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Volkslied

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Ein Volkslied ist ein Lied, welches die weitestmögliche Verbreitung in und durch eine soziale Schicht findet. Es kennzeichnet, textlich und musikalisch, dieser Schicht gemeinsame Traditionen, die Kultur und Weltanschauung. Seine textliche und musikalische Erscheinung weist dabei regional verschiedene Typiken auf; gleichwohl lassen sich diese aber nicht zwingend räumlich eingrenzen. Statt es politisch für eine "Volksgemeinschaft" zu reklamieren, ist es vielmehr unter ethnischen, religiösen, sprachlichen und Traditionsmerkmalen zu unterscheiden.

Begriff

Volkslieder deuten überwiegend auf konkrete, sich wiederholende oder alltägliche Situationen oder Zustände des Lebens. Dabei kann sich der Ausdruck von der „gewöhnlichen und rauen Wirklichkeit“ entfernen und sich in einer idealisierten oder realitätsfernen Art und Form zeigen, zum Beispiel in dem Idyll nahen Naturbildern oder in Liebestragiken zwischen Prinz und Prinzessin. Volkslieder können somit diverse Funktionen erfüllen – etwa in Form des Arbeitsliedes (die Arbeit begleitend) oder Ständeliedes (Arbeitsbereiche oder Berufe charakterisierend) oder Hochzeitsliedes (etwa Braut und Bräutigam beglückwünschend oder auf den „heiligen Bund“ moralisch hinweisend).

Die zahlreichen „Gattungen“ spiegeln in etwa das inhaltliche und thematische Spektrum: Liebes-, Hochzeits-, Trink-, Kinder-, Wiegen-, Arbeits-, Tanz-, Arbeiter-, Soldaten-, Studenten-, Seemanns-, berufsständische, an religiösen Festen orientierte, Heimat-, Wander-, an Tageszeiten orientierte – (Morgenlied und Abend), Jahreszeiten-, Abschiedslieder, Spaß- und Scherzlieder. Das traditionelle Lied erzählenden Inhalts in dramatischer Darstellungsform ist die Volksballade. Abzugrenzen ist das Volkslied von der volkstümlichen Musik.

Volkslied als historischer Begriff

Eine eindeutige, klar abzugrenzende Fassung des Begriffes „Volksmusik/Volkslied“ ist schwierig; gerade in der jüngeren Geschichte wird das im Grunde unmöglich. Heutzutage ist Volksmusik in vielen Regionen ein eher historischer Begriff und kann kaum noch als gegenwärtige Musikpraxis gelten. Eine gewisse Ausnahmestellung nimmt dabei der süddeutsche und alpenländische Raum ein.

Nach einer historischen Definition von Hugo Riemann 1916 ist ein Volkslied „entweder

  • im Volke entstanden, was heißt, das Dichter und Komponist nicht mehr bekannt sind oder
  • in den Volksmund übergegangen oder schließlich,
  • ‚volksmäßig‘, dass heißt schlicht und leicht fasslich in Melodie und Harmonie komponiert.“[1]

Nach Alfred Götze ist ein Volkslied ein Lied, das „im Gesang der Unterschicht eines Kulturvolks in längerer gedächtnismäßiger Überlieferung und in seinem Stil derart eingebürgert ist oder war, dass, wer es singt, vom individuellen Anrecht eines Urhebers an Wort und Weise nichts empfindet.“[2] Eine moderne Definition von Tom Kannmacher lautet: "Volkslieder sind im Gedächtnis der Mitglieder einer soziologischen Gruppe allgegenwärtige Medien, die den Strömungen von Tradition, Kulturepochen, Herrschaftsverhältnissen unterworfen sind und somit nie feste Formen annehmen, die man dokumentarisch oder materiell fassen könnte".[3]

