Privatisierung
Privatisierung (von lat. privatus, PPP von privare, „abgesondert, beraubt, getrennt“, privatum, „das Eigene“ und privus, „für sich bestehend“) bezeichnet in erster Linie die Überführung (Verkauf, Umwandlung der Rechtsform) öffentlichen Vermögens in Privateigentum.[1] Im weiteren Sinne wird mit Privatisierung die Verlagerung von bestimmten bisher staatlichen Aktivitäten in den privaten Sektor der Volkswirtschaft verstanden, womit oft auch eine Deregulierung verbunden ist. Für den gegenteiligen Prozess gibt es folgende Definitionen:
- die Überführung privater Aufgabenwahrnehmungen oder privaten Eigentums in staatliche Hände, wird allgemein Verstaatlichung, Sozialisierung,
- wenn eine schon immer durchgeführte private Aufgabenwahrnehmung in öffentliche Hand überführt wird, Kommunalisierung oder
- wenn eine bereits durchgeführte Privatisierung wieder rückgängig gemacht wird, Rekommunalisierung genannt.
Begriffsgeschichte
Der Begriff "Privatisierung" rückte nach den britischen Unterhauswahlen 1979 in den Mittelpunkt der politischen Aufmerksamkeit durch Margaret Thatchers Programm (Thatcherismus). Er wird seitdem im anglo-amerikanischen Sprachraum auf den Managementtheoretiker Peter Ferdinand Drucker ("Age of Discontinuity", New York 1969) zurückgeführt.[2] Denn David Howell, damals ein junger konservativer Politiker, hatte die Bezeichnung dort gefunden und bei der Ausarbeitung seines politischen Programms verwendet; er benutzte ihn ebenso in seinem Pamphlet "A New Style of Government". Die Bezeichnung selber (etwa als "Reprivatisierung") lässt sich indessen schon in der Literatur der deutschen Kriegswirtschaft der späten 30er und beginnenden 40er Jahre sowie in Deutschland nach 1945 finden.[3]
Arten der Privatisierung
Der engere Begriff der Privatisierung kann in drei Varianten unterteilt werden:[4]
- Als „Staatskapitalprivatisierung“ (auch: „materielle Privatisierung“) wird die Veräußerung von Anteilen an erwerbswirtschaftlichen Unternehmen (beispielsweise staatliche Automobilindustrie, Banken, Stahlwerke usw.) bezeichnet, welche sich in Staatsbesitz befinden.
- Mit „Aufgabenprivatisierung“ (auch: „Liberalisierung“) sind Reformen im Bereich der Infrastruktur gemeint. Vormals öffentliche Aufgaben in Monopolbereichen (z.B. Post, Telekommunikation, Bahn, Wasserwirtschaft) werden nun von privaten Trägern übernommen und in Konkurrenz, auch zu den Angeboten aus dem öffentlichen Bereich, angeboten.
- Die „Organisationsprivatisierung“ bezeichnet schließlich Strategien zur Erhöhung der Wirtschaftlichkeit und zur Kostensenkung im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen im eigentlichen Sinn, womit auch die klassischen "hoheitlichen" Kernbereiche staatlicher Aktivität betroffen werden. Betriebswirtschaftliche Rentabilitätskriterien und die Einführung von in der Privatwirtschaft gebräuchlichen Arbeitsverhältnissen können vorgenommen werden, ohne dass sich an den Eigentumsverhältnissen dadurch grundsätzlich etwas ändern muss.
Kritik
Privatisierungspolitik wird häufig mit der wirtschaftsliberalen Überzeugung begründet, dass der Anteil des öffentlichen Sektors zugunsten der privaten Wirtschaft zurückgedrängt werden muss und die privatwirtschaftliche Leistungserbringung, da durch die Gesetze des Marktes geregelt, grundsätzlich effizienter erfolge.[5]
Im Bericht an den Club of Rome zu den Grenzen der Privatisierung beschreiben Wissenschaftler unterschiedlich verlaufene Privatisierungsbeispiele aus aller Welt. Danach könne Privatisierung erfolgreich sein, wenn der Staat die Regeln bestimmt und Wettbewerb garantiert. „Gute Regulierung ist die Voraussetzung für erfolgreiche Privatisierung“, meint Ernst Ulrich von Weizsäcker, Herausgeber des Berichts.[6] Aus ordnungspolitischer Sicht dürfen bei Privatisierungen deshalb staatliche Monopole nicht einfach durch private Monopole ersetzt werden. Vielmehr muss der Staat für einen funktionierenden Wettbewerb sorgen.
