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Madrider Zuganschläge

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Die Zuganschläge in der spanischen Hauptstadt Madrid waren eine Serie von zehn durch bislang unbekannte Personen oder Gruppen ausgelösten Bombenexplosionen am 11. März 2004. In Spanien ist das Attentat unter der Abkürzung 11-M bekannt.

Ablauf der Anschläge

Die Explosionen ereigneten sich zwischen 7:35 Uhr und 7:55 Uhr Ortszeit (MEZ). Nach Angaben des spanischen Innenministeriums kamen 201 Menschen ums Leben, von den etwa 1.500 Verletzten schweben einige noch in Lebensgefahr.

Zehn Sprengsätze explodierten in eng besetzten Vorortzügen. Drei weitere Bomben sollten verzögert detonieren, vermutlich, um die zu Hilfe kommenden Einsatzkräfte zu verletzen. Die Sprengsätze wurden später kontrolliert gesprengt, darunter sei einer gewesen, der die Kraft gehabt haben soll, den Madrider Hauptbahnhof Atocha, der zu Rushhourzeiten stark frequentiert ist, komplett zu zerstören. Ein verdächtiges Auto, das vor dem Bahnhof geparkt war, wurde ebenfalls kontrolliert gesprengt. Wie später bekannt wurde, befand sich unter den in einer Polizeistation eingelagerten Koffern und Taschen ein weiterer Sprengsatz, der vermutlich durch ein Handy gezündet werden sollte. Die Ermittler wurden durch das Klingeln des Handys auf den Koffer aufmerksam und konnten den Sprengsatz entschärfen.

Zwei der vier Züge explodierten nicht im Bahnhof Atocha (siehe unten). Einer der Züge wäre fahrplanmäßig zum Zeitpunkt der Detonation im Bahnhof eingetroffen, er hatte jedoch Verspätung und explodierte auf dem Gleisfeld etwa 500 Meter vor den Bahnsteigen.

Nach Angaben des spanischen Innenministers Angel Acebes wurde in der Universitätsstadt Alcalá de Henares am östlichen Rand Madrids ein gestohlener Transporter entdeckt. Darin seien Zünder und ein Tonband mit Koranversen in arabischer Sprache gefunden worden. (siehe unten) Aus dieser Stadt waren die betroffenen Züge abgefahren. Mittlerweile wurden in einem der zerstörten Züge im Bahnhof Atocha ein brauner Rucksack gefunden in welchem eine weitere Bombe und ein Mobiltelefon enthalten waren. Ob mittels des Mobiltelefones die Bombe zur Auslösung gebracht wurde ist bislang noch unklar.

Nach dem Anschlag auf die Pan Am über dem schottischen Lockerbie 1988 stellt dieses Ereignis den schwersten Anschlag in der Geschichte der Europäischen Union (EU) dar.

Die Anschläge ereigneten sich drei Tage vor den spanischen Parlamentswahlen 2004. In Spanien waren daher die Sicherheitsmaßnahmen bereits erhöht gewesen.

Orte der Explosionen

Sieben der zehn Explosionen ereigneten sich im Estación de Atocha. Dieser ist der zentrale Bahnhof der spanischen Hauptstadt für die Fernzüge aus dem Süden des Landes sowie für Regionalzüge und der wichtigste Knoten im S-Bahn-Netz. Er wurde 1992 umgebaut.

Bei den Stationen Santa Eugenia (eine Explosion) und El Pozo del Tío Raimundo (zwei Explosionen) handelt es sich um zwei S-Bahn-Stationen in Arbeitervierteln im Südosten der Stadt.

Die Suche nach den Urhebern

Kurze Zeit nach den ersten Meldungen über die Explosionen wurden Spekulationen über die Urheber laut. Es war unklar, ob der Anschlag der baskischen Gruppe ETA zugeschrieben werden konnten. Die spanische Regierung benannte die ETA als erste Verdächtige, die Resolution des UN-Sicherheitsrats nannte ebenfalls die ETA als Täter. Diese These wurde insbesondere von der spanischen Regierung genährt, da ein islamischer Anschlag erneute Kritik am spanischen Irakeinsatz erzeugen könnte. Drei Tage nach dem Anschlag waren Parlamentswahlen in Spanien, so dass zumindest solange das Bild des ETA-Anschlages in der Öffentlichkeit erhalten bleiben sollte. Es wurden daraufhin Zweifel geäußert und es kam zu Demonstrationen gegen die Regierung (siehe unten). Die ETA arbeitete bislang mit einer anderen Handschrift: Die Anschläge werden kurzfristig angekündigt. Der Vorsitzende der verbotenen ETA-nahen Partei Herri Batasuna beschuldigte stattdessen islamistische Gruppen seien der Verursacher.

