Charles de Villers

Charles François Dominique de Villers (* 4. November 1765 in Boulay-Moselle; † 26. Februar 1815 in Göttingen) war ein französischer Offizier und Philosoph. Bedeutend wurde er vor allem, indem er die Ideen von Immanuel Kant in Frankreich bekannt machte.
Leben
Die Faszination am Leben Frankreichs vor der Revolution bedeutete für Villers mit dieser auch die große Wende der Emigration nach Deutschland. In Göttingen lernte er 1794 die mit dem späteren Lübecker Bürgermeister Mattheus Rodde verheiratete Dorothea Schlözer kennen und wurde 1797 in deren Hausstand in Lübeck mit aufgenommen, eine klassische Ménage à trois auf Lebenszeit entstand. 1803 kam es auf einer Reise nach Paris zu einer Begegnung mit der Madame de Staël in Metz, die ihn für sich gewinnen wollte. Villers widerstand, blieb jedoch mit ihr in ständigem Briefwechsel und beeinflusste ihr Deutschlandbild maßgeblich.
Bericht über die Besetzung Lübecks 1806

Villers als Hausgast konnte die Roddes in Lübeck bei der französischen Besetzung 1806 vor dem Schlimmsten bewahren, er berichtete von diesen katastrophalen Ereignissen in seinem Brief an die Gräfinn Fanny de Beauharnais enthaltend eine Nachricht von den Begebenheiten, die zu Lübeck an dem Tage, Donnerstag den 6ten November 1806 und folgenden vorgefallen sind. Dieser Brief wurde gedruckt und war ein zu seiner Zeit in Europa vielbeachtetes Dokument und ist heute eine wichtige historische Quelle. Hier soll allerdings nur das persönliche Erleben von Villers dargestellt werden, zu den Ereignissen insgesamt siehe die Hauptartikel über die Schlacht bei Lübeck bzw. die Lübecker Franzosenzeit.
Villers schreibt, dass man in Lübeck keine Ahnung von Größe und Standort der anrückenden Truppen hatte, bis am 5. November die vor den Franzosen fliehenden Preußen unter Blücher vor der Stadt erschienen.[1] Den Protest der Stadtverwaltung und deren Hinweise auf die Neutralität Lübecks ignorierend verlangte Blücher, dass die Stadt einen erheblichen Teil seiner Truppen aufnehmen und Einquartierung für einige Tausend Soldaten schaffen sollte. Die Quartiernahme verlief chaotisch, da bereits der Abend einbrach und man in der Stadt völlig überrascht und dementsprechend unvorbereitet war. Aber die Soldaten, obwohl sehr erschöpft, hätten sich korrekt verhalten und der bei Roddes einquartierte Offizier hätte versichert, dass man anderen Tages aus der Stadt rücken und sich ergeben wolle.
Tatsächlich wurde die Stadt von Blücher zu diesem Zeitpunkt provisorisch befestigt und die Stadttore mit Artillerie belegt. Der Versuch, den Franzosen Widerstand zu leisten, schlug allerdings fehl. Aufgrund einer eigensinnigen Torheit des „Schwarzen Herzogs“ von Braunschweig-Oels drangen bereits am Mittag des 6. November französische Truppen durch das Burgtor und den Preußen blieb nur die Flucht. Villers wirft hier Blücher persönlich vor, dass angesichts des geringen Vorteils, den die preußischen Truppen im besten Falle hätten gewinnen können (Blücher selbst veranschlagte nur 2 Tage, die er sich hätte halten können), die Verletzung der Neutralität der Stadt mit all ihren Folgen nicht zu vertreten gewesen sei.[2]
So begann aber nun der Straßenkampf, die preußischen Soldaten verschanzten sich in den Häusern, welche die Bürger zu verschließen versuchten. Villers hatte den Eingang seines Hauses ebenfalls so gut als möglich verschlossen und ging zum benachbarten Haus der Roddes, wo nur Dorothea Rodde mit den Kindern war (Mattheus Rodde hielt sich beim Senat auf). Das Haus lag in der Nähe des Burgtors, man wurde daher Zeuge des Eindringens der Franzosen und des folgenden Gemetzels. Gegen 3 Uhr nachmittags endeten die Kämpfe, nachdem alle in der Stadt gebliebenen Preußen entweder tot oder gefangen waren. Die Einwohner meinten nun, bereits davon gekommen zu sein.