Nach Ansicht von Attac dürfen Bereiche öffentlicher Daseinsvorsorge wie Bildungswesen, Verkehr, Gesundheitssektor, Energie- und Wasserversorgung nicht der Marktlogik überantwortet werden,[7] da sie Aufgaben erfüllten, die über ökonomische Fragen hinausgingen, und somit nicht nach Maßstäben von Rentabilität geführt oder beurteilt werden dürften. Von Peter Erdmeier wird darauf hingewiesen, dass Politiker die Möglichkeit, im öffentlichen Sektor andere als Rentabilitätsziele zu verfolgen, zur Durchsetzung von wahl- und parteipolitischen Interessen nutzen könnten.[8]
Beispiele für Privatisierungen
Deutschland
Rechtliche Aspekte
Das Grundgesetz enthält keinen abgeschlossenen Katalog der Staatsaufgaben. Nicht auf Vertrag beruhende Eingriffsrechte unterliegen stets der staatlichen Aufsicht und bedürfen der Beleihung (z.B. TÜV). Eine weitere Grenze für Privatisierungen bietet in Deutschland der Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 Grundgesetz, der vorsieht, dass die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen ist. Dies verhindert, dass die polizeilichen Aufgaben im engeren Sinn privatisiert werden. Ferner ist im Grundgesetz (Art. 14 Abs. 3, Art. 15) die Möglichkeit der Verstaatlichung verankert, also des Gegenteils der Privatisierung. Darüber hinaus bestimmt Artikel 28 Grundgesetz das Selbstverwaltungsrecht der Länder, Aufgaben der Daseinsvorsorge wahrzunehmen und damit gegebenenfalls Privatisierungen auf kommunaler Ebene, z.B. im Bereich der Wasser- und Energieversorgung, vorzunehmen oder im Wege von Rekommunalisierungen rückgängig zu machen. Siehe hierzu auch den Hauptartikel Kommunale Selbstverwaltung.
Die Bundeshaushaltsordnung fordert: „Bei Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans sind die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten. Diese Grundsätze verpflichten zur Prüfung, inwieweit staatliche Aufgaben oder öffentlichen Zwecken dienende wirtschaftliche Tätigkeiten durch Ausgliederung und Entstaatlichung oder Privatisierung erfüllt werden können.“[9]
Auch die zunehmende Europäisierung des Wirtschaftsrechts schränkt den Spielraum staatlicher Wirtschaftstätigkeit zunehmend ein, da Anbieter aus der EU bei gewerblicher Tätigkeit nicht diskriminiert werden dürfen.
Bedeutende Privatisierungen
Bundesebene
In der Bundesrepublik Deutschland wurden mehrere große Einrichtungen und Sondervermögen des Bundes in private Rechtsformen umgewandelt.
- Im Zuge der deutschen Bahnreform wurden die Deutsche Bundesbahn und Deutsche Reichsbahn in die Deutsche Bahn AG überführt.
- Bundesanstalt für Flugsicherung in die Deutsche Flugsicherung GmbH (Organisationsprivatisierung)
Zusätzlich kapitalmäßig voll- oder teilprivatisiert wurden:
- Im Rahmen der deutschen Postreform wurde die Deutsche Bundespost in die Deutsche Post AG, die Deutsche Telekom AG und die Deutsche Postbank AG aufgeteilt.
- Deutsche Bundesdruckerei (inzwischen wieder verstaatlicht),
- Lufthansa, VIAG, VEBA, Volkswagen, Flughafen Hamburg, Bundesanzeiger, Lübecker Hafengesellschaft, Fraport, IVG Immobilien
Eine besondere geschichtliche Situation war die Zeit der deutschen Wiedervereinigung mit der Privatisierung der staats- und volkseigenen Unternehmen der ehemaligen DDR durch die Treuhandanstalt. Diese wurde 1994 in mehrere Organisationen aufgeteilt, die wichtigste davon war die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben.
Kommunale Ebene
Ein großes und zunehmend umstrittenes Feld sind Privatisierungen von Kommunalbetrieben, vor allem die der im Bereich der Daseinsvorsorge tätigen Stadtwerke.[10]. Beispiele für Privatisierungen im Kommunalbereich sind unter anderen die Privatisierung der Berliner Wasserbetriebe, der MVV Energie, der Neckarwerke Stuttgart, der Stadtwerke Essen und der Stadtwerke Düsseldorf. Bedeutende private Anteilseigner an ehemals vollständig kommunalen Unternehmen sind RWE, Veolia, E.ON und EnBW.
