Neoliberalismus
Als Neoliberalismus bezeichnet man zusammenfassend ein wirtschaftspolitisches und sozialphilosophisches Konzept, das auf dem klassischen Liberalismus und der Neoklassischen Theorie basiert und den Einfluss des Staates auf das Wirtschaftsgeschehen minimieren will, im Unterschied zum Laissez-faire allerdings ein regulierendes Eingreifen des Staates zur Sicherstellung funktionierender Märkte als notwendig ansieht.
Dieses Konzept einer Neuformung der Ideen aus dem klassischen Liberalismus ist in verschiedenen Strömungen aufgegangen. Einerseits dem Monetarismus der Chicagoer Schule, zuweilen auch die Österreichische Schule, die sich selbst allerdings als "klassisch liberal" begreift oder auch im Libertarismus verortet wird, einer liberalen Strömung, die den Neoliberalismus ablehnt. Andererseits bestehen vor allem in historischer Hinsicht Einflüsse aus dem Ordoliberalismus der staatfernen Freiburger Schule, jedoch werden die ordoliberalen Vorstellungen von Sozialstaatlichkeit und staatlich zu organisierender Chancengleichheit weitgehend abgelehnt.
Der Neoliberalismus steht im Gegensatz zum Keynesianismus (der eine aktive Wirtschaftspolitik des Staates fordert), dem Protektionismus (der ausländische Anbieter auf dem Inlandsmarkt zu benachteiligen versucht), dem Sozialstaatsdenken sowie dem Sozialismus (der sich gegen das Privateigentum an Produktionsmitteln wendet).
Begriff
Der Begriff Neoliberalismus ist ursprünglich eine Selbstbezeichnung, wird aber heutzutage nahezu ausschließlich von dessen Gegnern verwendet. Die Befürworter sprechen in der Regel von liberaler Wirtschaftspolitik.
Als "Urvater" neoliberaler Ideen kann Friedrich Hayek bezeichnet werden, aber den Neoliberalismus als die eine Schule gibt es nicht. Man kann vielmehr von einem vielfältigen, institutionalisierten Netzwerk sprechen, wo verschiedene, differenzierte, auch sich widersprechende Meinungen nebeneinander existieren. Das Ergebnis eines (sozusagen) marktorientierten Prozesses ist unvorhersehbar und offen, Karl Popper spricht hier von einer offenen Gesellschaft. Hayek entwickelte bis zu seinem Tode den Neoliberalismus zu einer dynamischen Theorie sozialer Institutionen weiter.
Konzepte
Ordoliberalismus
Der Begriff "Neoliberalismus" wurde von den Ökonomen Friedrich Hayek, Wilhelm Röpke, Walter Eucken und anderen auf einer Konferenz in Paris im Jahre 1938 im Zuge der Entwicklung eines Konzepts für eine langfristige Wirtschaftspolitik geprägt, welche sich als "Dritter Weg" verstand, und damit im Gegensatz zum reinen Kapitalismus bzw. Libertarismus, andererseits aber auch im Gegensatz zum Sozialismus und zur "Allgemeinen Theorie" des Keynesianismus.
Als Grund für die Notwendigkeit einer Rahmenordnung sieht der Ordoliberalismus die Tendenz ungeregelter Märkte, den eigenen Wettbewerbsmechanismus aufzulösen. Anbieter schließen sich zusammen, bilden Kartelle und Preisabsprachen, streben nach Monopolen und können so den Markt diktieren (Vermachtung des Marktes). Schädigungswettbewerb kann das Übergewicht gegenüber Leistungswettbewerb erlangen. Die Aufgabe des Staates sei es folglich, einen Ordnungsrahmen zu entwickeln, der faktisch vor allem aus Kartell- und Wettbewerbsgesetzen besteht, Markttransparenz und freien Marktzugang fördert sowie für Preisniveaustabilität sorgen soll. Der Sozialgedanke und das Leistungsprinzip, der Ordnungsauftrag und der Dezentralismus sollen miteinander ausgesöhnt werden. Das Ziel des Ordoliberalismus ist dabei nicht eine radikale Deregulierung, sondern eine De-Monopolisierung. Marktversagen ist im ordoliberalen Denkansatz überall dort möglich, wo versäumt wurde, rechtzeitig die richtige Ordo zu errichten - etwa bei einer fehlenden Entgelt-Festsetzung für die verbrauchende Nutzung von Gemeingütern wie der Umwelt oder bei unzureichenden Maßnahmen gegen die Kartellbildung.