Das war aber nicht der Fall, vielmehr begann in der eroberten Stadt eine gewalttätige Plünderung. Villers, der für Frau Rodde und ihre beiden Töchter das schlimmste befürchtete, setzte einen Hut mit Kokarde auf, zog einen blauen Mantel an und stellte sich mit seinem alten Adjutantensäbel bewaffnet in die Tür. Es gelang Villers, Soldaten, die bei Roddes eindringen wollten, davon abzuhalten, indem er sich aus seiner Militärzeit des rauhen Befehlstones erinnerte, allerlei Ausflüchte gebrauchte, wobei er z. B. behauptete, hier als Wache und Quartiermacher eines Generales zu stehen.[3]
Gegen 9 Uhr kehrte Rodde wohlbehalten aus der Senatsversammlung zurück mit der Nachricht, er habe dem französischen Befehlshaber Bernadotte, dem Fürsten von Ponte Corvo, sein Haus zur Verfügung gestellt. Bernadotte traf in der Nacht ein und speiste mit der Familie Rodde und Villers, dem er gestattete, als sein Sekretär aufzutreten und dementsprechend sich Geltung zu verschaffen, was Villers in den nächsten Tagen vielfach tat. Bereits in der ersten Nacht noch wurde die Tür des Hauses von Hilfesuchenden und Verzweifelten belagert, die sich von Villers Rettung vor den Gewalttätigkeiten der Soldaten erhofften.[4]
Villers tat, was er konnte, und nicht nur er. Zahlreiche Offiziere und sogar ein ganzes Regiment (das 32. Infanterieregiment) versuchten, die Plünderungen und Misshandlungen zu unterbinden, was aber nur zum kleinen Teil gelingen konnte und wobei manche sogar verletzt wurden.
Am 7. November erfolgte die Kapitulation, die aber den Plünderungen kein Ende setzte. Schließlich waren etwa 70.000 Soldaten (Franzosen und gefangene Preußen) in der Stadt, somit mehr als die doppelte Einwohnerzahl, es gab sehr zahlreiche Verwundete und die entstandenen Schäden (so führt Villers aus) wurden vor allem dadurch besonders bedeutend, daß
- es überall eingelagerte Wintervorräte gab,
- Anfang November in Lübeck ein Termin für jährliche Zahlungen war, weshalb es in allen Haushalten relativ große Mengen an Bargeld gab,
- man aus Angst vor Bränden während der Beschießung alle Wertsachen möglichst am Leib trug („Die Marodeurs ripsrapsten das alles zusammen weg.“ [5]),
- zu allem Überfluss Lübeck bedeutenden Handel mit Wein und Branntwein trieb, dementsprechend groß waren die Vorräte an Alkohol.
Villers berichtet von den Plünderungen einige grausige und einige groteske Episoden: Wie bei einem alten Weinhändler die Marodeure unter der Kleidung einen Geldgürtel zu spüren meinten, ihn auszogen und nur ein Bruchband fanden, darüber so erbost waren, dass sie ihm ein Bajonett in den Leib stießen. Wie eine Frau einige Möbel umstürzte, sich die Haare zerraufte, die Kleidung zerriss und sich bei offener Tür weinend auf dem Boden wälzte, worauf sämtliche Soldateska vorbeizog in der Meinung, hier wären schon andere am Werk gewesen.