Inzwischen wird in Bürgerbegehren die Offenlegung der Privatisierungsverträge und die Rekommunalisierung von privatisierten Kommunalbetrieben gefordert. Ein Beispiel für eine Rekommunalisierung ist der Verkauf der Thüga, dem deutschlandweit größten kommunalen Netzwerk lokaler und regionaler Energieversorger, durch E.ON an ein Konsortium von kommunalen Energieversorgungsunternehmen, bestehend aus der Stadtwerkegruppe Kom9, enercity (Stadtwerke Hannover AG), Mainova AG (Frankfurt) und der N-ERGIE Aktiengesellschaft (Nürnberg).[11]. Ein weiteres Beispiel ist eine Volksinitiative in Hamburg, die das Ziel einer Rekommunalisierung der Energienetze und der Etablierung „echter“ Stadtwerke, d.h. eines Stadtwerks mit Energienetzen, hat[12] und die vom Bund der Steuerzahler Hamburg e.V.[13] unter dem Aspekt von Bürgerbeteiligungsmodellen unterstützt wird. Weitere Details siehe Hauptartikel Rekommunalisierung in Hamburg.
Österreich
Ganz oder teilprivatisiert wurden über die Österreichische Industrieholding unter anderem die OMV AG, VA Tech AG, Böhler-Werke, VOEST-ALPINE STAHL AG, Vamed, AT & S, Austria Metall AG, Austria Tabak, Telekom Austria, Österreichische Staatsdruckerei, Dorotheum sowie die Österreichische Post.
Schweiz
In der Schweiz finden sich staatliche Unternehmen meistens auf Kantons- und Gemeindeebene, der Bund ist nur im Infrastruktur- und Rüstungsbereich unternehmerisch tätig. Viele Bundesbetriebe und kantonale Unternehmen, vor allem im Infrastruktur- und Bankenbereich, wurden bisher nur in privatwirtschaftliche Rechtsformen umgewandelt, jedoch nicht privatisiert. Beispiele dazu sind die SBB, Swisscom, Schweizerische Post, Ruag.
Großbritannien
In Großbritannien erfolgte eine große Welle von Privatisierungen während der Regierung von Margaret Thatcher (1979 bis 1990). Bis heute wurden fast alle staatlichen Unternehmen verkauft. Privatisiert wurden unter anderem:
- Verkehrsbereich
- National Express Group (1980er), Associated British Ports (1981 bis 1983), British Aerospace (1981 bis 1985), British Leyland (aufgespalten und privatisiert 1982 bis 1988), British Shipbuilders (1983), British Airways (1987) British Airports Authority (1987), Rolls-Royce plc (1987), British Rail (1994-1997). Die Rechtsgrundlagen waren unter anderen der Transport Act 1980, der Transport Act 1985 und der Railways Act 1993
- Energiebereich
- BP (1979 bis 1987), Britoil (1982), Enterprise Oil (1984), British Steel (1988), British Coal (1994), British Energy (1996), British Gas plc (aufgespalten und privatisiert 1997)
- Kommunikation
- Cable and Wireless (1981), British Telecom (1982)
- Trinkwasserversorgung
- Thames Water (1989)
- Medizin
- Amersham plc (1982)
Die Privatisierung der British Rail wurde durch den Railways Act 1993 beschlossen. Das wichtigste Ziel der Privatisierung, die Verringerung staatlicher Subventionen, ist aber verfehlt worden. Der britische Steuerzahler muss heute für die private Bahn weit mehr zahlen, als zu Zeiten von British Rail.[14] Nachdem es aufgrund von unterlassenen Instandhaltungsarbeiten vermehrt zu schwerwiegenden Zugunfällen kam, wurde der Betrieb der Bahnhöfe und des Schienennetzes wieder verstaatlicht.[15]
Aktuell versucht die BBC eine mögliche Privatisierung zu verhindern, indem der öffentliche Sender gegenüber Kritik von privaten Verlegern und konservativen Politikern durch eine wirtschaftliche Untersuchung seinen volkswirtschaftlichen Nutzen nachweisen will.[16]
Siehe auch
Literatur
- Hans Herbert von Arnim: Rechtsfragen der Privatisierung, Schriftenreihe des Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler (Heft 82), Wiesbaden 1985
- Hartmut v. Berg (Hrsg): Deregulierung und Privatisierung: Gewolltes - Erreichtes - Versäumtes. Duncker & Humblot 2002. ISBN 978-3-428-10760-5