Monetarismus
Außerhalb des deutschen Sprachraums war die ordoliberale Variante des Neoliberalismus nie sehr bekannt, dort und mittlerweile auch hier werden mit Neoliberalismus vor allem die Ideen des Monetarismus der Chicagoer Schule mit ihrem bekanntesten Vertreter Milton Friedman verbunden. Der Monetarismus geht grundsätzlich von der Stabilität des privaten Sektors aus. Eine Begründung für das Vertrauen in den Markt und in die Privatwirtschaft finden wir bei Karl Brunner in "The Monetarist Revolution", 1973: "Der private Sektor absorbiert Schocks und formt sie in eine stabilisierende Bewegung um [...] die Hauptinstabilitäten und Unsicherheiten des ökonomischen Prozesses [gehen] auf das Verhalten des staatlichen Sektors zurück. Die Unsicherheiten sind im besonderen den Steuer- und Ausgabenprogrammen zuzurechnen sowie den Maßnahmen eingreifender Instanzen. Die Instabilität ist vor allem der Geld-, Kredit- und Fiskalpolitik zuzuschreiben." Auch bei der Entstehung von Monopolen vertraut der Monetarismus, im Unterschied zum Ordoliberalismus, auf den freien Markt und geht davon aus, dass auf lange Sicht die Selbstregulierungmechanismen des Marktes zu einem Marktgleichgewicht führen werde.
Verfügungsrechtstheorie
Der Vorrang von Privateigentum und privatwirtschaftlichen Regelungsformen gegenüber staatlichem Einfluss wird mitunter aus einer bestimmten Sichtweise auf die ökonomische Theorie der Verfügungsrechte abgeleitet. Demnach steige der volkswirtschaftliche Wohlstand, je mehr Eigentum sich in privater Hand befindet. Bei sozialistischen Regelungsformen käme es hingegen zwangsläufig zum Elend der Allmende.
Unterschied zum Libertarismus
Zuweilen wird der Neoliberalismus fälschlicherweise mit dem Libertarismus gleichgesetzt. Hierbei handelt es sich um ein in Deutschland weithin unbekanntes Konzept, welches das Recht auf Eigentum verabsolutiert und Steuern und Sozialpolitik grundsätzlich ablehnt und damit im Gegensatz zum Neoliberalismus steht. Ziel des Neoliberalismus ist es, das Funktionieren der marktwirtschaftlichen Ordnung zu sichern, sprich die Wirtschaft effizient zu gestalten, da der Wohlfahrtsstaat nach Meinung der Neoliberalen auf Dauer nicht finanzierbar sei.
Elemente neoliberaler Politik
- Privateigentum/Privatisierung: Nach neoliberaler Auffassung ist es nicht Aufgabe des Staates, unternehmerisch tätig zu werden. Gefordert wird deshalb die Privatisierung von Staatsbetrieben bzw. Aufgabe von Staatsbeteiligungen, insbesondere auch von staatlichen Monopolen im Bereich der Infrastruktur (Daseinsvorsorge) wie Telekommunikation, Verkehr oder Energie. Die Weltbank hat als übergeordnete Strategie das sog. Private Sector Development, vergleiche auch Konzept der Public Private Partnership.
- Stabilitätspolitik: monetaristische Geldmengenpolitik soll stabile Preise durch eine stabile Währung (makroökonomische Stabilität) und durch einen ausgeglichenen Staatshaushalt garantieren. Aus einer restiktiven Geld-, Zins- und Haushaltspolitik folgt eine Straffung der Verwaltung, die Schaffung teilautonomer Einheiten und eine Auslagerung bestimmter öffentlicher Aufgaben im Sinne eins schlanken Managements.
- Markt als Steuerungsinstrument: Nach neoliberaler Überzeugung soll der Markt, also Angebot und Nachfrage, über Art, Preis und Menge der Sach- und Dienstleistungen entscheiden, da so eine optimale Allokation der Ressourcen stattfinde.
- Wettbewerb: Der Staat hat für funktionierende Märkte zu sorgen und im Falle deutlich unvollkommener Märkte regulierend einzugreifen, etwa durch Steuern auf externe Effekte und durch Kartellgesetzgebung. Im Unterschied zur Neoklassik wird der Wettbewerb auch auf die Institutionen ausgeweitet, mit der Meinung, das die "fittest" auf dem Markt überleben, deren Bedeutung wird anerkannt ("neuer Institutionalismus").
