Rechtsstaat (Schweiz)
„Rechtsstaat“ ist vor jeder Möglichkeit einer gegenstandsbezogenen Definition vor allem eines: ein Wort, und zwar ein Wort, dessen Bedeutung umstritten ist – ein essentially contested concept i.S.v. Walter Bryce Gallie.
Entsprechend unklar oder widersprüchlich sind – auch auf aufgrund der Schwierigkeiten das Verhältnis von Recht und Gesetz im Deutschen und jedenfalls einigen romanischen Sprachen (bspw. im Kast. derecho und ley; im Ital. diritto und legge) zu bestimmen – gängige gegenstandsbezogene Definitionen des Wortes „Rechtsstaat“: So definiert der Brockhaus[1] den Rechtsstaat als „ein Staat, dessen Tätigkeit vom Recht bestimmt und begrenzt wird.“ Damit ist wenig ausgesagt, solange nicht geklärt ist, ob mit Recht die gegebenen Gesetze oder vielmehr ein moralisches Verständnis von Recht gemeint ist.
Diese Kritik trifft auch die bisher an dieser Stelle angebotene Definition: „Im Gegensatz zum absolutistischen Staat wird die Macht des Staates umfassend durch Gesetze determiniert, um die Bürger vor Willkür zu schützen (formeller Rechtsstaatsbegriff). Ein Rechtsstaat moderner Prägung ist darüber hinaus auf die Herstellung und Erhaltung eines materiell gerechten Zustands gerichtet (materieller (auch: materialer) Rechtsstaatsbegriff). Objektive Wertentscheidungen haben – anders als subjektive Rechte des Einzelnen – die Funktion einer Begrenzung der Gesetzgebung durch festgeschriebene Prinzipien."
Damit sind bereits die wichtigsten Fragen angesprochen, die den Rechtsstaats-Begriff in Wissenschaft und Politik umstritten macht: Sind das Recht des Rechtsstaats die Gesetze? Oder vielmehr die Gerechtigkeit? Ist ein formelles oder ein „materielles“ (substantialistische) Rechtsstaats-Verständnis vorzuziehen?
Das „darüber hinaus“ in dem angeführten Zitat liefert dabei eine nur scheinbare Versöhnung der beiden unterschiedlichen Rechtsstaats-Konzepte, denn die praktisch entscheidende Frage ist ja, was geschehen soll, wenn sich die Gesetze und evtl. sogar die Verfassung – nach wessen Ansicht auch immer – als „ungerecht“ erweisen. Siehe zu den in den beiden vorstehenden Absätzen angesprochenen Fragen den → Hauptartikel Formeller und materieller Rechtsstaat.
Das Wort „Rechtsstaat“
Das Wort „Rechtsstaat“ (in dieser Schreibweise) hat einen Vorläufer bei Johann Wilhelm Placidus (Johann Wilhelm Petersen), der die Lehre Kants und dessen Anhänger als die der „Widerspruchspartei – d[er] kritische[n] oder d[er] Schule der Rechts-Staats-Lehrer“ bezeichnete[2] und damit wohl am Anfang der Geschichte des Wortes „Rechtsstaat“ steht[3]. Kritisch gegenüber oder im Widerspruch zu stand diese Schule im Verhältnis zur eudämonistischen[4] Staatslehre oder der – wie Placidus sagte – Schule der „Staatsglückseeligkeitslehrer oder politischen Eudämonisten“. Placidus teilte diese Opposition der Kritischen Schule gegenüber den Eudämonisten im Grundsatz und bezeichnet Kant als den „unsterblichen Urheber des kritischen Systems“. Aber er machte auch bereits entscheidende Einwände gegen die kantianische Lehre: Erstens gegen die Vernachlässigung der „Erfahrung“ (im Sinne des empirie-orientierten britischen Philosophie und Wissenschaftstheorie) und zweitens gegen die politische Konsequenz, die aus Kants transzendentaler statt demokratischen Begründung des Rechts und der Staatsgewalt folgt: nämlich gegen Kants „Verdammlichkeit jedes Aufstandes“ der Bürger gegen den Staat.[5]
Damit wurde Placidus freilich nicht schulebildend für den Begriff des Rechtsstaats. Dieses Wort (in der heutigen Schreibweise) findet sich vielmehr – soweit wir wissen – erstmals (und zwar in affirmativer Verwendung) bei dem Romantiker Adam Müller, einem Anhänger der absoluten Monarchie: Müller spricht vom „wahre[n] organische[n] Rechtsstaat“ und macht damit einen impliziten Gegensatz zum ‚unwahren’ bzw. ‚unorganischen’ (Rechts)Staat auf. In diesem Sinne nimmt Müller eine Unterscheidung zwischen einerseits „einseitigen“ und andererseits „organischen, lebendigen Staaten“ vor: „Staaten, welche die Natur bloß für den Handel, oder bloß für den Ackerbau, oder bloß für den momentanen Krieg mit physischen Waffen abgerichtet hat, sind einseitige, vorübergehende, unorganische Staaten; denn ihnen fehlt das eigentliche Kennzeichen des Lebens, das, was dem Staat Dauer und wahre Haltung giebt, […], die große Spur der wachsenden Rechts-Idee“.[6]
Damit sind nun in der Tat zwei für die weitere Begriffsgeschichte wichtige Gedanken ausgesprochen: 1. ein idealistisches Rechtsverständnis („große Spur der wachsenden Rechts-Idee“) und 2. die staats-affirmative Wendung des Rechtsstaats-Konzeptes (die „Rechts-Idee“ gibt „dem Staat Dauer und wahre Haltung“), die aber beide in der weiteren Begriffsgeschichte nicht unumstritten blieben.
In dieser fiel das Wort als nächstes in die Hände der deutschen Liberalen des 19. Jahrhunderts und erhielt nun eine Wendung gegen die absolute Monarchie, aber immer noch nicht für demokratisch-republikanische Verhältnisse, sondern für die konstitutionelle – nicht einmal: parlamentarische – Monarchie.[7] In diesem Sinne wird das Wort von den führenden Vertretern des süd(west)deutschen Liberalismus, Welcker, Aretin und Rotteck verwendet, ohne bereits eine große Verbreitung zu erlangen. Diese setzt vielmehr – nach weitgehend übereinstimmender Einschätzung in der späteren Literatur[8] – erst mit den Schriften von Robert von Mohl ein, der das Wort wohl als erster im Rahmen eines Buchtitels verwendet[9].
Dieser behält die Präferenz für die konstitutionelle Monarchie bei. Für ihn ist der Rechtsstaat (auch wenn er dessen Verbindung mit Demokratie, Aristokratie und auch absoluter Monarchie ebenfalls für möglich hält) doch „namentlich [...] die Einherrschaft mit Volksvertretung“, also die deutsch-konstitutionelle (nicht britisch-parlamentarische) Monarchie. Das englische Beispiel der „repräsentative[n] Demokratie“, in der die Krone weitgehend entmachtet ist (der Begriff „Demokratie“ war angesichts der damaligen Wahlrechtsregelungen allerdings übertrieben), sei „während der französischen Umwälzungstürme nur zu häufig nachgeahmt“ worden, bedauerte Mohl.[10][11]
Der Begriff "Rechtsstaat"
Während geklärt ist, dass „Rechtsstaat“ in der eben beschriebenen Weise ein deutsches Erbwort ist, das in verschiedene andere Sprachen entlehnt worden ist, ist in der neueren Forschung umstritten, ob auch das Konzept[12] „Rechtsstaat“ spezifisch deutsch ist oder begriffliche Entsprechungen in anderen Ländern, insbesondere im angelsächsischen Raum, hat.