Die Londoner Zeitung Al-Quds al-arabi berichtete am Abend des 11. März, ihr liege ein mutmaßliches Bekennerschreiben der Abu-Hafs-El-Masri-Brigaden (Unterorganisation der Al-Qaida) in Form einer E-Mail vor. In dem Schreiben wird Spanien als eines der wichtigsten Mitglieder der "Allianz im Krieg gegen den Islam" genannt. Aus diesem Grund habe Al-Qaida nun in Madrid zugeschlagen. Nach Angaben US-amerikanischer Geheimdienstexperten habe sich Abu Hafs El Masri in der Vergangenheit zu Taten bekannt, die nicht von ihr ausgeführt wurden, so etwa bei den großflächigen Stromausfällen in der Region New York. Die Organisation wird als Gruppe von Trittbrettfahrern eingestuft.

Am gleichen Abend teilte der spanische Innenminister Angel Acebes auf einer Pressekonferenz mit, dass ein am 28. Februar gestohlener Lieferwagen mit 8 Sprengkapseln und einem Tonband mit arabischen Koranversen östlich von Madrid, in Alcalá de Henares, gefunden wurde. Es wird jedoch nicht augeschlossen, dass ETA-Anhänger gezielt arabischsprachiges Material zurückgelassen hätten, um die Ermittler zu täuschen.

Andererseits ähnelt der Anschlag dem Muster von ETA-Aktivitäten in der jüngeren Vergangenheit: Am Heiligabend 2003 wurde ein Anschlag auf den Bahnhof Chamartín in Madrid vereitelt, und am 29. Februar 2004 wurde ein ETA-Kommando, das eine halbe Tonne Sprengstoff in einem LKW mitführte, auf dem Weg nach Madrid verhaftet. Zudem berichten mehrere europäische Geheimdienste übereinstimmend, dass die ETA ihre Gangart ändern wolle. Dies erkläre die ETA-fremde Handschrift des Anschlages.

In der Vergangenheit hatte die ETA bereits mehrfach vor Wahlen in Spanien Attentate verübt.

Am 12. März meldet sich um 18 Uhr eine Person im Namen der ETA bei der linksgerichteten baskischen Tageszeitung Gara und dementiert die Beteiligung der ETA an den Anschlägen. Kurze Zeit später meldet sich angeblich derselbe Anrufer beim baskischen Fernsehsender ETB. Beides sind Medien, in denen sich die ETA schon früher zu Terrorakten bekannt hat.

Der spanische Nachrichtendienst „el Centro Nacional de Inteligencia“ glaubt sich unterdessen sicher zu sein, dass die Tat von islamischen Terroristen verübt wurde.

Am Abend des 13. März verkündete der spanische Innenminister Angel Acebes die Verhaftung von fünf Männern, drei Marokkanern und zwei Indern. Die Verhaftungen sollen im Zusammenhang mit dem Mobiltelefon stehen, das bei einem der nicht explodierten Sprengsätze gefunden wurde. Zwei weitere Verdächtige werden noch verhört.

In der Nacht zum 14. März wurde ein Videoband gefunden, auf dem der angebliche Millitärsprecher Al-Qaidas mitteilt, dass Al-Qaida hinter den Anschlägen stecke. Die Echtheit des Bandes wird derzeit überprüft.

Am 14. März 2004 teilte der Innenminister Angel Acebs mit, dass einer der nach festgenommenen Marokkaner mit den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA in Verbindung gebracht wird. Der als Jamal Zougam identifizierte Mann sei einer der 35 Verdächtigen, gegen die der spanische Ermittlungsrichter Baltasar Garzón vergangenes Jahr Anklage erhoben hatte.

Aus Geheimdienstkreisen verlautete am Tag der Parlamentswahl in Spanien, daß auch eine Zusammenarbeit von Al-Qaida und einer radikalen Zelle der ETA nicht ausgeschlossen werden kann (siehe [1] und [2]).

Reaktionen und Folgen

Spanien

In Spanien rief die Regierung am Mittag des 11. März eine dreitägige Staatstrauer aus. Der Spitzenkandidat der konservativen Volkspartei Partido Popular, Mariano Rajoy, erklärte im Radiosender Onda Cero den Wahlkampf seiner Partei für beendet. Alle anderen Parteien haben mitlerweile ebenso den weiteren Wahlkampf abgesagt. Für Freitag, den 12. März 2004, sind Demonstrationen angekündigt. Die UEFA widersprach dagegen der Bitte dreier spanischer Fußballvereine, ihre Spiele um den UEFA-Cup am Abend des 11. März zu verschieben.