- Deregulierung: Neoliberale fordern eine Deregulierung und Liberalisierung der Wirtschaft im Sinne einer Reduzierung der Gesetze und Verordnungen, soweit sie als übertrieben bürokratisch und nicht wirklich notwendig angesehen werden, weil dadurch Investitionen verhindert würden.
- Welthandel: Neoliberale befürworten die Globalisierung im Sinne einer Förderung des Freihandels zwischen den Staaten, sei es durch globale Organisationen wie der WTO mit ihren Vereinbarungen wie GATT, GATS, TBT, SPS, TRIPS, oder sei es durch Freihandelszonen und vermehrte Sonderwirtschaftszonen oder der Abschaffung der Grenzen der Nationalstaaten. Der freie Handel trägt nach Einschätzung des Neoliberalismus zur Förderung von weltweitem Wohlstand bei. Die Einschränkung des Handels mittels tarifärer Handelshemmnisse (Schutzzölle) und eine Förderung bestimmter Wirtschaftszweige durch den Staat (Subventionen) hingegen führt nach neoliberaler Vorstellung zu Ungleichverteilung und Armut auf der Welt. So haben es zum Beispiel Entwicklungsländer schwer, gegenüber der hochsubventionierten europäischen Agrarwirtschaft konkurrenzfähig zu bleiben. Neoliberale werfen den Industriestaaten vor, nur von den Entwicklungsländern Handelsfreiheit zu fordern, diese jedoch nicht im eigenen Land einführen zu wollen.
- Steuerpolitik: Gefordert werden in der Regel niedrige Steuersätze, etwa in Form eines Proportionaltarifs oder Stufentarifs, und ein einfaches Steuersystem anstelle eines Systems vielfältiger Einzelbestimmungen. Indirekte Steuern werden gegenüber direkten Steuern vorgezogen. Steuern auf die Substanz werden als Doppelbesteuerung ebenso abgelehnt wie Bagatellsteuern, bei denen die Einnahmen oft kaum höher sind als der Aufwand zu ihrer Erhebung. Insgesamt wird die Senkung von Unternehmenssteuern befürwortet, zumal damit oft sogar eine Erhöhung der staatlichen Steuereinnahmen einher ginge.
- Sozialsystem: Auch im Bereich der Sozialsysteme befürworten Neoliberale privatwirtschaftlich organisierte Lösungen anstelle der als bürokratisch angesehenen staatlichen Systeme. Damit soll eine effizientere Verwaltung der Mittel des Bürgers erreicht werden. Das Umlageverfahren wird kritisiert, da es auf keiner soliden Basis stehe. Statt dessen wird private Vorsorge im Rahmen des Kapitaldeckungsverfahrens befürwortet. Das bedeutet, dass die sozialen Sicherungssysteme umgebaut werden: Der Umverteilungsstaat wird abgebaut, marktwirtschaftliche Systeme werden aufgebaut. Staatliche Leistungen würden sich dann wirksam auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren, also diejenigen, die nicht in der Lage sind, für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen. Milton Friedman hat eine negative Einkommensteuer vorgeschlagen. Danach würde das Finanzamt jedem Steuerpflichtigen, dessen Einkommen unter einem festzulegenden Minimum liegt, die Differenz ohne weitere Prüfungen überweisen. Link
- Verbände:Der Neoliberalismus ist allgemein gegen Machtkonzentration und wendet sich von daher auch gegen gruppenegoistische ("rent-seeking") Machtentfaltung von Gewerkschaften, Umweltverbänden und Arbeitgeberverbänden.
- Tarifrecht: Das Tarifrecht soll zu Gunsten betrieblicher Vereinbarungen mit Öffnungsklauseln gelockert werden. Teilweise wird die Aufhebung von Flächentarifverträgen gefordert.
- Arbeitsrecht: Das Arbeitsrecht soll entbürokratisiert werden und unnötige Schutzrechte, die freie Markmechanismen hemmen, abgebaut werden. Im Zentrum der Kritik der Neoliberalen stehen dabei besonders der Kündigungsschutz, aber auch das allgemeine Lohnniveau, die Höhe von Ausbildungsvergütungen, das Arbeitszeitgesetz, sowie die betriebliche Mitbestimmung.