Die klassische Sichtweise formulierte in den 1860er Jahren Lorenz Stein: „Man muß zunächst davon ausgehen, dass Wort und Begriff des ‚Rechtsstaates’ spezifisch deutsch sind. Beide kommen weder in einer nicht deutschen Literatur vor, noch sind sie in einer nicht deutschen Sprache correct wieder zu geben.“[13]
Mehr als 100 Jahre später muss Richard Bäumlin dies nur wenig ergänzen: Auch er stellt fest, dass sich der deutsche Rechtsstaat von vornherein von der britischen rule of law unterscheidet[14], aber er muss nunmehr hinzufügen: „Übersetzungen wie État de Droit im Französischen und Estado de Derecho im Spanischen sind von der deutschen Staatsrechtslehre (insbes. über G. Jellinek und C. Schmitt) inspiriert und verbinden sich z.T. (etwa in Italien, Spanien und Lateinamerika) mit der Forderung nach vor allem ökonomischen Rest-Freiheiten unter autoritären Regierungsformen.“[15]
Lorenz Stein hatte nicht nur den „spezifisch deutsch[en]“ Charakter des Rechtsstaats festgestellt, sondern auch schon Wichtiges zu der Frage gesagt, worin diese Spezifik des deutschen Rechtsstaats besteht: Es ist dies die prekäre Stellung des Gesetzes in Deutschland: Die Idee des Rechtsstaats beinhalte nach Stein ein „System von Rechtsgrundsätzen und Rechtsmitteln, durch welche die Regierung zur Innehaltung des gesetzlichen Rechts in ihren Verordnungen und concreten Thätigkeiten gezwungen werden soll. Ein solcher Begriff war für England durchaus überflüssig, da die Thatsache seines öffentlichen Rechts ohnehin jene Forderung erfüllte; für Frankreich ebenfalls, weil hier neben dem Begriff des Gesetzes die Grundsätze der Verantwortlichkeit und des Verfahrens sehr klar ausgesprochen waren, […]. Allein für Deutschland, das ein halbes Jahrhundert hindurch keine Verfassung, keinen festen Begriff des Gesetzes, und also auch keinen Begriff der Regierung hatte, mußte man die Begränzung“ – N.B.: nicht Konstituierung – „der letzteren [dass heißt: Begrenzung der Regierung] in das Gebiet der Theorie“ – dass heißt: außerhalb der geschriebenen Gesetze – „verlegen, da man sie in dem der Gesetzgebung vergeblich suchte.“[16]
Die Regierung wurde also nicht parlamentarisch konstituiert; sie wurde auch nicht in ihrer Macht durch parlamentarische Gesetze, sondern durch Konstruktionen der Rechtstheoretiker begrenzt, so Steins Beschreibung des Rechtsstaats.
In der neueren wissenschaftlichen Diskussion gibt es vereinzelte Versuche diese klassische Unterscheidung zwischen der deutschen Rechtsstaats-Konzeption einerseits und andererseits der französischen des État légal und der angelsächsischen der rule of law in Frage zu stellen. So sieht MacCormick Rechtsstaat und rule of law als Ausdruck des „gleichen Ideal[s]“[17].
Im Anschluß an MacCormick sowie unter Hinweis auf Sommermann[18] und Buchwald[19] vertritt Schulze-Fielitz[20] die These, dass angelsächsische rule of law und deutscher Rechtsstaat „mittlerweile […] weithin deckungsgleich“ geworden seien, was impliziert, dass dem nicht immer so war („mittlerweile“).
Im Kontext eines betont formellen Rechtsstaats-Verständnis[21] – schon MacCormick verglich seine britische, „doch recht formale“ Konzeption mit der ebenfalls „relativ formalen“ von Kelsen[22] – gelangt Erhard Denninger[23] zu der These, dass Rechtsstaat und rule of law weitgehend ‚gleichsinnig’ seien und fordert in diesem Sinne eine Öffnung der deutschen für die angelsächsische Diskussion.
Die Formulierung von Schulze-Fielitz ist also eher deskriptiv und lässt im übrigen offen, welche Seite im mittlerweile vollzogenen Angleichungsprozeß die den stärkeren Änderungen unterzogene ist. Die Formulierung von Denninger ist dagegen teilweise programmatisch und verortet den Anpassungsbedarf auf deutscher Seite.
Auch in der neuesten Auflage des Evangelischen Staatslexikons kommen zwei unterschiedliche Sichtweisen zu Wort:
Katharina Gräfin von Schliefen stellt den Rechtsstaat als deutschen Exportschlager dar: „Bis in das 20. Jh. bleibt der R.[echtsstaat] als Begriff und Institut auf den deutschen Sprachraum beschränkt. Jedoch bewährt sich der Begriff seit einem halben Jh. in anderen Ländern und in internationalen Beziehungen, so dass der R.[echtsstaat] aus heutiger Sicht nicht mehr als ‚deutscher Sonderweg’ bezeichnet werden kann.“[24]
Wolfgang Lienemann erinnert dagegen an die traditionellen Unterschiede zwischen der angelsächsischen rule of law und dem hegemonial „materiellen“ deutschen Rechtsstaats-Verständnis: „Ob man den R.[echtsstaat] eher i.[m] S.[inne] d.[er] (formalen) angelsächsische Prinzips der ‚rule of law’ versteht und einer Form des Rechtspositivismus anhängt (Kelsen) oder eher für eine (minimale) sittliche Rechtfertigungsbedürftigkeit des Rechts (Dreier) argumentiert, hängt von der Extension des jeweiligen Rechtsbegriffs und (auch) von der historisch-kulturellen Einbettung des Rechtssystems im Leben einer politischen Gesellschaft ab.“[25]
Unabhängig von der Frage, ob das Folgende nun ein deutsches Spezifikum darstellt, besteht jedenfalls weitgehende Einigkeit darin, dass das deutsche Rechtsstaats-Konzept durch die starke Stellung der Gerichte gekennzeichnet ist; sie sind es, die das eingangs angesprochene Ideal-Recht gegebenenfalls auch ohne gesetzliche Grundlage implementieren[26]:
- „Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die […] in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen“, so das Bundesverfassungsgericht[27].
In diesem Sinne ist der deutsche Rechtsstaat zunächst ein Staat der Verwaltungsgerichte[28] und dann auch der Verfassungsgerichte[29]:
In seiner 1864 erschienenen Schrift „Der Rechtsstaat – eine publicistische Skizze“ entwickelte der Jurist und spätere Reichstagsabgeordnete Otto Bähr aus seinem kurhessischen Heimatrecht das Prinzip eines Staates, dessen Verwaltungshandeln vor Gericht nachgeprüft werden kann. Der Rechtsstaat umfasst für ihn also insbesondere den Rechtsweg zu unabhängigen Gerichten, wie er in etwa heute in Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (Verfassung) der Bundesrepublik Deutschland verankert ist.
Eine – als solche auch von Autoren, die es im übrigen ablehnen, scharf zwischen westlichem Parlamentarismus und deutschem Rechtsstaat zu unterscheiden, sondern die vielmehr von der Existenz einer großen, alten und in sich differenzierten Familie von Rechtsstaaten sprechen, benannte – Besonderheit des deutschen Rechtsstaats-Konzeptes ist seine weitgehende politische Zahnlosigkeit im Verhältnis zum feudal-monarchischen Ancien Régime und in Bezug auf eine Demokratisierung des politischen Systems.[30]
Rechtsstaat und Positivismus
Eine vielfach vertretene[31], aber umstrittene These lautet: Die Begrenzung der Staatsgewalt durch das Rechtsstaatsprinzip habe sich ursprünglich in der formellen Betrachtung des Rechtsstaats erschöpft. Allein das positive Recht (im Gegensatz zum Naturrecht) solle Maßstab der Rechtsbindung der Staatsgewalt sein. Es sei als ausreichend angesehen worden, daß eine staatliche Maßnahme in einem Gesetz vorgesehen ist. Diese Betrachtung habe zwar die Rechtssicherheit, die vor allem in der Vorhersehbarkeit staatlichen Handelns liege (und die nach wie vor wichtig sei), gewährleistet, habe aber durch ihre Beschränkung auf die Form nicht verhindern können, daß selbst das größte moralische Unrecht noch in Gesetzesform gegossen wurde.
Die Nationalsozialisten hätten sich auf diese Weise ab 1933 in Deutschland eine gesetzliche Grundlage in Form der Nürnberger Gesetze und vieler weiterer Einzelregelungen schaffen und so ihre Ziele bis hin zum Völkermord auf eine formaljuristische Grundlage stellen können.