Der gegenwärtig in vielen Medien verbreitete Begriff von „Volksmusik“ gilt im Grunde nur noch als Sparte der Musikindustrie und Medienwelt und zeigt irreale häusliche und ländliche Idyllen auf Ton- und Bildträgern sowie im Fernsehen. Die so medial vermittelten, choreographierten und überstilisierten Darbietungen lassen sich nur schwer von anderen medial vermittelten Musiksparten stichhaltig unterscheiden. Ansatzpunkte für Unterscheidungen wären höchstens, dass verschiedene Zielgruppen anvisiert werden und sich verschiedene optische und „soundmäßige“ Merkmale zeigen. Gerade im letzteren Fall verwischen aber die Grenzen zwischen dem, was gemeinhin als „Volksmusik“, „Schlager“, „Pop“ und „Rock“ gilt, schon gewaltig. Das gilt dann freilich genauso für die via AV-Medien vermittelte „Volksmusik“ anderer Länder, wofür die noch jüngere markttechnische Bezeichnung „Weltmusik“ gefunden wurde – hier wohnt die Indifferenz schon im Begriff selbst.

Oft ist „das Volk“ nicht mehr Trägerschaft dieser Musik, sondern Konsument. Die klingende Musik selbst ist fixiert auf Ton- und Bildträgern und fordert keine unmittelbare Interaktion, hebt also nicht auf eine bewusste Musizier- und Zuhörsituation ab. Sie ist im Studio zusammenmontiert und jederzeit und jederorts verfügbar. Auch stellen spätestens mit der Verfügbarkeit aller möglichen ‚Musiken’ auf AV-Medien innerkulturelle Codes, Herkunft einer Musik, verschiedene Stilistiken, verwendete Tonsysteme, und kulturgebundene Texte längst weniger Hindernisse für die – passive – Rezeption dar.

Es gibt aber auch Rundfunk- und Fernsehsendungen insbesondere im süddeutschen Raum, welche versuchen, aufzuzeigen, dass traditionelle Volksmusik auch heute lebt, etwa Mei liabste Weis.

Wichtig ist, anzumerken, dass Volksmusik ein Sammelbegriff ist, der nicht auf eine konkrete Musikform, sondern auf eine Musikpraxis innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Kontexte weist. Auch kann kaum von abgrenzbaren Stilistiken innerhalb der Volksmusik gesprochen werden, sondern eher von Typiken, da Volksmusik in geringerem Maße diskurshaften Normierungen und keiner schriftlichen Fixierung unterliegt.

Volksmusik

Mit Volksmusik, historisch betrachtet also „des Volkes Musik“, werden Musikpraxen bezeichnet, welche sich als dem Volk – der Majorität der Bevölkerung – zugehörig ausweisen. Tatsächlich bietet sich zur weiteren Fassung von Volksmusik, und damit zur Differenzierung von anderen Musiksphären, ein Herangehen unter soziologischen Gesichtspunkten an. Denn: Präzise musikalische Merkmale oder gar Gattungen von Volksmusik, die übergreifend gültig wären, lassen sich kaum festschreiben. Um dies zu tun müsste eine Beschränkung auf eine bestimmte Region sowie einen bestimmten Zeitraum vorliegen. Grob lässt sich jedoch festhalten, dass, wie auch in der Kunstmusik, Vokal- und Instrumentalmusik als auch instrumental begleitete Vokalmusik zu finden ist oder war. Dasselbe gilt für Einstimmigkeit und Mehrstimmigkeit, Homophonie und Polyphonie.

„Des Volkes Musik“ besagt weiterhin, dass es sich um eine „Musiksphäre“ handeln muss, die aus dem Volk heraus entsteht und damit ohne tiefere musikalische Bildung auskommt. Daher, dass Volksmusik von den Ausübenden nicht als alleinige Profession betrieben wird und werden kann, ist eine Ausweitung der musikalischen Sprache – etwa im Sinne eines individualisierten Kunstausdrucks – weniger möglich und rückt kaum ins Bewusstsein der Ausübenden. Volksmusik ist eine Sache mündlich überlieferter Tradition, die selbstverständlich innerkulturellen Codes folgt dabei keinen ästhetischen Diskurs über ihre jeweiligen Zustände führt. Die Kunstmusik sowie die kirchlich gebundene Musik standen und stehen dagegen meist in einer Diskussion ihrer selbst und haben sich eine ästhetische und musiktheoretische Wissenschaft vorangestellt; sich also fortwährenden Reflexionen ausgesetzt.

