gut erhalten, dass die Fingerabdrücke noch daktylographisch auswertbar sind und den für die meisten gegenwärtigen Mitteleuropäer typischen Mustertyp der Ulnarschleife aufweisen.
Untersuchungen
Zur Erforschung des Fundes bildete sich eine archäologisch-paläoökologische Projektgruppe, dem das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege, die Universität Göttingen, das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf sowie das Niedersächsische Institut für historische Küstenforschung angehören. Die Untersuchungen werden aus einem Forschungsförderprogramm des niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur in Höhe von 500.000 Euro gefördert.
Befunde

Umfeld
Mittels paläoökologischer Geländeuntersuchungen wurde die frühere Landschaft zu Lebzeiten des Mädchens rekonstruiert. Dazu wurden rund 5.000 Bohr- und Höhenpunkte ausgewertet sowie Bohrprofile auf Pollen und Sporen untersucht. Demnach war das Uchter Moor vor rund 2.600 Jahren kleiner als heute. Wegen der geringeren Moormächtigkeit ragten Kuppen von mineralischem Boden wie Inseln aus dem Moor. Das Gebiet war besiedelt und es wurde Weidewirtschaft sowie Getreideanbau betrieben.
Moorleiche
Die paläopathologischen Untersuchungen an den Überresten der Moorleiche mittels unterschiedlicher bildgebender Verfahren ergaben zahlreiche Befunde. Abgeleitet von den Langknochen war das Mädchen zu Lebzeiten etwa 1,50 cm groß. Das Geschlecht der Leiche konnte DNA-analytisch als weiblich bestätigt werden. Ein im Unterkiefer voll ausgebildeter Weisheitszahn und die noch nicht verknöcherten Schädelnähte lassen auf ein Alter zwischen 16 und 19 Lebensjahren schließen, wohingegen der übrige Skelettstatus ein jüngeres Alter um 15 Lebensjahre andeutet. Das Skelett zeigt keine Anzeichen von Gewalteinwirkung oder chronischen Erkrankungen. Die Deformation des Unterkiefers sowie der Bruch des Oberkiefers gehen vermutlich auf den Erddruck im Moor oder die unsanfte Behandlung durch die Torfabbaumaschine zurück. In einigen Zahnfächern sitzen noch die vom Moor entkalkten und bräunlich verfärbten Zähne. Beide Schienbeine zeigen im Röntgenbefund elf deutliche Harris-Linien, die Stillstände im Knochenwachstum des Mädchens in Folge von Mangelernährung, schwerer Krankheit oder Stresssituationen anzeigen. Zehn dieser Linien liegen in regelmäßigen, engen Abständen zueinander, wohingegen eine Linie etwas abgesetzt liegt. Das Mädchen muss in ihrer Entwicklung bereits mehrere, regelmäßig wiederkehrende Hungerzeiten durchlebt haben. Vergleichende Dichtemessungen der rechten und linken Extremitätenknochen zeigten ein für Linkshänder typisches Dichteverteilungsmuster. Die für Jugendliche diesen Alters ungewöhnlich hohe Dichte und Mikrostruktur der Halswirbelkörper lässt darauf schließen, dass Moora häufig schwere Lasten auf ihrem Kopf trug.[1] Die Knochen der Ober- und Unterschenkel deuteten auf eine noch nicht geklärte Erkrankung hin, die infektiös oder durch Mangelernährung bedingt war. Der Schädel wies zwei Frakturen auf, die bereits verheilt waren. Im Schädel fand sich ein kleiner, gutartiger Tumor. Nachgewiesen werden konnte auch eine Gehirnhautentzündung, die vermutlich durch Tuberkulose verursacht war.
Gesichtsrekonstruktion
Aus den computertomographisch gewonnenen Daten wurde mittels computergestützter 3D-Visualisierung versucht, die ursprüngliche Form des Schädels aus den einzelnen Knochenteilen zu rekonstruieren, um sie plastisch darstellbar zu machen.[2]
Datierung
Der Horizont der Fundschicht im Übergang vom Schwarz- zum Weißtorf deutet stratigraphisch auf eine Niederlegung um die Zeitenwende hin. Mittels einiger an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel durchgeführten C14-Datierungen konnte der Todeszeitpunkt des Mädchens auf den Zeitraum zwischen 764 - 515 v. Chr., etwa um 650 v. Chr., datiert werden. Es handelt sich somit um die älteste bisher in Niedersachsen gefundene Moorleiche.
