Gammler
Gammler ist laut Bundeszentrale für politische Bildung „eine abwertende Bezeichnung in der alten Bundesrepublik und in der DDR für jugendliche Rockmusikanhänger, die meistens lange Haare tragen und mit Jeans und Parka bekleidet sind“.[1] Vielfach wurden vor allem in den 1960er und frühen 1970er Jahren in Medien, aber auch im Staatswesen Jugendliche oder junge Erwachsene so bezeichnet, die den jugendlichen Subkulturen angehörten. Gammler sollen sich durch eine betonte Ablehnung bürgerlicher Normen und Lebensformen, wie etwa eine geregelte Erwerbstätigkeit, einen geordneten Tagesablauf oder ein als gepflegt geltendes Erscheinungsbild auszeichnen. Wichtigstes äußeres Erkennungsmerkmal der Gammler waren lange Haare, durch die sich vor allem die männlichen Gammler von der sonst üblichen kurzen Haartracht stark abhoben. Gammler hielten sich vorwiegend in den Zentren von Großstädten auf, in denen sich bestimmte Stellen zu Treffpunkten dieser Subkultur entwickelten, die von der bürgerlichen Bevölkerung zumeist als Provokation wahrgenommen wurde. Der Lebensunterhalt soll durch Gelegenheitsarbeiten, Straßenmalereien, öffentliches Musizieren oder Betteln bestritten werden. Generell zeichneten sie sich meist durch Ablehnung von politischen Interventionen aus, jedoch bildete sich zunächst in den Niederlanden ab 1965 die Bewegung der Provos heraus, die politische Aktionen mit anarchistischem Hintergrund durchführten. [2]
Die meisten Gammler, so nahm man an, verfügten über eine abgeschlossene Schul- und/oder Berufsausbildung und wurden nicht aus wirtschaftlicher Not zu einer Randgruppe. Vermutlich gab es in der Bundesrepublik mehrere tausend Gammler. Da sie aber keine feste Gruppe oder Partei bildeten und gerade ein langfristig organisiertes Vorgehen oder Planen ihnen widerstrebte, können Zahlenangaben nur Schätzwerte darstellen. Hinzu kommt, dass die Grenzen zwischen Sympathisanten und "echten" Gammlern fließend waren, dass auch unter den Gammlern unklar war, wann genau man wirklich dazu gehörte – all solche Typologisierungen und Festlegungen widersprachen ihrem Selbstverständnis. In der DDR wurden pauschal diejenigen, vor allem Männer, die durch längere Haare und "westliche Kleidung", also Jeans, auffielen, als solche bezeichnet.
Herkunft der Bezeichnung
Der Begriff weist zurück auf das Niederländische gammel = klapprig, hinfällig, morsch. Seit Mitte der 1950er Jahre wurde „gammeln“ für „reduziertes Bewegungstempo“ oder „unterhaltsame, aber sinnlose Beschäftigung“ verwendet. So hieß es 1959 in der Zeitschrift Twen „Gammeln ist das Lieblingswort dieser Generation“. Wann und wer diesen Begriff aber zuerst für die hier untersuchte Personengruppe verwandt hat, ist unklar. In der Presse tauchte er erstmalig 1963 und ab 1965 verstärkt als Bezeichnung für bestimmte Jugendliche auf.
Protest?