Eine Autonomisierung der Kunst findet im Falle des Volksliedes jedoch nicht statt. Dagegen spricht der ausschließlich der Musikschöpfung sich zuwendende und fundiert ausgebildete Künstler die gebildete, zumeist auch musikalisch gebildete, Bevölkerungsminorität des Adels, des Hofes und des Bürgertums an und ist im wesentlichen auch erst ab der Frühen Neuzeit auszumachen.[4] Hier ist ein wesentlicher Unterschied zwischen den „Sphären“ der Kunstmusik mit ihren professionellen Komponisten und ausführenden Ensembles und der dagegen eher laienhaften Volksmusik festzustellen: Erstere ist fast ausschließlich Aufführungssituationen verpflichtet – also einer strikten Trennung in Publikum und Ausführende. Die Volksmusik lebt dagegen wesentlich von gegenseitiger Interaktion.

Volksliedtitel

Eine unikate Text-Musik-Bindung bei Volksliedern gibt es nicht. Seit dem 19. Jahrhundert kann man aber auf einen gewissermaßen „gefestigten“ Volksliedstamm verweisen, der sich in den gedruckten Liedersammlungen repräsentiert. Aber auch hier gibt es Schwierigkeiten. Einerseits was den Text angeht, andererseits – daraus resultierend – welchen Titel das Lied nun trägt. Dazu kommt, dass einzelne Lieder eigentlich oft dialekt-gebunden sind und für die Verbreitung im Druck ins Hochdeutsche, bzw. andere Hochsprachen, übersetzt wurden.

So kann man auch heute noch in Liedersammlungen beobachten, dass Volkslieder gar keinen festen Titel haben. Oft wird der Liedtitel schlicht aus dem Beginn des ersten Verses gebildet; z. B.: „Jetzt kommen die lustigen Tage“. Das Lied mit dem Beginn „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ ist hingegen mit diesem ersten Vers als Titel sowie als Die Lorelei bekannt. So haben Liedersammlungen zuweilen auch zwei Inhaltsverzeichnisse: Eines nach Liedanfängen und eines nach Titeln. Liedanfang und Titel können sich decken, müssen dies aber nicht.

Schöpferfrage

Auf die Frage, wer „die“ Volksmusik schöpft, ist keine endgültige Antwort möglich. Dadurch, dass Volksmusik durch fortwährende mündliche und über das Gehör bewerkstelligte Nachahmung lebt, befindet sie sich in einem steten Schöpfungszustand. Die tatsächliche Ursprungsfrage ist nicht wichtig. Wesentlich ist die Aufnahme, Weiterverbreitung und damit die Enkulturation, die Einbettung in den, eine jeweilige Gemeinschaft betreffenden, kulturellen Code. (Braun, Volksmusik). Dabei kann eine Ursprungsmelodie durchaus eine aus der Musik des Bürgertums sein, z. B. eine einprägsame Operettenmelodie. Béla Bartók hat so etwas bei seinen äußerst ausgedehnten Forschungen[5] über das ungarische Volkslied festgestellt. Er spricht hier von Nachahmungstrieben, die einem sehnsüchtigen Aufschauen zur Kultur gesellschaftlich höher stehender Klassen zuzuschreiben sei.

Kennzeichen

Im Laufe der Sammlung und der Erforschung von Volksliedern wurden folgende Merkmale von Volksliedern herausgestellt:

  • Wesentlichstes Merkmal von Volksliedern ist die weite und aktive Verbreitung.
  • Sie unterliegen oft einem langen Prozess mündlicher Tradierung.
  • Sie unterliegen starken Änderungen hinsichtlich Form und Gestalt und erfahren kulturell oder regional typische Ausprägungen. So existieren Varianten der Texte wie der Melodie. Diese Variabilität (Volksdichtung) ist ein Hauptkennzeichen der Gattung Volkslied.
  • Früher wurde hinter den Volksliedern ein „schöpferisches Kollektiv“ vermutet, neuere Forschungen deuten jedoch darauf hin, dass Volkslieder eher einen Urheber haben. Trotzdem sind Volkslieder eine Sache der Gemeinschaft. Das Umsingen, unvermeidliche Folge der mündlichen Tradierung, macht das Lied zu einer individuellen Angelegenheit des Singenden. Die Schöpferfrage ist also sekundär; es existiert kein exakter Werkbegriff wie in der Kunstmusik.