Zur Verhinderung weiteren Mißbrauchs im Rahmen des Rechtspositivismus habe die Rechtswissenschaft ab 1945 deshalb den materiellen Rechtsstaatsbegriff auf der Grundlage des Naturrechts und der Menschenrechte entwickelt.[32] Als wichtigster rechtsphilosophischer Ansatz dieser Korrektur gilt die Radbruchsche Formel:
„Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“
Die Gegenauffassung verweist auf das schon im 19. Jh. in Deutschland vielfach vertretenen idealistische Rechtsverständnis, die späte Parlamentarisierung des politischen Systems in Deutschland[33], und vor allem darauf, daß während der Weimarer Republik der parlamentarische Gesetzgeber gerade im Namen eines anti-positivistischen Rechtsverständnis angegriffen wurde[34] (während das idealistische Rechtsverständnis gegenüber den Gesetzgebungsinstanzen des Deutschen Kaiserreichs kaum praktisch in Anschlag gebracht wurde, sondern gleichsam im Hintergrund oder ‚virtuell’ blieb[35]). Des weiteren wird die (formelle) Legalität der nationalsozialistischen Machtübernahme[36] und somit die Mitverantwortung des Positivismus für selbige bestritten[37] und vielmehr die These von einer Kontinuität[38] eines hegemonial anti-positivistischen Rechtsverständnis in Deutschland vor, während und nach der Herrschaft des Nationalsozialismus vertreten[39]. Gesetzgebung und Gesetzmäßigkeit seien keinesfalls die vorrangigen Handlungs- und Legitimationsformen des Nationalsozialismus gewesen,[40] und für die industrielle Ermordung von Millionen Juden und Jüdinnen gab es auch im Nationalsozialismus keine gesetzliche Grundlage. Auch die von Radbruch in Anspruch genommenen Begriffe der Gleichheit und Gerechtigkeit[41] böten keine sichere Grundlage um, Recht und Nicht-Recht zu unterscheiden, sind doch die Gleichheits- und Gerechtigkeits-Konzepte nicht weniger umstritten als die Rechts- und Rechtsstaats-Konzepte. So liege im Übergang von substantialistischen, antiken zu modernen, prozeduralen Gerechtigkeitskonzeption[42] eine Demokratisierung der Definition von Gerechtigkeit; und es waren gerade die Nazis, die sich statt auf ‚bloß formeller’, juristischer Gleichheit auf substantialistische Artgleichheit beriefen[43]. Schließlich stelle der Satz, „Es sollte ausreichen, daß eine staatliche Maßnahme in einem Gesetz vorgesehen ist.“, die positivistische Position auch nur insofern korrekt dar, als es die juristischen Beurteilung von Legalität oder Illegalität einer Handlung o.ä. betreffe. Davon sei aber die politische Beurteilung der fraglichen Handlung und auch die Frage, ob im jeweiligen Fall legal gehandelt werden solle oder vielmehr illegaler Widerstand zu leisten sei[44], zu unterscheiden. Die Identifizierung von juristischer Erkenntnis, politischer Beurteilung und praktischer Handlung sei eine von den AntipositivistInnen erst von außen an den Positivismus herangetragene, aber keine Grundlage für eine Kritik der tatsächlichen Position des letzteren.
Rechtsstaatsprinzip in der Bundesrepublik Deutschland
Geschichtliche Entwicklung und Bedeutung
Der neuzeitliche Begriff des Rechtsstaates ist Ende des 18. Jahrhunderts aufgekommen. Die Bedeutung des Wortes stabilisierte sich – nach der dargestellten Verwendungsweise bei Placidus und Müller – als Gegenbegriff zu „Despotie“ und „Theokratie“[45], aber nicht als Gegenbegriff zu „Monarchie“ und „Aristokratie“[46] –, und die Abgrenzung von der „Despotie“ schloß die Abgrenzung vom „Pöbeldespotismus“[47], d.h. von der Demokratie, ein.
Erste Entwicklungsetappe Rechtsstaat vs. Polizeystaat
Ein weiterer Begriff, der als Gegenbegriff die Bedeutung von „Rechtsstaat“ mitprägte, war der des „Polizeystaates“. Dabei muß berücksichtigt werden, daß der damalige Polizey-Begriff viel umfassender war als der heutige Polizei-Begriff. Wovon der Rechtsstaat damals abgegrenzt wurde, war nicht die Repressivfunktion, die für den heutigen Polizei-Begriff charakteristisch ist, sondern der umfassende, quasi gesellschafts-gestalterische Anspruch der damaligen „guten Polizey“: „Im Jahre 1476 tauchte der Begriff ‚Polizey’ zum ersten Mal in Deutschland in einer bischöflichen Verordnung der Stadt Würzburg auf und nachfolgend im 16. Jahrhundert in den Reichspolizeiordnungen von 1530, 1548 und 1577. Die ‚gute Polizey’ umschrieb darin einen Zustand guter Ordnung des Gemeinwesens sowie der allgemeinen Wohlfahrt und umfasste mit dem weiten Bereich des rechtlich geordneten Zusammenlebens quasi die gesamte Rechtsordnung, ohne einen Unterschied zwischen öffentlichem und privatem Recht zu machen. […]. Die zeitgenössische Wissenschaft [des 17./18. Jh.s] bemühte sich [dann], für diesen Zustand positive Bezeichnungen zu erfinden, welche eine Rechtfertigung derartiger Machtbefugnisse ermöglichen sollte. Die Staatstheorie sprach deshalb von zwei staatlichen Aufgaben, die materiell im Polizeibegriff zusammengefasst seien: die Gewährleistung von Sicherheit und die Förderung der öffentlichen Wohlfahrt.“
Eine Kritik der Repressiv-Funktion der Polizei beinhaltete der Rechtsstaats-Begriff zunächst nicht oder allenfalls am Rande. Vielmehr zielte er auf eine Reduktion des umfassenden Polizey-Begriffs auf dessen – affirmierten! – repressiven Aspekte.[48]
Ein „Rechtsstaat“ ist in seiner liberalsten – d.h. am wenigsten von den spezifischen Verhältnissen im ‚Deutschland’ des 19. Jahrhunderts geprägten – Bedeutung schlicht ein moderner[49], d.h. mit Gewaltmonopol ausgestatteter Staat, wie er durch die westlichen Gesellschaftsvertragstheorien gerechtfertigt wird. Der „Staatsbegriff […] in seiner Vollendung [ist] ja nicht Anderes […] als der Rechtsstaat“.[50] Die Menschen verzichten durch den Gesellschaftsvertrag, mit dem sie sich gegenseitig als freie und gleiche Vertragspartner (später auch: -innen) anerkennen, auf ihr ‚Naturrecht auf alles’, beschränken sich fernerhin auf konkret gesetzlich festgelegte Rechte und schaffen den Staat, der die Einhaltung des Gesellschaftsvertrages gegen Rechts-/VertragsbrecherInnen durchsetzt. In dieser Weise war für Johann Christoph von Aretin und Carl von Rotteck „Rechtsstaat“ derjenige Staat, „in welchem nach dem vernünftigen Gesammtwillen[51] regiert, und nur das allgemeine Beste bezweckt wird.“ Und – jetzt kommt der entscheidende Punkt – das „allgemeine Beste“ sei „die möglichst Freiheit und Sicherheit aller Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft.“[52] In gleicher Weise stellt schließlich auch Mohl – unter Bezugnahme auf Grotius – „Ursprung; erste wissenschaftliche Begründung“ der „Idee des Rechtsstaates“ dar: „Zunächst zeigte er [Grotius], dass der Mensch nach Offenbarung und Geschichte das Bedürfnis eines vernünftigen, d.h. friedlich geordneten, Zusammenlebens mit Anderen habe, und entwickelte dann die Regeln dieses Zusammenlebens der Einzelnen auf der Grundlage der gegenseitigen Rechtsachtung. Hieraus ging auch die allgemeine Begründung des Staates hervor. Eine Macht und Ordnung zur Aufrechterhaltung des friedlichen Zusammenlebens der zu einem Volk Gehörigen, lehrte er, sei unentbehrlich; […].“[53] Der „Vertrag freier Menschen“ sei „nicht nur die Form der Entstehung des Staates, sondern zu gleicher Zeit auch die rechtliche Begründung desselben und seiner Gewalt.“[54]
Mohl selbst war allerdings mit dieser anti-polizeystaatlichen Stoßrichtung des Rechtsstaats-Begriffs nicht einverstanden: „Rechtssicherheit für den Einzelnen“ sei eine „allzu enge Zweckbestimmung des Staates“[55]. Mohl lobte demggü. Herbart, der „dem Staat nicht nur ein, den wirklichen menschlichen Verhältnissen und Bedürfnissen entsprechendene[n] Umfang gegeben; sondern auch überhaupt das negative Wesen des Kant’schen Staatswesens beseitigt“ habe.[56] Der Rechtsstaat habe nicht nur Rechtsschutz als Aufgabe, sondern die Aufgabe, zwei Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die dem einzelnen bei der „möglichst allseitigen Ausbildung seiner Naturkräfte und folglich de[m] Erwerb und Genuß der dazu dienlichen Mittel“ im Weg stehen können: nämlich „den unrechtlichen Willen anderer Menschen und die Übermacht äußerer Hindernisse. Beiderlei Hindernisse muß der Staat entfernen“.[57] Die erste Funktion nennt Mohl „Justiz“ und die zweite Funktion – für den heutigen Sprachgebrauch etwas überraschend, aber an den älteren, weiteren absolutistisch-wohlfahrtsstaatlichen Polizey-Begriff anknüpfend – „Polizei“. Mohl kommt, da „Recht nur die Hälfte der Tätigkeit dieser Staatsgattung ist“, zu dem Ergebnis: „man müßte ihn [den Rechtsstaat] eigentlich ‚Rechts- und Polizeistaat’ nennen“, spricht aber im übrigen – da dies der „gebrauchtere“ (d.h.: üblichere) Begriff ist[58] – auch seinerseits nur von „Rechtsstaat“, um beide Funktionen abzudecken.