- Wolfgang Däubler: Privatisierung als Rechtsproblem, Luchterhand, Neuwied 1980, ISBN 3-472-08022-1
- Tim Engartner: Privatisierung und Liberalisierung – Strategien zur Selbstentmachtung des öffentlichen Sektors. In: Christoph Butterwegge, Bettina Lösch, Ralf Ptak: Kritik des Neoliberalismus, VS–Verlag, Wiesbaden 2007, ISBN 978-3-531-15185-4, S. 87-134
- Jörg Huffschmid (Hrsg.): Die Privatisierung der Welt - Hintergründe, Folgen, Gegenstrategien; Reader des wissenschaftlichen Beirates von Attac, Hamburg : VSA-Verl. 2004, ISBN 3-89965-109-X
- Jörn Axel Kämmerer: Privatisierung: Typologie - Determinanten - Rechtspraxis - Folgen. Band 73 von Jus publicum. Mohr Siebeck : Tübingen 2001. ISBN 978-3-16-147515-3.[1]
- Florian Mayer: Vom Niedergang des unternehmerisch tätigen Staates: Privatisierungspolitik in Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland, VS Verlag, Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-14918-0
- Michel Reimon, Christian Felber: Schwarzbuch Privatisierung. Ueberreuter 2003. ISBN 3-8000-3996-6
- Werner Rügemer: Privatisierung in Deutschland - eine Bilanz, Westfälisches Dampfboot, Münster 2006, ISBN 3-89691-630-0
- Ilja Srubar (Hrsg.): Eliten, politische Kultur und Privatisierung in Ostdeutschland, Tschechien und Mittelosteuropa. Konstanz 1998.
- Dirck Süß: Privatisierung und öffentliche Finanzen - zur politischen Ökonomie der Transformation, Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft, Stuttgart 2001. ISBN 3-8282-0193-8
- H. Jörg Thieme (Hrsg): Privatisierungsstrategien im Systemvergleich. Schriften des Vereins für Socialpolitik. Berlin: Duncker & Humblot, 1993, ISBN 978-3-428-07773-1
- Ernst Ulrich von Weizsäcker (Hrsg.): Grenzen der Privatisierung. Wann ist des Guten zu viel? Bericht an den Club of Rome. Hirzel, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-7776-1444-1
Weblinks
- Siegfried Broß: Privatisierung öffentlicher Aufgaben – Gefahren für die Steuerungsfähigkeit von Staaten und für das Gemeinwohl? Vortrag eines Richters des Bundesverfassungsgerichts am 22. Januar 2007 in Stuttgart
- Peter Erdmeier: Die Privatisierung von Unternehmensbeteiligungen des Landes Berlin seit der Wiedervereinigung Digitale Dissertation, FU Berlin 2000
Einzelnachweise
- ↑ Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 4., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2006.
- ↑ Yergin, Daniel; Stanislaw, Joseph: Staat oder Markt. Die Schlüsselfrage unseres Jahrhunderts, Frankfurt/New York 1999, ISBN 3-593-36269-4, S. 153 ff.
- ↑ Germà Bel: The coining of `privatization´and Germany's National Socialist Party, Journal of Economic Perspectives, 2006, 20(3), 187-194
- ↑ Bodo Zeuner, Das Politische wird immer privater. In: Michael Heinrich, Dirk Messmer (Hrsg.), Globalisierung und Perspektiven linker Politik. Westfälisches Dampfboot, Münster 1999, S. 284-00.
- ↑ Peter Erdmeier: Die Privatisierung von Unternehmensbeteiligungen des Landes Berlin seit der Wiedervereinigung (PDF) S. 42.
- ↑ Stefan Scheytt: Weg mit Schaden brand eins 9/2007.
- ↑ ATTAC: Positionspapier zur GATS-Verhandlung 30. Juli 2002, abgerufen 22. Februar 2008.
- ↑ Erdmeier 2000, S. 72.
- ↑ Bundeshaushaltsordnung § 7
- ↑ Klaus-Peter Schmid: Alles muss raus, in: Die Zeit Nr. 26 vom 22. Juni 2006
- ↑ Thüga AG Pressemitteilung vom 2.Dezember 2009
- ↑ Unser Hamburg – Unser Netz. 21. November 2010
- ↑ Steuerzahlerbund unterstützt Rückkauf der Netze "05. November 2010
- ↑ Die Privatisierung der Deutschen Bahn, Tim Engartner, VS Verlag für Sozialwissenschaft, 2008, Seite 23 ff
- ↑ Vorlage:Tagesschau, 7. November 2006 16:26 Uhr
- ↑ James Robinson, Robert Booth: The BBC fires back: report argues that corporation generates £7.6bn for Britain. The Guardian, 4. Januar 2010.