Musikpraxis

In seinen innermusikalischen Merkmalen lässt sich das Volkslied als Substrat oder bewahrte Urform des Kunstliedes betrachten. Für die Bezeichnung Substrat spricht der o. g. Anstoß durch die Kunstmusik. Für die Bezeichnung Urform spricht, dass das Volkslied zumeist in seiner tonalen Sprache und Formgebung ein Stadium zeigt, das die Kunstmusik zu einem jeweiligen Zeitpunkt bereits überdauert hat. Dies zeigt sich etwa in Skalen geringen Tonvorrates (Pentatonik oder geringer); v. a. in Liedern ein geringer Ambitus; simple Melodiezeilenform oder gar eine, in metrisch/rhythmischer Hinsicht, freie Gestaltung. Darin ist das Volkslied aber als Vortragskunst Ausdruck einer gesellschaftlichen Gruppe und ihres für einen Zeitpunkt und sozialer Entwicklungsstufe kennzeichnenden lyrischen und musikalischen Horizontes und Kommunikationsbedürnisses.

Abgrenzung zum Kunstlied

Das Volkslied lässt sich dahingehend zum Kunstlied abgrenzen, dass eine unikate Text-Musik-Bindung nicht zwingend ist. Feldforschungen von Musikethnologen wie auch Aufzeichnungen von Komponisten haben erwiesen, dass bereits gehörte Melodien mit verschiedenen Texten auftauchen, die auch thematisch grundverschieden sein können. Ebenso sind die Singgewohnheiten situationsabhängig oder abhängig vom jeweiligen Vermögen des Sängers/-in. Auch im Formempfinden gibt es große Variabilität; häufig abweichend von dem, was wir als durchkomponiertes Kunstlied kennen. Der Vortrag eines Liedes kann bereits beim unmittelbar wiederholten Singen stark von der „ersten Version“ abweichen, bleibt im Sinne des Vortragenden aber dasselbe Lied.[5] Andererseits werden auch bloße Perspektivenwechsel in der Erzählstruktur eines Liedes (-textes), bei nahezu gleichbleibendem musikalischen Material und musikalischer Formung vom Vortragenden mitunter als verschiedene Lieder angesehen.[6] Auch ein ‚Umsingen’, den stimmlichen Möglichkeiten eines Sängers/-in entsprechend, ist vielfach beobachtet worden (Oktavversetzung, wenn ein Ton in Höhe oder Tiefe nicht erreicht wird).

Gegenseitige Beeinflussung

Auch gegenseitige Beeinflussungen Emigration etc. sind auszumachen. Innerhalb Europas lassen sich aber Parallelen auch in der Musik geographisch getrennt liegender Völker feststellen. Das betrifft vor allem tonräumliche und formale Gestaltungsweisen.[7] Ebenso in den Volksmusikforschungen Bartóks[5] ist dieses Phänomen ein zentrales Ergebnis.

Nationale und staatengebundene Besitzansprüche an Volksmusik, gar mit qualitativen Hervorhebungen oder Reinheitsansprüchen sind somit absurd. Die unten erwähnte Wanderung einer Melodie durch verschiedene Regionen und ihre Wandelungen vom Volkslied zum Thema eines Streichquartettsatzes von Haydn und weiter zur deutschen Nationalhymne ist beredtes Beispiel dafür.