Zweite Etappe: Zuspitzung des Rechtsstaats-Konzeptes auf die Forderung nach einer gerichtlichen Verwaltungskontrolle
Ende des 19. Jahrhunderts – mit dem Scheitern der Verfassungsbewegung von 1848/1849 (Paulskirchenverfassung) – wurde die liberale Auffassung von der Lehre des formellen Rechtsstaats verdrängt. Der Rechtsstaat bedeutete nicht mehr Ziel und Inhalt des Staates, sondern wurde auf ein bloßes formales Prinzip reduziert, welches sich auf das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und den Verwaltungsrechtschutz durch unabhängige Gerichte beschränkte. Der Rechtsstaat wurde formalisiert, er wurde zu einem gesetzespositivistischen, formellen Begriff („Gesetzesstaat“). Durch die Herrschaft der Gesetze, allgemeiner und bestimmter Rechtssätze, sollte erreicht werden, dass das staatliche Handeln vorhersehbar, berechenbar und durch unabhängige Gerichte kontrollierbar war. Das Gesetz galt als rechtliche stärkste Art von Staatswillen. Dieser Rechtsgedanke wurde im Wesentlichen von der Weimarer Reichsverfassung übernommen.
Nach dem NS-Regime wurde nach 1945 der Rechtsstaatsbegriff in zwei Richtungen fortgebildet und neu bestimmt. Zum einen in Richtung eines sozialen Staates anstatt eines nur bürgerlich-liberalen Rechtsstaates, zum anderen in Richtung eines materiellen, anstatt eines bloß formellen Rechtsstaats.
Im Grundgesetz sind inhaltliche Elemente des Rechtsstaatsprinzips an verschiedenen Stellen (zum Beispiel Gewaltenteilung in Art. 20 Abs. 2) erwähnt. Namentlich kommt der Begriff „Rechtsstaat“ in Art. 28 Abs. 1 vor. Generell wird für das Rechtstaatsprinzip Art. 20 Abs. 3 GG zitiert.
Das Rechtsstaatsprinzip ergibt sich nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus einer Gesamtschau der Bestimmungen des Art. 20 Abs. 3 GG über die Bindung der Einzelgewalten und der Art. 1 Abs. 3 GG, 19 Abs. 4 GG, 28 Abs. 1 Satz 1 GG sowie aus der Gesamtkonzeption des Grundgesetzes. [59].
Prinzipien
Das Rechtsstaatsprinzip lässt sich in vier Prinzipienkategorien einordnen: Gewaltenteilung, Berechenbarkeit staatlichen Handelns, Grundrechte und Sicherungsmechanismen.
Gewaltenteilung
→ Hauptartikel: Gewaltenteilung
Die Aufteilung der Staatsgewalt auf Legislative, Exekutive und Judikative ergibt sich unter anderem aus Art. 20 Abs. 2 GG:
„Die Staatsgewalt wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“
Diese Aufteilung wird in Absatz 3 wiederholt und ist auch Grundlage der Kapitel-Struktur des Grundgesetzes.
Die ursprünglich von Montesquieu vorgesehene Trennung der Gewalten wird nach dem Konzept des Grundgesetzes an vielen Stellen nicht strikt eingehalten. Am Beispiel der Gesetzgebung zeigt sich, dass Legislative und Exekutive eng zusammenarbeiten: regelmäßig legt die Bundesregierung (Exekutive) einen Gesetzentwurf vor, mittels ihres Initiativrechts, der vom Parlament (Legislative) beschlossen und vom Bundespräsidenten (Exekutive) ausgefertigt wird. In der Praxis ist die Nähe zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit so deutlich, dass eher von einer Gewaltenteilung zwischen Regierungsmehrheit und Opposition ausgegangen werden kann. Die Trennung der Gewalten ist deshalb tatsächlich nur gegenüber der Judikative deutlich ausgeprägt. Richter werden zwar vom Parlament gewählt und von der Exekutive ernannt, sind in ihrer Tätigkeit aber durch die richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 GG) vor einer politischen Einflussnahme geschützt.
Innerhalb der Gewaltenteilbereiche ist eine weitere Gliederung vorhanden. Der Exekutive sind Bundeskanzler, Bundesregierung, Bundesverwaltung und Bundespräsident zuzuordnen.
Diese horizontale Gewaltenteilung auf der Ebene des Bundes wird in der Struktur der Staatsorganisation durch eine vertikale Gewaltenteilung ergänzt: Bund, Länder und Gemeinden beschränken den Umfang der zentralen Staatsgewalt des Bundes durch eigene fachliche Zuständigkeiten, wobei sie ihrerseits ihre Hoheitsgewalt horizontal aufteilen.
Berechenbarkeit staatlichen Handelns
Der Rechtsstaatsbegriff des Grundgesetzes umfasst eine Reihe von Grundsätzen, die der Berechenbarkeit staatlichen Handelns dienen:
- Gesetzmäßigkeit (Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes)
- Rückwirkungsverbot (Vertrauensschutz)
- Verhältnismäßigkeit
Gesetzmäßigkeit
Die Gesetzmäßigkeit oder Rechtsbindung staatlichen Handelns folgt unmittelbar aus Art. 20 Abs. 3 GG:
„Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.“
Daraus ergeben sich folgende Grundsätze:
- die Legislative darf nicht gegen die Verfassung handeln (Vorrang der Verfassung),
- Exekutive und Judikative dürfen nicht gegen ein Gesetz handeln (Vorrang des Gesetzes),
- Exekutive und Judikative dürfen in vielen Fällen (z. B. bei Eingriffen in Grundrechte) nicht ohne ein Gesetz handeln, sondern sind von einer gesetzlichen Eingriffsermächtigung abhängig (Vorbehalt des Gesetzes).
Rückwirkungsverbot
Dieses Gebot bezieht sich auf den Strafprozess. Der Vertrauensschutz ist eine wichtige Ergänzung der rechtsstaatlich gebotenen Rechtssicherheit. Man soll darauf vertrauen dürfen, dass die Rechtslage nicht rückwirkend zum eigenen Nachteil geändert wird. Am deutlichsten formuliert das Art. 103 Abs. 2 GG für das Strafrecht: Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde, nulla poena sine lege
Das absolute Rückwirkungsverbot ist jedoch auf das Strafrecht beschränkt. Im Verwaltungsrecht können rückwirkende Gesetze zulässig sein, besonders wenn sie eine unechte Rückwirkung bewirken, weil sie lediglich in laufende Verhältnisse einwirken. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn die Prüfungsordnung nach Aufnahme des Studiums geändert wird.
Verhältnismäßigkeit (Schranken-Schranken)
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist eine materielle Komponente des Rechtsstaatsbegriffs und dient dem Schutz vor übermäßiger oder unangemessener Beeinträchtigung der Rechte des Einzelnen. Die Rechtsbindung der Staatsorgane allein bietet nicht in jedem Einzelfall ausreichend Schutz, so dass es im Rahmen des Grundrechtsschutzes eines weiteren Kontrollmittels bedarf. Das Gebot der Verhältnismäßigkeit gilt für alle staatlichen Maßnahmen (also unter anderem auch für Gesetze, Verwaltungsakte und Gerichtsurteile). Der Gesetzgeber darf grundsätzlich in Grundrechte eingreifen, allerdings sind auch diese Eingriffe wiederum beschränkt (Schranken-Schranken).