Besondere Emphase widmet Villers aber den offenbar massenhaft vorgekommenen Vergewaltigungen:
- Blutbesudelte Elende benutzten die Aengste des Schreckens, um mit ihren gräuelvollen Wollüsten unglückliche Schlachtopfer, halbtodte Weiber zu vergiften. Die meisten davon werden ihre Entehrung nicht lange überleben; und ihre unglücklichen Familien, ihre Gatten, ihre Mütter, ihre Geliebten auf späte Zeiten in ihren Herzen einen tödtenden Nagewurm davon behalten.[6]
Er berichtet:
- Eine von Soldaten verfolgte Mutter mit ihrem Kind im Arm sei in das Wasser gesprungen, wobei ihr Kind ertrank. Die Frau halte sich nun für eine Kindsmörderin und habe darüber den Verstand verloren.
- Ein Trupp des 4. Corps sei in das Irrenhaus eingebrochen und hätte die dort eingeschlossenen wahnsinnigen Dirnen missbraucht und misshandelt.
- Eine Frau sei von 22 Soldaten vergewaltigt worden und für tot in einen Teich geworfen worden, wo sie dann wirklich starb.
- Er selbst habe ein Opfer gesehen, eine junge Frau mit leerem Blick, zerrissenem Kleid und zerkratztem Busen, die von zwei älteren Frauen gestützt wurde. Dieses Bild habe sich ihm tief eingeprägt.
Besonders empört zeigt sich Villers über manche Reaktion seiner Landsleute auf solche Berichte:
- Der Leichtsinn unserer Nation nimmt bisweilen die Erzählung von Mißgeschicken dieser Gattung mit einem unanständigen, unmenschlichen Lächeln auf. […] Ein solches Lächeln kommt mir wie das Lächeln der Hölle vor; und nichts moralisch Scheußlicheres kenne ich![7]
Überhaupt beklagt er die fehlende Einsicht in das begangene Unrecht bei den französischen Truppen. Auch sonst redliche junge Leute unter den Soldaten seien der Überzeugung, „die Stadt Lübeck gehöre ihnen mit Allem, was darinnen ist, und man müsse es ihnen noch als eine ausgezeichnete Milde aufs Kerbholz schreiben, daß sie selbige nicht ganz verbrannt und verwüstet hätten.“[8]
Villers sah sich durch diese Ausschreitungen veranlasst, an Bernadotte einen Brief zu schreiben, in dem er ihn anflehte, diese Übergriffe durch einen entsprechenden Befehl zu beenden. Ein solcher Befehl erging auch tatsächlich am Morgen des 8. November, freilich nur an das von Bernadotte geführte 1. Corps. Villers suchte am selben Tag auch noch Murat, den Großherzog von Berg, auf und beschwor ihn in gleicher Weise. Soult, den dritten Kommandeur, traf er nicht an. Obwohl also Bernadotte und Murat versuchten, Einhalt zu gebieten, setzten sich die Ausschreitungen fort, vor allem, da immer noch neue Truppen in die Stadt drängten. Erst am 9. November gelang es, die Ordnung halbwegs wieder herzustellen, wobei auf dem Land, in den umliegenden Dörfern und in den Vorstädten die Misshandlungen sich noch fortsetzten. Insbesondere den Landpfarrern habe man übel mitgespielt, sie verprügelt, ausgeraubt bis zum letzten und ihre Frauen und Töchter vergewaltigt.
Insgesamt schätzt Villiers die entstandenen unmittelbaren und bezifferbaren Schäden auf mindestens 12 Millionen Francs. Die Zahl der unmittelbaren Todesopfer in der Bevölkerung Lübecks gibt er mit über 100 an.[9]
Göttingen
Im Jahr 1811 wurde Villers Professor für Philosophie an der Georg-August-Universität Göttingen und konnte insofern den Roddes nach der Insolvenz in Göttingen im Rahmen seiner Möglichkeiten helfen. 1814, nach dem Untergang des Königreich Westfalen, wurde er jedoch von der Regierung des Königreichs Hannover umgehend entlassen.