- Konjunkturpolitik: Es wird gefordert, dass auch in rezessiven Phasen der Wirtschaft keine antizyklischen geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen seitens der Politik stattfinden sollen. Konjunkturprogramme seien Strohfeuer, die langfristig mehr schaden als nutzen würden. Subventionen verzerren nach neoliberaler Auffassung den Wettbewerb, verhindern Innovation und Strukturwandel und sollen deshalb abgebaut werden.
Beispiele neoliberaler Politik
Als "Experimentierfeld" für neoliberale Wirtschaftspolitik gilt Chile. Milton Friedman prägte den Begriff vom "Wunder von Chile" und betonte den wirtschaftlichen Erfolg unter dem Diktator Pinochet. Ronald Reagan ("Reaganomics") und Margaret Thatcher ("Thatcherismus") waren die ersten bedeutenden Politiker, die neoliberale Ansätze in den Industriestaaten umsetzten.
Als neoliberales Musterland gilt vielen Neuseeland. Das Land hat - eingeleitet durch eine Labour-Regierung, fortgeführt von den Konservativen - einen radikalen Wechsel von einer der am stärksten regulierten Volkswirtschaften zu einer sehr liberalen vollzogen. Subventionen wurden radikal gestrichen, die Sozialsysteme stark zurückgebaut. Staatsbetriebe wurden privatisiert, Agrarsubventionen abgebaut, Kapitalverkehrskontrollen abgeschafft, die Zentralbank erlangte Unabhängigkeit, und der Spitzensteuersatz wurde halbiert. Neuseeland zählt heute zu den am stärksten deregulierten und privatisierten Volkswirtschaften der Welt.
In Österreich wandte sich die SPÖ/FPÖ Regierung 1985 mit einer Absage an den Keynesianismus einer restriktiven Budgetpolitik zu, 2003 setzte die ÖVP/FPÖ auf einen neoliberalen Kurs. In Deutschland vertritt vor allem die FDP (neo-)liberale Positionen, Kritiker bemängeln aber, dass in der Praxis die Programmatik häufig durch Klientelpolitik ersetzt werde. Neoliberale Ansätze gibt es aber auch in anderen Parteien. So wird das Reform-Programm Agenda 2010 der rot-grünen Bundesregierung von einigen Beobachtern als Praxisbeispiel neoliberaler Politik gewertet. Neoliberale Programmatik findet man außerdem in den Zielen verschiedener außerparlamentarischer Gruppierungen und Stiftungen, siehe unter Reforminitiativen.
Denkfabriken
Hayek dachte, dass zur Durchsetzung des Konzepts des Neoliberalismus mit einem Prozess zu rechnen wäre, der über zwei bis drei Generationen dauern würde, er gründete 1947 mit 36 liberalen Wissenschaftlern, vorwiegend Ökonomen, darunter auch Friedman, die Denkfabrik Mont Pelerin Society. Diese hat sich - neben der Verteidigung von Freiheit und Rechtsstaat - die Förderung von Privateigentum und Wettbewerb zur Aufgabe gemacht, die als wesentlich für eine freie Gesellschaft angesehen werden (siehe [1]). Weitere wichtige Institute wurden in der Folge gegründet: das Institute of Economic Affairs 1971 in London, die Heritage Foundation 1973 in Washington, D.C und die Atlas Economic Research Foundation, sowie das Fraser Institute und das Manhattan Institute for Public Policy Research. In Deutschland z. B. der Kronberger Kreis - wissenschaftlicher Beirat der Stiftung Marktwirtschaft, die es sich nach eigener Aussage zur Aufgabe gemacht hat, ihr Denken des "zukunftsweisende marktwirtschaftliche Konzepte zu entwickeln, bekannt zu machen und Politik und Öffentlichkeit für sie zu gewinnen".
Die WTO mit Ziel des weltweiten Freihandels vertritt neoliberale Forderungen. Auch Weltbank und IWF werden oft mit Neoliberalismus in Verbindung gebracht. Seine Verbreitung als Konzept wurde von Ökonomen der Weltbank und des IWF nach dem Zweiten Weltkrieg vorangetrieben, als Antwort auf die Programme zur Förderung von Entwicklungsländern, die nicht den gewünschten Erfolg zeigten: Förderungen für Großprojekte ließen die armen Länder mit Schulden und geringem Wirtschaftswachstum zurück, die größere Bedeutung liegt aber in den 1970er Jahren als Versuch, eine strukturelle Krise zu beantworten (s.a. Konsens von Washington). Die Gewährung von Krediten an ein Land wird oft von der Durchführung liberaler Reformen (vgl. Strukturanpassungsprogramm) abhängig gemacht. Allerdings werden IWF und Weltbank auch von neoliberaler Seite kritisiert, z.B. wenn durch Begünstigung lokaler Machteliten marktverzerrende und interventionistische Politik betrieben wird. Auch das Weltwirtschaftsforum (WEF) wird von vielen in seinen Zielsetzungen als neoliberal angesehen.