Eine staatliche Maßnahme ist nur dann verhältnismäßig, wenn sie einen legitimen Zweck verfolgt und dabei…
- geeignet (Erreichung eines Zwecks muss bestimmt werden bzw. theoretisch möglich sein, dieser Zweck muss jedoch rechtlich legitim sein),
- erforderlich (liegt vor, wenn es kein milderes Mittel gibt, das zum gleichen Erfolg führen würde),
- angemessen (der Erfolg, auf den abgezielt wird, darf nicht außer Verhältnis zur Intensität des Eingriffes stehen, man soll nicht „mit Kanonen auf Spatzen schießen“, auch wenn dies das einzige geeignete und erforderliche Mittel zur Vertreibung der Spatzen ist) ist.
Zudem muss Art. 19 GG berücksichtigt werden, vor allem das Zitiergebot (das eingeschränkte Grundrecht muss genannt werden, Art. 19 Abs. 1 Satz 2), außerdem darf es kein Einzelfallsgesetz sein (Art. 19 Abs. 1 Satz 1) und der eigentliche Sinngehalt des Grundrechts darf nicht beeinträchtigt werden (Art. 19 Abs. 2). Zudem muss das Gesetz bestimmt genug sein, also klar formuliert und darf nicht gegen höherrangiges Recht verstoßen.
Grundrechte
Die Existenz von Freiheits- und Gleichheitsrechten im ersten Teil des Grundgesetzes ist eine materielle Komponente des Rechtsstaatsbegriffs. Grundrechte sind nicht nur Abwehrrechte des Einzelnen, auf die sich der Einzelne erst berufen müsste, sondern »binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht« (Art. 1 Abs. 3 GG). Das Bundesverfassungsgericht hat die Grundrechte deshalb zum objektiven Wertmaßstab für staatliches Handeln erklärt, was sich besonders in der Überprüfung von Gesetzen auswirkt, weil darin nicht nur formelle Gründe wie die Zuständigkeit und ein ordnungsgemäßes Gesetzgebungsverfahren, sondern auch die Angemessenheit eines Grundrechtseingriffs einbezogen werden.
- Rechtsweggarantie: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.“ (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG)
Das Rechtsstaatsprinzip garantiert allerdings nicht die Existenz jedes einzelnen Grundrechts in seiner ursprünglichen Reichweite. Einzelne Grundrechte können durch Verfassungsänderung beschränkt werden (Art. 19 Abs. 1 GG). Es darf nur nie der »Wesensgehalt« eines Grundrechts angetastet werden.
Sicherungsmechanismen
Die in Art. 20 Abs. 3 GG enthaltene Gewaltenteilung ist ein wichtiger Sicherungsmechanismus für den Rechtsstaat: die Judikative kontrolliert Legislative und Exekutive. Das ist wichtig, damit Fehler nachträglich korrigiert werden können, reicht aber nicht aus. Denn damit allein könnte der Staat selbst bestimmen, ob überhaupt ein Verfahren eingeleitet wird. Das Grundgesetz sieht deshalb in Art. 19 Abs. 4 GG eine Rechtsweggarantie vor: „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.”
Auch diese Rechtsweggarantie allein ist jedoch noch keine Garantie für ein faires Verfahren. Deshalb sieht das Grundgesetz eine Reihe von Verfahrensgarantien („Justizgrundrechte”) vor:
- Unabhängigkeit der Richter (Art. 97 GG)
- Verbot von Ausnahmegerichten (Art. 101 Abs. 1 Satz 1 GG)
- Anspruch auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG)
- Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)
- Verbot der Mehrfachbestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG)
- Garantien bei Freiheitsentziehungen (Art. 104 GG)
Allerdings hat das Bundesverfassungsgericht keine Exekutivgewalt. Setzen sich also deutsche Behörden und Gerichte über Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts hinweg, dann kann das Bundesverfassungsgericht – so sein Präsident Hans-Jürgen Papier in seinem Vortrag vom Januar 2008 in Heidelberg – nicht „den Gerichtsvollzieher schicken“. Die verfassungsmäßige Ordnung kann dann nur mit den Mitteln des Art. 20 Abs. 4 GG (Widerstandsrecht) gewahrt werden.
Rechtsstaats-Prinzip in der Schweiz
Folgende Prinzipien kennzeichnen den schweizerischen Rechtsstaat:[60]
- Bindung der Staatsorgane an das von Volk (direkte Demokratie), Parlament und Regierung (Verordnung) gesetzte Recht (Willkürverbot)
- Gleichheit vor dem Gesetz
- Grundsatz der Verhältnismässigkeit
- Einschränkung der Grundrechte nur im überwiegenden öffentlichen Interesse möglich
- Bindung aller Privatpersonen an das von Volk, Parlament und Regierung gesetzte Recht (im Gegensatz zu den obgenannten Punkten nicht ein Bürgerrecht, sondern eine Bürgerpflicht)
Siehe auch
- Politisches System Deutschlands
- Menschenrechte
- Gerechtigkeit, Verfassungsstaat, Unrechtsstaat
- Quock Walker, Marbury gegen Madison
Literatur
- Ernst-Wolfgang Böckenförde: Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, Berlin 1958.
- Ernst Forsthoff: Rechtsstaat im Wandel. Herausgegeben von Klaus Frey, 2. Auflage, 1976.
- Philip Kunig: Das Rechtsstaatsprinzip. Überlegungen zu seiner Bedeutung für das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1986. ISBN 3-16-645050-5.
- Katharina Sobota: Das Prinzip Rechtsstaat. Verfassungs- und verwaltungsrechtliche Aspekte, J.C.B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1997. ISBN 3-16-146645-4.
- Figures de l'état de droit: Rechtsstaat dans l'histoire intellectuelle et constitutionnelle de l'Allemagne. Herausgegeben von Olivier Jouanjan. Strasbourg, Presses universitaires, 2001. ISBN 2-86820-180-6.
- Eberhard Schmidt-Aßmann: Der Rechtsstaat. In: Handbuch des Staatsrechts, Band II. Herausgegeben von Josef Isensee/Paul Kirchhof, 3. Auflage, Heidelberg 2004, § 26.
- Karl Albrecht Schachtschneider: Prinzipien des Rechtsstaates, Duncker & Humblot, Berlin 2006.
Weblinks
- Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland
- Richard Bäumlin, Rechtsstaat, Evangelisches Staatslexikon herausgegeben von Roman Herzog / Hermann Kunst / Klaus Schlaich / Wilhelm Schneemelcher, Kreuz: Stuttgart, 3. Aufl.: 1987, Spalte 2806-2818; HTML-Version und PDF-Datei (am Ende)
- Evaluation der Grundrechte und des Rechtsstaatsprinzips im Lichte der Menschenrechte
- Kritische Betrachtung des deutschen Prinzips der Gewaltenteilung
Einzelnachweise
- ↑ http://www.brockhaus-enzyklopaedie.de, s.v. Rechtsstaat.