Demonstrationen

12. März 2004: Menschenmenge am Passeig de Gràcia in Barcelona
Teilnehmerzahlen
Datei:11-M.png
Wir vergessen Euch nicht
Madrid2 290 000
Barcelona1 500 000
Bilbao300 000
Valencia400 000
Santiago de Compostela100 000
Sevilla700 000
Zaragoza400 000
Vigo400 000
Oviedo350 000
Cádiz350 000
Murcia300 000
Granada250 000
Logroño100 000
Jaén120 000
Pamplona
Valladolid
Santander85 000
Orense65 000
Las Palmas
Lugo40 000
Quelle: El Mundo

Am 12. März nahmen in ganz Spanien über 11 Millionen Menschen an Demonstrationen gegen die Terroranschläge und zum Gedenken an die Opfer statt (Quelle: El Mundo 13.03.2004, siehe hier). Allein in Madrid versammelten sich dabei 2.290.000 Menschen. Erstmals in der Geschichte nahm mit Kronprinz Felipe auch ein Mitglied der königlichen Familie an einem Protestzug teil. Es wird geschätzt, dass sich mehr als ein Viertel der Gesamtbevölkerung Spaniens auf den Straßen befand.

Am 13. März, 2004, den Vorabend zur spanischen Parlamentswahlen 2004 haben sich um 18:00 Uhr über tausend Demonstranten vor dem Partido Popular Parteigebäude versammelt um nach den Madrider Zuganschläge von der Regierung Aufklärung vor der Wahl zu fordern, sowie sie für ihre Beteiligung am Irak-Krieges zu kritisieren und führten die Demonstration auch nach der Bekantgabe von fünf Verhaftungen fort. Später trat der Spizenkandidat der PP Mariano Rajoy vor die Presse und nannte die nicht genehmigte Demonstration antidemokratisch, einmalig in der Geschichte Spaniens und warf den Demonstranten vor, die Wahl beinflussen zu wollen.

PSOE gewinnt die Parlamentswahlen

Die Sozialisten PSOE gewannen überraschend die spanischen Parlamentswahlen am 14. März 2004. Der bis zu diesem Zeitpunkt mit absoluter Mehrheit regierende Partido Popular wurde nach Ansicht vieler Beobachter für die Informationspolitk nach den Anschlägen bestraft und verlor deutlich gegenüber den Wahlen im Jahr 2000. Die Wahlbeteiligung lag bei 77 Prozent und damit 8 Prozentpunkte über der Beteiligung bei den letzten Wahlen.

siehe auch: Spanische Parlamentswahlen 2004

Europa und Vereinte Nationen

Nach dem Bekanntwerden der Anschläge unterbrach das Europäische Parlament seine Plenarsitzung zu einer Schweigeminute. Der Präsident und irische Europaabgeordnete Pat Cox rief die spanische Bevölkerung dazu auf, die Wahlen am Sonntag zu einer Antwort gegen den Terrorismus zu nutzen.
zur Wahl: Spanische Parlamentswahlen 2004

In Deutschland kondolierte Bundespräsident Johannes Rau. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse drückte im Namen des Bundestages sein Entsetzen über die Anschläge aus. Auch Bundesaußenminister Joschka Fischer drückte sein Entsetzen und seine Solidarität aus. Bundeskanzler Gerhard Schröder bot in einem Telefonat mit dem spanischen Ministerpräsidenten deutsche Unterstützung bei der Suche nach den Urhebern an.

Am Sonntag, den 14. März 2004 berief Bundeskanzler Schröder das Sicherheitskabinett zu einer Sondersitzung ein, die Notwendigkeit zu dieser ergäbe sich aus der durch die Festnahmen veränderte Beurteilung der Lage. Am selben Tag rief Bundesinnenminister Otto Schily die Bundesbürger dazu auf, am 15. März um 12 Uhr durch ein dreiminütiges Schweigen ihre Verbundenheit mit den Opfern und ihren Angehörigen zum Ausdruck zu bringen.

Auch der britische Außenminister Jack Straw drückte seine Betroffenheit aus.

Am Abend des 11. März verurteilte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Anschläge und bezeichnete sie als "Bedrohung des Friedens und der Sicherheit". Die entsprechende Resolution 1530 wurde einstimmig angenommen. Dabei wurde jedoch auf ausdrücklichen Wunsch spanischer Diplomaten die ETA als Täter genannt.

EU-Ratspräsident Bertie Ahern rief die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf, mit Schweigeminuten der Opfer der Madrider Anschläge zu gedenken. Damit sollten die Opfer geehrt und Solidarität mit der spanischen Bevölkerung demonstriert werden. Die Schweigeminuten sollen am Montag den 15. März um 12.00 Uhr beginnen.


Siehe auch: Geschichte Spaniens, Terroranschläge auf Züge und Einrichtungen der Eisenbahn