Kritik und Kritiker
Von Gewerkschaften und Globalisierungskritikern werden die von "neoliberaler" Politik geforderten Privatisierungen und die Einschränkung staatlicher Wohlfahrtsleistungen kritisiert, da sie zu einer 'Entfesselung des Marktes', aber auch zu einer Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse, führen. Dadurch verschärfe sich weltweit die soziale Lage und es komme zu einem Verlust demokratischer Teilhabe auch auf nationaler Ebene.
Neoliberale Positionen würden, so die Kritiker, einer Verengung der ökonomischen Sichtweise (la pensée unique- Einheitsdenken) Vorschub leisteten, welche einzelwirtschaftliche Rationalität auf die gesamtwirtschaftliche Rationalität überträgt. Manche Kritiker meinen, dass "Neoliberale" andere Menschen gerne an sich selbst mäßen und dabei vergessen würden, dass soziale Umstände und Zufall maßgebliche Einflußfaktoren für den persönlichen ökonomischen Erfolg sein können.
- Soziale Effekte der Deregulierung: Es wird kritisiert, dass Neoliberalismus den freien Wolf im freien Stall der freien Hühner frei wildern lasse, also durch diese 'Entfesselung des Marktes' Ungleichgewichte und Unausgewogenheiten (Nord-Süd-Gefälle, soziale Ungleichheit) eher verschärft würden, anstatt sie auszugleichen. So folgt etwa die Senkung der Einkommensteuer für Spitzenverdiener der Trickle-down-Theorie, welche empirisch kaum haltbar sei. Mit dem Rückzug des Staates greift in vielen Lebensbereichen die Logik des Marktes (vergleiche Kommodifizierung). Kritiker beklagen hier die fehlende Regulierung durch den Staat beziehungsweise der Einschränkung durch gesellschaftliche Normen. Der von neoliberalen Denkern gepriesenen Freiheit durch Marktchancen halten sie entgegen, dass dies in erster Linie die Freiheit von Wohlhabenden und Mächtigen darstellt. Achtet man allein auf Rendite, würden moralische oder soziale Normen leiden.
- Demokratische Teilhabe: Die Neoliberalisierung der Gesellschaft ginge mit dem Verlust demokratischer Einflussmöglichkeiten auf das Gemeinwesen einher, wenn über die Verfügung der Mittel zur Gestaltung unseres Lebens weniger Parlamente, Parteien, Gewerkschaften u.a. entschieden, sondern diese Entscheidungen an die Kräfte des Marktes abgegeben werden. Ein Rückfall auf vordemokratische Strukturen, die vor dem 20. Jahrhundert vorherrschend waren, solle vermieden werden. Je mehr öffentliche Bereiche (etwa Öffentlicher Raum, Bildung, gemeinnützige Wohnungsgesellschaften, Wasser, Energie, Verkehr, Kultur, Sport, medizinische Versorgung) in privates Eigentum übergehen, desto geringer wird der Einfluss der Bürger und der Parteien) darauf. Soziale Aspekte werden vernachlässigt zugunsten von Rendite. Über höhere Preise für die Versorgung im Rahmen von Privatisierungen würden die Bürger geschädigt. Neoliberale Politik führe zur Betonung des Konsums (Konsumgesellschaft) und erhöht Desinteresse an politischer Teilhabe. Auf internationaler Ebene richtet sich die Kritik vor allem gegen die Macht der WTO (Welthandelsorganisation"). Länder, die sich der WTO angeschlossen haben, erkennen die völkerrechtlich verbindlichen Entscheidungen der WTO-eigenen Schiedsstelle an, die bei Streitfällen vermittelt, und stellen sie damit über die nationale Gesetzgebung. So könnten etwa nationale Regelungen im Umweltschutz oder Verbraucherschutz von (privaten) Konzernen zu Fall gebracht werden, wenn die WTO diese als ein unzulässiges Handelshemmnis ("Notwendigkeitstest") anerkennt. Eine Schlichtung durch ordentliche Gerichte ist nicht vorgesehen, eine Berufung nicht möglich. Gremien wie die private Organisation Weltwirtschaftsforum, das gemäß von Kritikern neoliberale ZIele verfolge, träfen ohne demokratische Legitimation Weichenstellungen für die Zukunft.