Forschungsgeschichte

Bereits in den Anfängen der Germanistik beschäftigten Wissenschaftler sich mit dem Sammeln von Volksmärchen und Volksliedern. Schwieriger ist es bei der musikalischen Überlieferung. Dass uns historische Volksmusik überhaupt zugänglich ist, also dass überhaupt darüber geredet werden kann, ist vor allem der Musikethnologie zu verdanken. Dieser Strang der Musikwissenschaft ist noch relativ jung und fand seine erste Blütezeit um die Wende vom 19. zum 20. Jh.. Forscher wie Béla Vikar, Zoltán Kodály, Béla Bartók, Erich von Hornbostel, Constantin Brăiloiu, um nur einige zu nennen, waren die ersten, welche mit wissenschaftlichem Anspruch bemüht waren, Musik dem Volk direkt ‚abzulauschen’. Dafür standen ihnen bereits auch technische Möglichkeiten, wie etwa der Edison-Phonograph (nach Thomas Alva Edison), zur Verfügung. Aber auch viele Komponisten fertigten Aufzeichnungen direkt im Volke an. Man weiß das z. B. von Modest Mussorgsky, Ralph Vaughan Williams, Nikolai Rimski-Korsakow oder Percy Grainger. Was dann vorliegt ist ein Notentext, der die zugehörige Musikpraxis nur noch erahnen lässt.

Aus der früheren Geschichte lässt sich nur sehr bruchstückhaft auf die jeweilige Volksmusik schließen. Aus nachvollziehbaren Gründen sind Aufzeichnungen rar: im Volk hat es keiner gemacht und unter Gelehrten bestand wohl kaum ein Interesse. Man kann aber annehmen, dass v.a. im Mittelalter die Grenzen zwischen Volksmusik und „Hochkultur“, was im wesentlichen die kirchliche Musik war, auch noch recht fließend waren. So wurde z. B. wohl immer auch ein Teil der im kirchlichen Rahmen gehörten Musik sozusagen „mit nach draußen“ genommen und dann frei – und vor allem volkssprachlich – umtextiert, umgesungen. Und das auch in frecher und verhöhnender Weise. So ist uns sogar auch einiges, wenn zumeist auch „nur“ Texte, in Quellen wie dem Lochamer-Liederbuch, der Jenaer Liederhandschrift oder den Carmina Burana erhalten geblieben. Was die Musikpraxis angeht, kann man jedoch nur aus bildlichen Darstellungen Schlüsse ziehen, vor allem auf die Verwendung von Instrumenten, die aus der liturgischen Musikpraxis weitgehend ausgeschlossen waren (insbesondere Blasinstrumente). Recht berühmt ist auch der Reisebericht des Giraldus Cambrensis (1147–1223), der von volksläufigen Musizierpraxen in Irland und Wales erzählt.

Romantik und 20. Jahrhundert

Deutschlandlied

Manchmal gehen die Volkslied-Melodien auch in andere Musikgattungen über. So wird aus dem altböhmischen Prozessionslied Ubi est spes mea? („Wo ist meine Hoffnung?“) zunächst im 16. Jahrhundert der Choral „Mein lieber Herr ich preise dich!“. Gut 200 Jahre später formt Joseph Haydn 1797 hieraus die Melodie zur österreichischen Kaiserhymne „Gott erhalte Franz, den Kaiser“. Haydn selbst löst diese Melodie wieder vom Text und macht sie zum Zentrum des „Kaiserquartetts“ (op. 76 Nr. 3). Ferner taucht die Melodie in Varianten und mit wechselndem Text im kroatischen Raum als Volkslied auf. Ob es hier Wechselbeziehungen zwischen Haydn und der Volksmelodie gab – und wenn ja, welcher Art sie waren – ist unklar. 1841 dichtet Hoffmann von Fallersleben zu Haydns Melodie die Verse des Deutschlandliedes. Seit 1922 wird es offiziell als deutsche Nationalhymne verwendet. Aus dem alten böhmischen Prozessionslied heraus hat sich ebenfalls der weit bekannte deutsche Kanon „O wie wohl ist mir am Abend“ entwickelt.[8]

Volksliedforscher und Volksliedkompilatoren

Volksliedsammlungen

Mit Herder begann auch das sogenannte „zweite Dasein“ des Volksliedes, das nun in Volksliedsammlungen niedergeschrieben und damit kodifiziert wurde. Diese überwiegend Texte ohne musikalische Notation wiedergebenden Sammlungen können heute v.a. literatur- und gesellschaftswissenschaftliche Interessen bedienen, aber genauso als Quelle der Volksmusikpflege gelten. Die ersten Volksliedsammlungen entsprachen der romantischen Idealisierung. Erst im 20. Jahrhundert wurde damit begonnen, die Sammlung von Volksliedern auf Grund wissenschaftlicher Kriterien anzulegen.