- ↑ Jo[hann] Wilhelm Placidus (eigentlich: Petersen): Litteratur der Staatslehre. Ein Versuch. Erste Abtheilung, ohne Verlag [laut Katalog der Österreichischen Nationalbibliothek: Metzler]: Stuttgart, 1798, 73 – Hervorhebungen im Original
- ↑ Georg-Christoph von Unruh: Die „Schule der Rechts-Staats-Lehrer“ und ihre Vorläufer in vorkonstitutioneller Zeit. Anfang und Entwicklung von rechtsstaatlichen Grundsätzen im deutschen Schrifttum, in: Norbert Achterberg / Werner Krawietz / Dieter Wyduckel (Hg.), Recht und Staat im sozialen Wandel. FS Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag, Duncker & Humblot: [West]berlin, 1983, 250 - 281 (251)
- ↑ < griech. εὐδαιμονία. „[It] is a Greek word commonly translated as ‘happiness’. Etymologically, it consists of the word ‘eu’ (‘good’ or ‘well being’) and ‘daimōn’ (‘spirit’ or ‘minor deity’).“ ([1]). Vergleiche Polizeistaat: „Entsprechend dem vorherrschenden zentralistischen Staatsmodell hatte der jeweilige monarchische Herrscher als ‚oberster Diener des Staates’ eine als absolut legitimierte Machtposition, die mit der Verpflichtung zur Sorge für das umfassende Wohlergehen der Bürger verbunden war (siehe auch Wohlfahrtsstaat). Das Instrument dafür war die ‚gute Polizey’ als eine Politik, die mit allumfassenden Befugnissen ihrer Organe das Wohlergehen der Untertanen sichern sollte.“
- ↑ Placidus, a.a.O. (FN 2), 78, 79
- ↑ Adam H. Müller: Die Elemente der Staatskunst, 1. Teil (Die Herdflamme. 1. Band herausgegeben von Othmar Spann), Fischer: Jena, 1922 (Erstveröffentlichung mit abweichender Paginierung: Sander: Berlin, 1809), 200, 196 – Hervorhebung im Original
- ↑ Katharina Gräfin von Schliefen, Artikel „Rechtsstaat (J)“, in: Werner Heun / Martin Honecker / Martin Morlok / Joachim Wieland (Hg.), Evangelisches Staatslexikon, 4. Aufl.: Kohlhammer: Stuttgart, 2006, Sp. 1926 - 1934 (1928): „Im 19. Jh. löst sich Deutschland vom Absolutismus und entwickelt eine eigene Form der konstitutionellen Monarchie […]. Herrscher und Bürgertum einigen sich auf Verfassungen, die das monarchische Prinzip als gottgegeben voraussetzen, aber Eingriffe in Freiheit und Eigentum unter Parlamentsvorbehalt stellen. So wird ein rechtsförmiger Mittelweg beschritten, der einerseits den schrankenlosen Wohlfahrtsstaat […] und andererseits die Volksherrschaft unter Beteiligung des vierten Standes vermeidet.“ (Hervorhebung hinzugefügt). Zu ergänzen ist nur, dass Preußen bis 1848 eine absolute Monarchie blieb, und auch in den konstitutionell-monarchischen deutschen Staaten nicht einmal von einer Herrschaft des Volkes im Sinne des dritten Standes gesprochen werden kann, da dieser – wie Schliefen darstellt – nicht die politische Macht allein übernahm, sondern sich mit den weiterhin göttlich legitimierten Monarchen auf einen Kompromiss einigte: „Der Rechtsstaat war also nicht die politische Form des sich selbst regierenden Volkes, er war nicht die rechtliche Erscheinungsform der Demokratie, sondern die rechtliche Form eines überwiegend von den Interessen der Monarchie und der sie tragenden Schichten bestimmten Kompromisses – er war die rechtliche Form der konstitutionellen Monarchie“ (Ulrich K. Preuß, Legalität und Pluralismus. Beiträge zum Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1973, 11)
- ↑ S. die entsprechenden Nachweise unter http://edocs.fu-berlin.de/docs/receive/FUDOCS_document_000000004700, S. 101, FN 44.
- ↑ Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaats, 1. Band, Laupp: Tübingen, 1. Aufl.: 1832, 2. Aufl.:1844.
- ↑ Staatsrecht des Königreichs Württemberg. Erster Teil, das Verfassungsrecht, Laupp: Tübingen, 1829, 21, FN 6.
- ↑ Siehe ausführlich zum vorstehenden: Detlef Georgia Schulze, Rechtsstaat versus Demokratie. Ein diskursanalytischer Angriff auf das Heiligste der Deutschen Staatsrechtslehre, in: der/dies. / Sabine Berghahn / Frieder Otto Wolf (Hg.), Rechtsstaat statt Revolution, Verrechtlichung statt Demokratie? Transdisziplinäre Analysen zum deutschen und spanischen Weg in die Moderne (StaR P. Neue Analyen zu Staat, Recht und Politik. Serie A. Band 2), Westfälisches Dampfboot: Münster, 2010, 553 - 628 (565 f., 573-579).
- ↑ Ein Wort (z.B. „Rechtsstaat“) kann verschiedene Begriffe (z.B. einen formellen oder einen substantialistischen Rechtsstaats-Begriff) repräsentieren; „Begriff“ ist also die Verbindung von Wort und präziser Bedeutung. „Konzept“ wiederum bezeichnet die spezifische Bedeutung, unabhängig von der Verknüpfung mit einem bestimmten einzelsprachlichen Wort.
- ↑ Lorenz Stein, Verwaltungslehre. Erster Teil, Cotta: Stuttgart, 2. Aufl.: 1869, 296 f. – Hervorhebung von „deutsch“ im Original – Rund 100 Jahre später greift Böckenförde (Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs, in: Horst Ehmke / Carlo Schmid / Hans Scharoun [Hg.], Festschrift für Adolf Arndt zum 65. Geburtstag, EVA: Frankfurt am Main, 1969, 53 - 76 [54 mit FN 4] (ähnlich auch: ders., Artikel „Rechtsstaat“, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer [Hg.], Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 8, Schwabe: Basel, 1992, Sp. 332 - 342 [332]) die Steinsche Formulierung wieder auf: „‚Rechtsstaat’ ist eine dem deutschen Sprachraum eigene Wortverbindung und Begriffsprägung, die in anderen Sprachen so keine Entsprechung findet. Die ‚rule of law’ im angelsächsischen Bereich ist keine inhaltlich parallele Begriffsbildung, [...]“. Die – auch bestehenden – „Gemeinsamkeiten des rechtsstaatlichen Denkens [...] mit der Tradition des abendländischen Staatsdenkens und der abendländischen Verfassungsentwicklung machen nicht das spezifische des Rechtsstaatsgedankens aus.“ (Hervorhebung hinzugefügt).
- ↑ Weitere Nachweise und Zitate zur Diskussion dieser Frage: http://edocs.fu-berlin.de/docs/receive/FUDOCS_document_000000004700, S. 89 f., FN 5.
- ↑ Richard Bäumlin, Stichwort „Rechtsstaat“, in: Roman Herzog / Hermann Kunst / Klaus Schlaich / Wilhelm Schneemelcher (Hg.), Evangelisches Staatslexikon, Kreuz: Stuttgart, 3. Aufl.: 1987, Sp. 2806 – 2818 (2806). Den Unterschied zwischen Rechtsstaat und rule of law charakterisiert Bäumlin (ebd.) folgendermaßen: "So unterscheidet sich der R[echtsstaat] von vornherein von der britischen Rule of Law, die nicht nur als ein den Staat begrenzendes, diesen vielmehr auch konstituierendes (repräsentativstaatl[iches] bzw. demokratisches) Prinzip gemeint ist."
- ↑ Stein, a.a.O. (FN 13), 298 – Hervorhebungen im Original
- ↑ Neil MacCormick, Der Rechtsstaat und die rule of law, in: Juristenzeitung 1984, 65 - 70 (67).
- ↑ Karl-Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, Mohr Siebeck: Tübingen, 1997, 45 ff.
- ↑ Delf Buchwald, Prinzipien des Rechtsstaats. Zur Kritik der gegenwärtigen Dogmatik des Staatsrechts anhand des allgemeinen Rechtsstaatsprinzips nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, Shaker: Aachen, 1996, 99 f.
- ↑ Helmuth Schulze-Fielitz, [Kommentierung zu] Art. 20 (Rechtsstaat), in: Horst Dreier (Hg.), Grundgesetz. Kommentar. Band 2: Art. 20 - 82, Mohr Siebeck: Tübingen, 1998, 128 - 209 (RN 5); mit ergänzten Literaturhinweisen: 2. Aufl.: 2006, 170 - 277 (177, RN 5).
- ↑ Erhard Denninger, „Rechtsstaat“ oder „Rule of law“ – was ist das heute?, in: Cornelius Prittwitz et al. (Hg.), Festschrift für Klaus Lüderssen. Zum 70. Geburtstag am 2. Mai 2002, Nomos: Baden-Baden, 2002, 41 - 54; wieder abgedruckt in: Schulze/Berghahn/Wolf, a.a.O. (FN 11), 537 - 552 (538): „‚Positivisten’, denen ich mich gerne zurechne“.
- ↑ a.a.O. (FN 17), 70, 67.
- ↑ a.a.O. (FN 21), 2002, 42, FN 5 und 47 - 50 (Mitte) bzw. 2010, 538, FN 3 und 542 - 545; s. aber auch: 2002, 50 (untere Hälfte) bzw. 2010, 545 f.
- ↑ Schliefen, a.a.O. (FN 7), Sp. 1927.