Zwischen der Hippie-Bewegung der 1970er Jahre und den als Gammler bezeichneten Jugendlichen der 1960er Jahre gab es gewisse Unterschiede. Die Gammler hatten weder die Idee noch den Wunsch, die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu formen. Vielmehr ging es ihnen um eine individualisierte Vorstellung vom Leben. Sie distanzierten sich von den herrschenden Meinungen über die Bedeutung von Arbeit, Karriere und Statussymbolen; arrangierten sich jedoch in ihrer Nische, innerhalb dieser Welt. Sie profitierten sogar vom Wirtschaftswunder, da es zu diesen Zeiten auch immer möglich war, "Tagesarbeit" zu finden, sich also nicht zu verpflichten und trotzdem genug zum Leben zu finden. Wenn sie es nur darauf abgesehen hätten, ihr eigenes Leben selbst zu bestimmen, hätten sie dies auch im Stillen und alleine tun können. Konflikte hätten sie dann mit Eltern, Lehrern, Nachbarn etc. gehabt. Sie aber trugen ihren Lebensstil in die Öffentlichkeit, wollten auffallen und provozieren. Dieses Element der Öffentlichkeit machte ihren Protest zu mehr als einem Generationskonflikt. Der öffentliche Charakter des Zurschaustellens ihres alternativen Lebensentwurfs war offenbar an Großstädte und dort wiederum an bestimmte „Sammlungsplätze“ geknüpft, die zentral lagen und auf denen sie sich nicht nur der besonderen Aufmerksamkeit vieler Passanten und Sympathisanten sicher sein konnten, sondern auch jener der Presse, was wesentlich zu Ausbreitung und Vergrößerung dieses doch eher marginalen Phänomens beitrug. Unstrittig ist, dass die Presseberichterstattung in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Zahl der Gammler stand. Damit sorgte die Presse für einen hohen Bekanntheitsgrad der Gammler in der Bevölkerung; laut Allensbach wussten 1967 89 Prozent der (repräsentativ) Befragten, was ein Gammler ist.
Mit ihrem Streben nach einem individuellen, non-konformen Lebensstil griffen die Gammler die Gesellschaft der 1960er-Jahre in ihren Grundfesten an, stellten die Moral von Arbeit und Fleiß in Frage. Gammler distanzierten sich öffentlich von den herrschenden gesellschaftlichen Normen. Indem sie die Möglichkeiten eines alternativen Lebensentwurfs unter Beweis stellten, sprengten sie die Ketten gesellschaftlicher Zwänge. Sie verweigerten sich der Arbeitsdisziplin, wollten frei über ihre persönliche Zeit verfügen und reduzierten ihre materiellen Ansprüche wirklich auf das bloße Überleben. Um dies sicherzustellen, taten sie gemeinsam je nach Notsituation Einnahmequellen auf.
Durch ihr gelebtes Anderssein protestierten die Gammler und wurden nicht nur von Ludwig Erhard mit Argwohn betrachtet. Ihr unerschrockenes Auftreten schien zu beweisen, dass Alternativen denkbar und lebbar sind. Damit konfrontierten sie viele Bürger zu deren Leidwesen mit einem Gegenmodell, das zumindest für jugendliche Aussteiger Attraktivität besaß. Ihre konkret gelebte Utopie bereitete den Weg für die politisch wesentlich gravierenderen Proteste, die sich als lauter, rigoroser und nicht so leicht integrierbar erwiesen wie die der Gammler: die außerparlamentarische Opposition, die 68er, denen es mehr um gesamtgesellschaftliche Veränderungen und Infragestellungen ging als um die Verwirklichung eines persönlichen Freiheitstraums und für die die Bild-Zeitung die Bezeichnung Politgammler erfand. Im Unterschied zu den Gammlern lehnten sie Organisation nicht ab, sondern nutzten sie, um ihre politische Wirksamkeit mit ihnen zu erhöhen. Auch wenn vereinzelt Gammler in dieser Bewegung aufgingen, so war dies doch mit der besonderen Gruppenstimmung und dem Ideal des In-den-Tag-hinein-Lebens nicht vereinbar.
Einzelnachweise
- ↑ Lexikon in jugendopposition.de, herausgegeben von der Bundeszentrale für politische Bildung und der Robert-Havemann-Gesellschaft
- ↑ Detlef Siegfried: Sound der Revolte: Studien zur Kulturrevolution um 1968, Juventa 2008, S. 156, hier online
Literatur
- Detlef Siegfried: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre. Wallstein, Göttingen 2006, ISBN 3-8353-0073-3.
- Tina Gotthardt: Abkehr von der Wohlstandsgesellschaft. Gammler in den 60er Jahren der BRD. VDM, Saarbrücken 2007, ISBN 978-3-8364-1245-2.
Weblinks
- Walter Hollstein: Die Gammler
- Deutschlandfunk: Medienhetzer und Politgammler
- jugendopposition.de: Langhaarige, Beatfans und Gammler