- Umbau des Sozialstaats: Die jüngeren Reformbemühungen der Bundesregierung (Agenda 2010 und die entsprechende Debatte wird von einigen Beobachtern als Praxisbeispiel neoliberaler Politik gewertet: So wird das Bildungsangebot für Arbeitslose vermindert (z.B. Umschulungen stark eingeschränkt), was aus neolibeler Sicht damit begründet wird, dass es ohnehin genügend Qualifizierte am Arbeitsmarkt gebe. Der Bezug von Arbeitslosengeld wird an viele neue Bedingungen geknüpft, die Einzelfallprüfung der Bedürftigkeit deutlich verschärft. Bei diesen Maßnahmen wird kritisiert, dass Ämterschikane angeblich zum Maßstab im Umgang mit Hilfesuchenden gemacht würde. Auch im Gesundheitswesen verringert sich der Leistungsumfang, Selbstbehalte wurden erhöht, während als Folge neoliberaler Ansätze die Bürokratisierung (Beispiel: Praxisgebühr) sogar steigt und eine Diskriminierung sozial Schwächerer erfolge. Private Absicherung könne den Sozialstaat nicht ersetzen. Die neoliberale Sicht, dass es dadurch zu einer effizientere Verwaltung der Mittel des Bürger käme, wird von den Kritikern nicht geteilt, welche z.B. auf die Gewinne der Pharmaindustrie verweisen und die Ergebnisse der Reformbemühungen vor allem als Sozialabbau betrachten.
- Kirche: Die Zunahme des Wettbewerbs solle die Bedürfnisse der Schwächsten in der Gesellschaft nicht unsichtbar machen, meinte Kardinal Karl Lehmann, Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz: Die Befürworter neoliberaler Thesen seien leider "blind, wenn sie auf Menschen stoßen, die keine Voraussetzung haben, am Spiel des Marktes teilzunehmen" [2]. Vergl. auch Christliche Soziallehre.
- Kritik am Markt als Steuerungsinstrument: Die Keynesianischen Ökonomen (wie Joseph E. Stiglitz) meinen, dass ein ungeregelter Markt in einigen Fällen ein schlechtes Instrument sei und zu Marktversagen führen könne. Für den Keynesianismus sind die Erwerbsmöglichkeiten im entwickelten Kapitalismus keine Sache individueller Tatkraft. Sie richten sich nach dieser Theorie danach, ob es über die Marktprozesse gelingt, u.a. für die Investitionstätigkeit ausreichende Konsumgüternachfrage zu mobilisieren. Die Gegner des Neoliberalismus kritisieren, dass der freie Markt schädliche volkswirtschaftliche Ungleichgewichte erzeugen könne, da nur bei entsprechender Kaufkraft die jeweilige Nachfrage bedient würde. Außerdem gäbe es die Gefahr, dass Bedürfnisse, hinter denen keine entsprechende Kaufkraft steht, nicht abgedeckt werden. Als Beleg für die Schädlichkeit von Monopolen dient u.a. das Beispiel der Regulierungsbehörden, welche den Telefoniemarkt im Sinne freien Marktzugangs regeln musste, damit es zu einem Wettbewerb auf den deregulierten Märkten kommt. Auch wird kritisiert, dass die sozialen Folgen deregulierter Märkte von der Allgemeinheit zu tragen sind. Beispiele für derartige Problemkreise sind in den Bereichen Bildung, Altenpflege, Familienpolitik und zunehmend auch im Gesundheitssystem zu finden.
- Marxismus: Für marxistische Kritiker wird der Neoliberalismus nicht nur als Politik und als konkretes Unternehmerhandeln, sondern auch als Art und Weise der Konsumption bzw. der Lebensführung, wie Selbstmanagement (vgl. a. "Selbsttechnologie" (Michel Foucault)) verstanden. Sie ist eine Antwort auf sinkende Profitraten (Karl Marx), die durch eine bis in die 1970er Jahre steigende Produktivität nicht mehr wettgemacht werden können ("Krise des Fordismus") - der Klassengegensatz, der in Institutionen (z.B. Sozialpartnerschaft, Gewinnbeteiligungen) eine Zeitlang ruhiggestellt werden konnte, bricht wieder auf. Der Neoliberalismus ist aber nicht einfach eine Ideologie, sondern ein hegemoniales und plurales Projekt, das der ständigen Reartikulierung durch Intellektuelle - Antonio Gramsci spricht hier von organischen Intellektuellen - des Kapitals bedarf, um die Akzeptanz des Kapitalismus immer wieder neu abzusichern. Über die so genannten 'sozialen Verwerfungen' des Neoliberalismus hat sich insbesondere die Kritische Theorie geäußert.