Deutsche Volkslieder sammelt seit 1914 das Deutsche Volksliedarchiv an der Universität Freiburg.[9] Das Österreichische Volksliedwerk[10] ist seit 1904 für die Sammlung Forschung und Vermittlung von Volksliedern zuständig.

Der Volksliedforscher Ernst Klusen sammelte niederrheinische Volkslieder. Seit 1949 sammelte Sepp Gregor europäische und außereuropäische Lieder aus Ländern, in denen europäische Sprachen gesprochen werden. Nach seinem Tode hat diese Aufgabe die Gesellschaft der Klingenden Brücke e. V. in Bonn übernommen.[11]

Siehe auch

Quellensammlungen

Literatur

  • Theodor Adorno: Kritik des Musikanten; in: Ders.: Einleitung in die Musiksoziologie; Göttingen 1956; ISBN 3-518-27742-1; auch in: Gesammelte Schriften, Band 14; Suhrkamp 1973; ISBN 3-518-29314-1; S. 67 ff.
  • Béla Bartók: Das Ungarische Volkslied; hrsg. von D. Dille; Ethnomusikologische Schriften-Faksimile Nachdrucke; Mainz, 1965
  • Kurt Blaukopf: Musiksoziologie: eine Einführung in die Grundbegriffe mit besonderer Berücksichtigung der Soziologie der Tonsysteme; Köln, 1952
  • Hartmut Braun: Volksmusik: eine Einführung in die musikalische Volkskunde; Kassel, 1999
  • Christian Kaden: Musiksoziologie; Berlin, 1984. Wilhelmshaven 1985; ISBN 3-7959-0446-3.
  • Rolf Wilhelm Brednich, Lutz Röhrich, Lutz und Wolfgang Suppan (Hrsg.): Handbuch des Volksliedes. 2 Bde. München 1973
  • Ernst Klusen: Volkslied. Fund und Erfindung; Köln 1969
  • Johannes Moser: Ansätze zu einer neueren Volksliedforschung (PDF), 1989
  • Wolfgang Suppan u.a.: Artikel Volksgesang, Volksmusik, Volkstanz; in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG1), Band 13; 1966
  • Monika Tibbe, Manfred Bonson: Folk, Folklore, Volkslied: zur Situation in- und ausländischer Volksmusik in der Bundesrepublik; Stuttgart, 1981, ISBN 3-476-30181-8
  • Walter Wiora: Europäische Volksmusik und abendländische Tonkunst; Kassel 1957
  • Walter Wiora: Europäischer Volksgesang, Gemeinsame Formen in charakteristischen Abwandlungen; Köln, 1952
Wiktionary: Volkslied – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wikisource: Volkslieder – Quellen und Volltexte

Einzelnachweise

  1. Hugo Riemann: Musiklexikon; 1916
  2. Alfred Götze: Das deutsche Volkslied; 1929
  3. Tom Kannmacher: "Das deutsche Volkslied in der Folksong- und Liedermacherszene seit 1970", in: Jahrbuch für Volksliedforschung 23, 1978. S. 38.
  4. Kurt Blaukopf: Einführung in die Musiksoziologie
  5. a b c Béla Bartók: Das Ungarische Volkslied; 1926 (Nachdruck siehe oben).
  6. Christian Kaden: Musiksoziologie
  7. Walter Wiora, Europäischer Volksgesang
  8. Hans Renner: Grundlagen der Musik; Stuttgart: Reclam, 19698; S. 84 ff.
    Hans Renner: Geschichte der Musik; Stuttgart: DVA, 1985; S. 345: „[Haydns] letztes schönstes Lied, die Weise zu ‚Gott erhalte Franz den Kaiser‘ […] hat eine weitverzweigte Ahnenreihe […], die sich bis auf ein uraltes böhmisches Prozessionslied zurückführen lässt.“
  9. Deutsches Volksliedarchiv an der Universität Freiburg
  10. Österreichisches Volksliedwerk
  11. Die Klingende Brücke – Lieder in allen Sprachen Europas