Ehrungen
- Villers wurde 1809 Ehrenbürger der Hansestadt Bremen.
Schriften
- Le magnétiseur amoureux. Roman, Genf 1787
- Ajax fils d’Oilée (Tragödie; nicht gedruckt)
- Députés aux états généraux. 1789
- Examen du serment civique. 1790
- Regrets d’un aristocrate sur la destruction des moines. 1791
- De la liberté. Metz & Paris 1791
- Brief an die Gräfinn Fanny de Beauharnais enthaltend eine Nachricht von den Begebenheiten, die zu Lübeck an dem Tage, Donnerstag den 6ten November 1806 und folgenden vorgefallen sind. Kunst- und Industrie-Comptoir, Amsterdam 1807 3. Aufl. 1808 ; Neudruck: Lübeck 1981
- Lettre à Mme la comtesse Fanny de Beauharnais, contenant un récit des événements qui se sont passés à Lübeck dans le journées du jeudi 6 novembre 1806 et les suivantes. Amsterdam 1807
- Essai sur l'esprit et l'influence de la réformation de Luther. Paris 1808 Digitalisat ; Deutsch: Versuch über den Geist und Einfluss der Reformation Luthers. Reutlingen 1818
- Blick auf die Universitäten und die Art des öffentlichen Unterrichts im protestantantischen Teutschlande, besonders im Königreiche Westphalen. Marburg 1808
- Philosophie de Kant ou principes fondamentaux de la philosophie transcendentale. 2 Bde. Utrecht 1830ff; Neudruck: Brüssel 1973
Literatur
- Ruth Ann Crowley: Charles de Villers : mediator and comparatist. Lang, Bern 1978, ISBN 3-261-03060-7
- Meyer Isler: Briefe an Charles de Villers. Auswahl aus dem handschriftlichen Nachlasse des Charles de Villers. Hamburg 1879
- Kurt Kloocke (Hrsg.): Correspondance Madame de Staël; Charles de Villers; Benjamin Constant. Etablissement du texte, introd. et notes par Kurt Kloocke avec le concours d'un groupe d'étudiants. Lang, Frankfurt am Main u. a. 1993, ISBN 3-631-46107-0.
- Hermann Krapoth: Villers In: Biographisches Lexikon für Schleswig-Holstein und Lübeck, Bd. 10, Neumünster 1994, ISBN 3-529-02650-6
- Sander: Villers, Charles de. In: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB). Band 39, Duncker & Humblot, Leipzig 1895, S. 708–714.
- Oskar Ulrich: Charles de Villers. Sein Leben und seine Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der geistigen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich. Leipzig 1899
- Peter Winterling: Rückzug aus der Revolution, eine Untersuchung zum Deutschlandbild und zur Literaturtheorie bei Madame de Staël und Charles de Villers. Schäuble, Rheinfelden 1985, ISBN 3-87718-763-3
- Louis Wittmer: Charles de Villers (1765-1815). Un intermédiaire entre la France et l’Allemagne et un précureur de Mme de Staël. Genf & Paris 1908
Weblinks
Einzelnachweise
Die Seitenangaben in Villiers Brief an die Gräfinn Fanny de Beauharnais beziehen sich auf die deutsche Ausgabe von 1807.
- ↑ Brief S. 18f
- ↑ Brief S. 29f
- ↑ Brief S. 36-38
- ↑ Brief S. 42f
- ↑ Brief S. 52
- ↑ Brief S. 69f
- ↑ Brief S. 74
- ↑ Brief S. 82
- ↑ Brief S. 91 u. 93
Personendaten | |
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NAME | Villers, Charles de |
ALTERNATIVNAMEN | Villers, Charles François Dominique de; Villers, Karl |
KURZBESCHREIBUNG | französischer Offizier und Philosoph |
GEBURTSDATUM | 4. November 1765 |
GEBURTSORT | Boulay-Moselle |
STERBEDATUM | 26. Februar 1815 |
STERBEORT | Göttingen |