- ↑ Wolfgang Lienemann, Artikel „Rechtsstaat (Th)“, in: Heun et al., a.a.O. (FN 7), Sp. 1934 - 1929 (1935) – Hervorhebungen im Original
- ↑ Auf die „deutsche frühbürgerliche Fixierung auf die ‚Rechtsidee’ und auf die Justiz als deren Inkarnation“ weist Karl-Heinz Ladeur (Strukturwandel der Staatsrechtsideologie im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: ders. / Friedhelm Hase, Verfassungsgerichtsbarkeit und politisches System. Studien zum Rechtsstaatsproblem in Deutschland, Campus: Frankfurt am Main / New York, 1980, 15 - 102 [49]) hin. Vgl. für die, jedenfalls soweit es Deutschland betrifft, eher vor- als frühbürgerliche Zeit Schliefen, a.a.O. (FN 7), Sp. 1927: „In England behauptet sich […] seit dem 17. Jh. das Parlament als Rechtssetzer im Verhältnis zur Krone. […]. In Deutschland werden seit dem Mittelalter Recht und Gerechtigkeit von den Gerichten verkörpert.“
- ↑ BVerfGE 34, 269 - 293 [287] – Soraya (Hervorhebung hinzugefügt); vgl. kritisch zu dieser Entscheidung: Helmut Ridder, Alles fließt. Bemerkungen zum „Soraya-Beschluß“ des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, in: Archiv für Presserecht 1973, 453 - 457.
- ↑ Schliefen, a.a.O. (FN 7), Sp. 1930: „unabhängige Verwaltungsgerichtsbarkeit, die bis heute als Proprium des deutschen R.es angesehen wird“.
- ↑ Unruh, a.a.O., 280 f.: „Als […] das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland die von Althusius Ephorat genannte Einrichtung zur Wahrung der Verfassungsmäßigkeit allen staatlichen Handelns durch die Einrichtung des Bundesverfassungsgerichtes verwirklicht wurde, war damit ein […] Prozeß in einer Form abgeschlossen, die man eine ‚Krönung des Rechtsstaates’ nennen durfte.“ (mit weiteren Nachweisen für die Formel „Krönung des Rechtsstaates“; Original-Hervorhebungen getilgt; fehlerhafte Grammatik im Original).
- ↑ So sieht es der Brockhaus (a.a.O. [FN 1]) als eine der „Eigentümlichkeiten der rechtsstaatlichen Entwicklung in Deutschland“, die für diesen eine von mehreren rechtsstaatlichen Entwicklungen ist, an, dass dem „frühen deutschen Naturrechtsdenken“, das anscheinend als Vorläufer des Rechtsstaats-Konzeptes begriffen wird, die „scharfe Frontstellung zum Staat [fehlte], [d]ie […] dem Aufklärungsdenken in England und Frankreich eigen war.“ M[ichael] Stolleis (Artikel „Rechtsstaat“, in: Adalbert Erler / Ekkehard Kaufmann [Hg.], Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte. IV. Band, Erich Schmidt: Berlin, 1990, Sp. 367 - 375 [368]) schreibt: Die „politische Mitwirkung des Dritten Standes“ als Element des „politische[n] Programm[s]“, das sich in der Formel vom „Rechtsstaat“ ausdrückte, sei „in Deutschland ungleich schwächer ausgebildet [gewesen] als in Frankreich oder England.“ Nach Erhard Denninger (Artikel „Rechtsstaat“, in: Axel Görlitz [Hg.], Handlexikon zur Rechtswissenschaft, Ehrenwirth: München, 1972, 344 - 349 [344] nimmt die „Entwicklung des Rechtsstaatsgedankens“ (den er aber dennoch auch mit westlichen und antiken Autoren in Verbindung bringt) „im Unterschied zur etwa vergleichbaren angelsächsischen rule of law eine charakteristische Richtung: Während in England die individuellen Freiheitsrechte des Bürgers stets in enger Verbindung zu einem freiheitlich funktionierenden Prozeß politisch-rechtlicher Willensbildung, zum Wechselspiel der Parlamentsherrschaft gesehen wurde, während auch in Frankreich mit der Revolution die politische Selbstorganisation der Nation […] gelungen war, treten in Deutschland […] die unpolitischen […] Komponenten in der Hauptforderung des Liberalismus: Rechtsstaat, in den Vordergrund.“ (Hervorhebung im Original).
- ↑ In etwa in diese Richtung argumentieren die ehemaligen Bundesverfassungsrichter Dieter Grimm und Ernst Benda: „Der formale Rechtsstaat, der die Exekutive ans Gesetz band, ohne dieses selbst anderen als formellen Bedingungen zu unterwerfen, war machtlos gegenüber Unrecht in Gesetzesform gewesen. Der materielle Rechtsstaat traf daher auch Sicherungsvorkehrungen gegen die Legislative. Seine Materialität besteht im Einbau eines Qualitätsmaßstabes in den Gesetzesbegriff.“ (Dieter Grimm, Reformalisierung des Rechtsstaats als Demokratiepostulat?, in: Juristische Schulung 1980, 704 - 709 [704]). „Die Erfahrung der Weimarer Republik und vor allem der nationalsozialistischen Diktatur haben gezeigt, daß die Bindung der Staatstätigkeit an bestimmte Formen und Verfahren keine hinreichende Garantie für die Geltung und Durchsetzung des Rechts ist. Das Rechtsstaatsverständnis des Grundgesetzes [...] beschränkt sich nicht auf formale Sicherungen, sondern enthält inhaltliche Aussagen über die Staatstätigkeit, die an oberste Rechtsgrundsätze gebunden wird.“ (Ernst Benda, Artikel „Rechtsstaat“, in: Dieter Nohlen [Hg.], Wörterbuch zur Politik, Piper: München/Zürich, 3. Aufl.: 1989 [1. Aufl. 1985], 837 - 840 [838]).
- ↑ In diese Richtung äußert sich bspw. Michael Sachs, [Kommentarierung zu] Art. 20, in: ders. (Hg.), Grundgesetz. Kommentar, Beck: München, 1. Aufl.: 1996, 621 - 653 (634, RN 49) = 2. Aufl. 1999, 743 - 799 (766) = 3. Aufl.: 2003, 802 - 868 (829) = 4. Aufl.: 2007, 766 - 824 (790) = 5. Aufl.: 2009, 774 - 834 (798), 2.-5. Aufl.: jew. RN 74 – Hv. getilgt: „Nach der Erfahrung des NS-Unrechtsstaates wurde Rechtsstaatlichkeit (wieder) auch materiell verstanden“.
- ↑ Detlef Georgia Schulze / Frieder Otto Wolf, Rechtsstaat und Verrechtlichung – Ein deutsch-spanischer Sonderweg der Ent-Politisierung und Demokratie-Vermeidung?, in: Schulze/Berghahn/Wolf, a.a.O. (FN 11), 53 - 82 (54 f., 60-63).
- ↑ Vgl. Helmut Ridder, Vom Wendekreis der Grundrechte, in: Leviathan 1977, 467 - 521 (477 - 489) = ders., Gesammelte Schriften hrsg. von Dieter Deiseroth / Peter Derleder / Christoph Koch / Frank-Walter Steinmeier, Nomos: Baden-Baden, 2010, 355 - 415 (367 - 383); spez. zur Umdeutung der Eigentumsgarantie und des allgemeinen Gleichheitssatzes: ebd., 481 ff., 483 ff. bzw. 374 ff., 376 ff. sowie Ingeborg Maus, Entwicklung und Funktionswandel der Theorie des bürgerlichen Rechtsstaats, in: dies., Rechtstheorie und Politische Theorie im Industriekapitalismus, Fink: München, 1986 (via [http://www.nbn-resolving.de/ urn-revolver der DNB), 11 - 82 (38 - 40) und schließlich zum Aufstieg der Freirechtsschule: Okko Behrends, Von der Freirechtsbewegung zum [Ordnungs- und Gestaltungsdenken], in: Ralf Dreier / Wolfgang Sellert (Hg.), Recht und Justiz im „Dritten Reich“, Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1989, 34 - 79.
- ↑ Helmut Ridder (Das Bundesverfassungsgericht. Bemerkungen über Aufstieg und Verfall einer antirevolutionären Einrichtung, in: Peter Römer [Hg.], Der Kampf um das Grundgesetz. Über die politische Bedeutung der Verfassungsinterpretation. Referate und Diskussionen eines Kolloquiums aus Anlaß des 70. Geburtstags von Wolfgang Abendroth [Abendroth-Festschrift II], Syndikat: Frankfurt am Main, 1977, 98 - 132 [75]) spricht insofern von einer 150-jährigen Inkubationszeit für die Herausbildung der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit.