Todesursache
Da die Leiche durch die Torfabbaumaschine stark beschädigt und verlagert wurde, konnte deren ursprüngliche Lage im Moor nicht direkt beobachtet werden, somit lassen sich auch keine sicheren Angaben zur Art der Niederlegung machen. Die Beschädigungsmuster an den Leichenteilen deuten jedoch an, dass die Leiche parallel zur Arbeitsrichtung der Torfabbaumschine lag und die an allen Leichenteilen anhaftenden Reste von Schwarz- und Weißtorf deuten an, dass sie in horizontaler Ausrichtung lag. An den Knochen des Skelettes wurden keinerlei Spuren von Gewalteinwirkungen diagnostiziert, die auf eine unnatürliche Todesursache hindeuten würden. Ob Moora in dem Moor verunglückte, dort beigesetzt oder verscharrt wurde, lässt sich nicht sicher klären. Das Fehlen von Kleidungsresten sowie Grabbeigaben spricht jedoch eher gegen einen normalen Tod oder eine normale Bestattung.[3]
Bedeutung
Der Fund des Mädchens aus dem Uchter Moor ist der erste Fund einer Moorleiche in Niedersachsen seit 1955. Seit der industriellen Mechanisierung des Torfabbaus sank die Chance, Moorleichen zu entdecken, da diese im mechanisierten Prozess übersehen werden. Zu Lebzeiten des Mädchens waren Feuerbestattungen die übliche Bestattungsform und somit liegen menschliche Überreste aus dieser Epoche nur noch in Form von verkohlten Knochensplittern oder Asche vor, die für eine weitergehende anthropologische Analyse nur wenig Material liefern. Aufgrund der Qualität und Menge des vorliegenden organischen Materials bietet dieser Fund eine einzigartige Möglichkeit, mit modernen naturwissenschaftlichen Analyseverfahren weitere archäologische Einblicke in diese Epoche zu gewinnen. Seit Sommer 2008 sind die Überreste des Mädchens Gegenstand eines interdisziplinären Forschungsprojekts unter Beteiligung zahlreicher Institute wie dem Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege, dem Seminar für Ur- und Frühgeschichte der Universität Göttingen, dem Niedersächsischen Institut für historische Küstenforschung sowie dem Institut für Rechtsmedizin und dem Institut für Medizinische Informatik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Die auf drei Jahre angesetzten Forschungen sollen neue Erkenntnisse zu den Lebensumständen der Menschen am Ende der Bronzezeit liefern.[4]
Präsentation
Nach Abschluss der Untersuchungen soll Moora neben dem Roten Franz im Niedersächsischen Landesmuseum in Hannover ausgestellt werden. Es ist jedoch eine Diskussion darüber entstanden, ob die Moorleiche in einem Heimatmuseum in Uchte präsentiert werden sollte, um auch in der Nähe des Fundortes eine touristische Attraktion zu schaffen. Tatsächlich vorgesehen ist dies nicht wegen der aufwändigen Aufbewahrungsbedingungen, jedoch wird der Fund auf andere Weise vor Ort präsentiert werden.
Einzelnachweise
- ↑ Silke Röhling: "Moora war Linkshänderin und trug schwere Lasten auf dem Kopf. Pressemitteilung vom 17. Dezember 2008 der Niedersächsischen Landesmuseen Braunschweig. PDF (572 KB)
- ↑ Forscher rekonstruieren Gesicht von Moorleiche
- ↑ Thomas Brock: Moorleichen. Zeugen vergangener Jahrtausende. In: Archäologie in Deutschland, Sonderheft. Theiss, Stuttgart 2009, S. 62. ISBN 3-8062-2205-3
- ↑ Michael Schultz: „Mooras“ letzten Geheimnissen auf der Spur. Pressemitteilung Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität Göttingen vom 8. Mai 2009.
Literatur
- Andreas Bauerochse, Henning Haßmann, Klaus Püschel (Hrsg.): "Moora" - das Mädchen aus dem Uchter Moor eine Moorleiche der Eisenzeit aus Niedersachsen. Marie Leidorf, Rahden/Westf 2008.ISBN 3-89646-970-3
Weblinks
- Forschungsprojekt Moora - das Mädchen aus dem Uchter Moor
- Bericht im Magazin Stern
- Archäologie Online Artikel
- Computergestützte Rekonstruktion der Moorleiche "Moora"
- Forscher rekonstruieren Gesicht von Moorleiche. In: Spiegel-Online.
Koordinaten: 52° 30′ 55,7″ N, 8° 51′ 12,1″ O
Personendaten | |
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NAME | Mädchen aus dem Uchter Moor |
ALTERNATIVNAMEN | Moora |
KURZBESCHREIBUNG | Moorleiche |
GEBURTSDATUM | 7. Jahrhundert v. Chr. |
STERBEDATUM | um 650 v. Chr. |
STERBEORT | bei Uchte |