Aus einer eher kulturellen Perspektive wendet sich Georges Bataille gegen das Primat des Nutzens, das Wert rein ökonomisch definiert und vermeintlich unproduktive Verausgabung jenseits der Gesetze des Marktes (z.B. Kunst, Verschwendung) immer seltener werden lässt. Auch in der weltweiten 68er-Bewegung wurde, besonders in Frankreich, die Ausweitung des Marktes auf immer mehr Lebensbereiche kritisiert. Die Punk-Bewegung knüpfte teilweise an diese Kritik an, stellte diesen Tendenzen das Konzept von Do it yourself entgegen.
Die Zapatistas luden zum ersten Mal 1996 zum „intergalaktischen Treffen gegen Neoliberalismus und für Menschlichkeit“. In Brasilien wurde aus Protest gegen "neoliberale" Globalisierung das Weltsozialforum gegründet. Opponenten des Neoliberalismus als wirtschaftliche Theorie sind Ökonomen wie Joseph E. Stiglitz und Amartya Sen. Auch der Börsenspekulant George Soros warnt nun, nach seinen Spekulationen, vor einem bedrohlichen Marktfundamentalismus. Pierre Bourdieu legte gemeinsam mit anderen mit „Das Elend der Welt “ (1997) eine cultural study (Kulturstudie) zum Thema vor: er sieht eine allgemeine Zunahme von Angst und Unsicherheit, sowie eine gesellschaftliche Spaltung und "Prekarisierung"; ein ähnliches Projekt betrieb nachfolgend Elisabeth Katschnig-Fasch. Naomi Klein kritisiert in ihrem Buch „No Logo“ die "Machenschaften globaler Konzerne" und Folgen neoliberaler Politik ebenso wie Noam Chomsky in „Profit over people“ oder Richard Sennet in „Der flexible Mensch“. Kritik am Neoliberalismus fällt dabei oft zusammen mit der Kritik an der neoliberal geprägten Form von Globalisierung, die nach Ansicht der Kritiker einseitig eine Globalisierung des Marktes, nicht aber der Menschenrechte anstrebt.
Jürgen Kromphardt kritisiert in seinem Buch "Konzeptionen und Analysen des Kapitalismus" dass die durch den freien Markt sich ergebende Umverteilung von den ökonomisch Erfolglosen zu den ökonomischen Erfolgreichen damit begründet wird, dass auf Dauer die höheren Leistungen der Erfolgreichen auch den Erfolglosen zugute kommen (so genannter "Trickle-Down-Effect"). Kromphardt meint, die Unsicherheit dieser Zukunftsversprechen und die Benachteiligung der Schwächeren werden als Strukturprobleme verharmlost. Neoliberale haben seiner Meinung nach die Tendenz, Fehlentwicklungen ihrer Konzepte zu verharmlosen oder zu leugen. Dabei benutzen sie die Strategie, reale Auswirkungen durch sprachliche Mittel zu rechtfertigen. Das wird deutlich, wenn sie den Vorwurf, man sei gegen den Sozialstaat, dadurch entkräften wollen, indem sie behaupten, nicht den Sozialstaat sondern den Wohlfahrtsstaat abschaffen zu wollen. Diese Vorgehensweise der neoliberalen Denkfabriken lässt nach Kromphardts Meinung nicht den Verdacht ausräumen, dass ihre Bemühungen nicht darauf ausgerichtet sind, die Realität wissenschaftlich zu erklären, sondern diese derart zu interpretieren, dass sie mit einer wirtschaftpolitischen Konzeption übereinstimmt, die eine vollkommene Befreiung der Privateigentümer von jeglichen gesetzlichen Einschränkungen fordert.
Zu den Gegnern des Neoliberalismus zählen sich auch die Freiwirtschaftler, nach deren Meinung schon eine dauerhaft stabile Währung ohne Umlaufsicherung unmöglich sei.