- ↑ Dazu: A.W., War die nationalsozialistische Revolution legal?, in: Schweizerische Rundschau 1933/34 (Jan.-Heft 1934), 891 - 902 (insb. 893: „Es wird schwer sein zu behaupten, daß dem Wortlaut dieser Vorschrift [der WRV über die Wahlfreiheit] entsprochen worden sei.“); Dieter Deiseroth: Die Legalitäts-Legende. Von Reichstagsbrand zum NS-Regime, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2008, 91 - 102; im internet unter: http://www.linksnet.de/de/artikel/20989. Ausführlicher zu diesem Thema: http://edocs.fu-berlin.de/docs/receive/FUDOCS_document_000000004700, S. 56 - 58.
- ↑ Bäumlin, a.a.O., Sp. 2814: „Nicht die (für den parlamentarischen Gesetzgebungsstaat eintretenden) Rechtspositivisten, sondern die Vertreter des ‚materiellen R.’ sind es gewesen, die – soweit Rechtsdogmatik überhaupt dazu beiträgt, Geschichte zu machen – der Rechtsideologie des →Nationalsozialismus den Weg bereitet haben.“ Außerdem Ingeborg Maus, Vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat. Zur Kritik juridischer Demokratieverhinderung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2004, 835 - 850 (846); durchgesehen wiederabgedruckt in: Schulze/Berghahn/Wolf, a.a.O. (FN 11), 517 - 536 (539): „Bis heute finden sich noch Anhänger jener Nachkriegslegende, die besagt, es sei die Gesetzestreue der deutschen Richter, ihr rechtspositivistisches Verständnis der Anwendung des Rechts gewesen, das ihre Willfährigkeit im NS-System bedingt habe.“ und dazu ausführlich dies., „Gesetzesbindung“ der Justiz und die Struktur der nationalsozialistischen Rechtsnormen, in: Dreier/Sellert, a.a.O. (FN 36), 81 - 103. Schließlich: Klaus Füßer, Rechtspositivismus und „gesetzliches Unrecht“. Zur Destruktion einer verbreiteten Legende, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1992, 301 - 331 und Harald Russig: Rechtsphilosophie und Nationalsozialismus, in: Leviathan 1983, 422 - 432 sowie Manfred Walther, Hat der juristische Positivismus die deutschen Juristen im „Dritten Reich“ wehrlos gemacht?, in: Dreier/Sellert, a.a.O. (FN 36), 323 - 354.
- ↑ Friedrich Karl Kübler, Die na¬tionalsozialistische „Rechtsordnung“ im Spiegel neuer juristischer Literatur, in: Neue Politische Literatur. Berichte über das internationale Schrifttum 1970, 291 - 299 (299): „beunruhigende Kontinuität einer [...] Haltung, die den Nationalsozialismus [...] ermöglicht hat“.
- ↑ Richard Bäumlin / Helmut Ridder, [Kommentierung zu] Art. 20 Abs. 1 - 3 III. Rechtsstaat, in: Richard Bäumlin et al., Kommentar zum Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Band 1. Art. 1 - 20 (Reihe Alternativkommentare hrsg. von Rudolf Wassermann), Luchterhand: Neuwied/Darmstadt, 1984, 1288 - 1337 (1310) = 2., überarb. Aufl.: 1989, 1340 - 1389 (1361) – jew. RN 26: Der NS sei „aufgrund seiner massiv entformalisierenden und materialisierenden ‚Rechtsstaatlichkeit’ […] Trendgipfel im antidemokratischen Kontinuum“ der deutschen Geschichte; vgl. auch schon Ridder, a.a.O. (FN 36), 491: „keine ‚Zäsur’, sondern nur maximierende Aktualisierung“.
- ↑ Walter Pauly, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Bd. 60, 2001, 73 - 105 (104): „Parallel zur Apotheose des ‚Führers’ verlief […] der Verfall des Gesetzesbegriffs, der weitgehend seiner formalen Kriterien […] entkleidet wurde.“ Vgl. auch noch Frieder Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration, Oldenbourg: München, 2004, 51, FN 95 m.w.N., unter Zusammenfassung der damals neuesten Literatur zum Thema: „Das nationalsozialistische Regime war […] an einer systematischen juristischen Erfassung des unberechenbaren dynamischen Führerstaates schlichtweg nicht interessiert.“ Siehe dazu http://edocs.fu-berlin.de/docs/receive/FUDOCS_document_000000004700, S. 59 unten / 60 oben die entsprechenden Zitate aus der NS-Zeit.
- ↑ „wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.“
- ↑ Vgl. Klaus Günther: Was heißt: „Jedem das Seine“? Zur Wiederentdeckung der distributiven Gerechtigkeit, in: Günter Frankenberg (Hg.), Auf der Suche nach der gerechten Gesellschaft, Fischer: Frankfurt am Main, 1994, 151 - 181 (bes. 152, 159 f., 167).
- ↑ „Wir suchen eine Bindung, die zuverlässiger, lebendiger und tiefer ist als die trügerische Bindung an die verdrehbaren Buchstaben von tausend Gesetzesparagraphen. Wo anders könnte sie liegen als in uns selbst und unserer eigenen Art? Auch hier […] münden alle Fragen und Antworten in dem Erfordernis einer Artgleichheit, ohne die ein totaler Führerstaat nicht einen Tag bestehen kann.“ (Carl Schmitt, Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, Hanseatische Verlagsanstalt: Hamburg, 1933, 46).
- ↑ Vgl. dazu Peter Römer, Kleine Bitte um ein wenig Positivismus. Thesen zur neueren Methodendiskussion, in: ders., a.a.O. (FN 37), 87 - 97 (90): „Es gibt Rechtsordnungen, […], denen gegenüber […] nur noch die radikale Negation zulässig ist. Die Nürnberger Gesetze interpretiert man nicht mehr, sondern bekämpft sie.“
- ↑ Carl Theodor Welcker, Die letzten Gründe von Recht, Staat und Strafe, philosophisch und nach den Gesetzen der merkwürdigsten Völker rechtshistorisch entwickelt, Heyer: Gießen, 1813, 24, 30, 33.
- ↑ Böckenförde in seinem a.a.O. (FN 13) genannten Festschrift-Beitrag auf S. 58 mit Nachweisen in FN 22.
- ↑ Welcker, a.a.O. (FN 47), 102.
- ↑ Stolleis, a.a.O. (FN 30), Sp. 367: „R. ist also von Anfang an eine Formel mit politischem Programm. Sie zielte im ausgehenden 18. Jh. darauf, den absolutistischen Interventionsstaat zurückzudrängen und ihn auf die Gewährung von Sicherheit und Ordnung zu beschränken“. Vgl. auch Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Rechtsstaat, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrecht für die Bundesrepublik Deutschland. Bd. 2, Müller: Heidelberg, 2004, 541 - 612 (549, RN 13): „für Kant, und ähnlich für Wilhelm v. Humboldt und Fichte“ – die allesamt das Wort „Rechtsstaat“ noch verwandten, bei denen Schmidt-Aßmann aber die „Grundlegung“ der „Idee des Rechtsstaat“ ausmacht – blieb „der Sicherheitszweck des Staates unbestritten; es ging um die Ausklammerung des Wohlfahrtszweckes.“
- ↑ Robert Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften. In Monographien dargestellt. Erster Band, Enke: Erlangen, 1855, 240: „als […] aus Territorien Staaten entstanden“.
- ↑ Otto Bähr, Der Rechtsstaat. Eine publicistische Skizze, Wigand: Kassel/Göttingen, 1864, IV.
- ↑ Der „vernünftige“ Gesamtwille war dabei nicht der empirische, durch demokratische Verfahren zu ermittelnde Mehrheitswille des Volkes. - – Erläuterung hinzugefügt.
- ↑ Johann Christoph von Aretin: Staatsrecht der konstitutionellen Monarchie. Ein Handbuch für Geschäftsmänner, studierende Jünglinge, und gebildete Bürger. Bd. 1, Leipzig, 18241, 163 f.; ders. / Carl von Rottek, Staatsrecht der constitutionellen Monarchie. Ein Handbuch für Geschäftsmänner, studierende Jünglinge, und gebildete Bürger. Bd. 1, Leipzig, 18382, 163 bzw. 156.
- ↑ a.a.O. (FN 51), 227.
- ↑ ebd., 229, 230.
- ↑ ebd., 242.
- ↑ ebd., 244.
- ↑ a.a.O. (FN 10), 8.
- ↑ ebd.
- ↑ BVerfGE 2, 380 (403)
- ↑ H.R. Schwarzenbach: Grundriss des Verwaltungsrechts, 1978