Zitat
- Öffentliche Leistungen werden überprüft. Verantwortung wird an die Bürger zurückgegeben. Das ist gut so. Denn durch mehr Bürgerfreiheit und "weniger Staat" entstehen neue Handlungsmöglichkeiten. (Josef Ackermann auf der Jahreshauptversammlung der Deutschen Bank 2005)
- Das Denkmuster, wonach eine höhere Macht schon alles richtet, wenn der Staat sich nur heraus hält, hat eine Jahrhunderte lange Tradition. Es findet sich schon bei Thomas von Aquin. Die höhere Macht war bei ihm der "liebe Gott". Das Zeitalter, das durch diesen Grundgedanken geprägt war, nannte man übrigens "Mittelalter". (Rudolf Dressler, ehemaliger Sozialexperte der SPD, bei seiner Abschiedsrede im Bundestag)
- Die sichtbare Hand des Managers - die tote Hand des Staates. Alfred O. Chandler
Siehe auch
- Liberalismus, Reform, Kapitalismus, Kapitalismuskritik, Globalisierung, Globalisierungskritik, Keynesianismus, Neoliberaler Institutionalismus
Literatur
- Milton Friedman: Kapitalismus und Freiheit ISBN 3821839600
- Friedrich Hayek: Die Verfassung der Freiheit ISBN 3161458443; Der Weg zur Knechtschaft. Olzog, München 2003. ISBN 3-789-28118-2
- Christoph Keese: Rettet den Kapitalismus ISBN 3455094236
- Otto Graf Lambsdorff: Freiheit und soziale Verantwortung ISBN 3898430413
- Margarita Mathiopoulos: Die geschlossene Gesellschaft und ihre Freunde ISBN 3455110711
- Claus Noppeney: Zwischen Chicago-Schule und Ordoliberalismus ISBN 3258058369
- Johan Norberg: Das Kapitalistische Manifest ISBN 3821839945
- Gabor Steingart: Deutschland - Der Abstieg eines Superstars ISBN 3492046150
- Ulrich van Suntum: Die unsichtbare Hand ISBN 3540410031
- Gerhard Willke: Neoliberalismus ISBN 3593372088
Kritik am Neoliberalismus
- Christoph Butterwegge: Krise und Zukunft des Sozialstaates, Wiesbaden 2005
- Christoph Butterwegge/Rudolf Hickel/Ralf Ptak: Sozialstaat und neoliberale Hegemonie, Berlin 1998, ISBN 3885207184
- Mario Candeias: Neoliberalismus, Hochtechnologie, Hegemonie ISBN 3886192997
- Noam Chomsky: Profit over People - Neoliberalismus und globale Weltordnung ISBN 320376010X
- Keith Dixon: Die Evangelisten des Marktes ISBN 3896-699512
- Wolfgang Fritz Haug, High-Tech-Kapitalismus, Argument Verlag 2003
- Albrecht Müller: Die Reformlüge, München 2004, ISBN 3426273446
- Egon Edgar Nawroth: Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus. Kerle, Heidelberg 1961
- Jörg Reitzig: Gesellschaftsvertrag, Gerechtigkeit, Arbeit, Münster 2005, ISBN 3-89691-611-4
- Holger Schatz: Arbeit als Herrschaft. Die Krise des Leistungsprinzips und seine neoliberale Rekonstruktion ISBN 3-89771-429-9
- Egbert Scheunemann: Der Jahrhundertfluch - Neoliberalismus, Marktradikalismus und Massenarbeitslosigkeit, ISBN 3825870464
- Herbert Schui / Stephanie Blankenburg: Neoliberalismus: Theorie, Gegner, Praxis, Hamburg, 2002 ISBN 3879758549
Weblinks
- Offizielle Website der Friedrich A. von Hayek-Gesellschaft
- Dieter Lösch: Der verunglimpfte Neoliberalismus
- Lothar Funk: Neoliberalismus
- Übersetzungen "Neoliberalismus" der Wikipedia.fr und Wikipedia.en
Kritik am Neoliberalismus
- Telepolis: Das zweite Scheitern des Liberalismus (Teil 1), (Teil 2)
- Manager-Magazin: Muss der Kapitalismus vor den Kapitalisten gerettet werden? (Kommentar von Fredmund Malik)
- Michael Rösch: Was verstehen wir unter Neoliberalismus
- Michael R. Krätke: Neoklassik als Weltreligion?
- Neoliberalismus und katholische Soziallehre
- Karl-Heinz Brodbeck zum Neoliberalismus