Philosophie der Gegenwart
Als Philosophie der Gegenwart können einige philosophische Strömungen bezeichnet werden, die zur Zeit besonders intensiv diskutiert werden und entweder in der Philosophie selbst oder aber den angrenzenden Fachwissenschaften einflußreiche Vertreter besitzen. Für alle vorgestellten Richtungen gilt, daß ihre Anfänge in der Philosophie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts liegen.
Bestimmend in der Philosophie der Gegenwart ist - besonders im akademischen Bereich - die analytische Philosophie (s. Philosophie des 20. Jahrhunderts). Die jüngste Phase dieser Richtung wird repräsentiert durch die Arbeiten Nelson Goodmans, Willard Van Orman Quines, Hillary Putnams, Wolfgang Stegmüllers, David Lewis, Saul A. Kripkes u.a.
Grob vereinfachend lässt sich sagen, dass bei diesen Autoren eine Hinwendung zu klassischen und sogar metaphysischen Themen und Problemen der Philosophie stattgefunden hat. Da Analytische Philosophie mehr eine Methode als eine einheitliche philosophische Richtung darstellt, werden jedoch auch metaphysische Problemstellungen streng sprachwissenschaftlich und mit den Mitteln mathematischer Logik untersucht, was sie von anderen (z.B. existentialistischen oder phänomenologischen) Herangehensweisen unterscheidet.
Poststrukturalismus / Dekonstruktivismus
Als poststrukturalistisch werden eine Reihe von Positionen bezeichnet, die in und aus den Werken von Jacques Derrida, Jacques Lacan, Roland Barthes, Julia Kristeva, Louis Althusser und Michel Foucault entwickelt wurden. Der Poststrukturalismus ist eine Denkrichtung, die ihren Ausgangspunkt in einer Kritik des Strukturalismus hat. Der Poststrukturalismus stellt den Strukturbegriff des klassischen Strukturalismus in Frage, der Wandel selbst gerät in den Fokus des Poststrukturalismus und die (politische) Frage danach, wie gesellschaftliche Strukturen und kulturelle Formationen, die mit Macht und Zwang verknüpft sind, verändert werden können.
Eine Methode des Poststrukturalismus ist die (eigentlich strukturalistische) Dekonstruktion von Modellen der Wirklichkeit (Dekonstruktivismus). Dekonstruktion ist eigentlich keine Methode, sondern eine Praxis. Dies bedeutet, sie muss nach dem jeweiligen Gegenstand immer anders verfahren und ist nicht immer gleich anwendbar, eine Dekonstruktion ist auch eigentlich nie abgeschlossen ist.
Vielfach wird der Dekonstruktion auch eine ethische Komponente zugesprochen, da sie die Beziehung zum Anderen eröffnet, zu einem bislang Ungedachten oder Ausgeschlossenen. Der Ethikbegriff der Dekonstruktion geht zurück auf die Philosophie von Emmanuel Lévinas. Der Strukturalismus wie der Poststrukturalismus wurde direkt wie indirekt von Heidegger geprägt, was zu wesentlichen Kritikpunkten an dieser Theorierichtung führte. Beachtlich ist dabei der Einfluss Heideggers auf die französischen (Post-)StrukturalistInnen, sowie die inhärente theoretische Nähe v.a. Derridas zur Ontologie.
Jacques Derrida
Jacques Derrida (1930 - 2004) war ein französischer Philosoph, der als Begründer und Hauptvertreter der Dekonstruktion gilt. Er war von Ferdinand de Saussure, Martin Heidegger, Edmund Husserl, Georges Bataille und Sigmund Freud beeinflußt.
Nach Derrida ist Dekonstruktion keine Methode, d.h. nach einer bestimmten Vorgehensweise geprägte Philosophie, sondern eine Praxis, die sich immer auf bestimmte, aktuelle Themen bezieht. Dekonstruktion nimmt das Behauptete zur Kenntnis, um sich dann sogleich darauf zu konzentrieren, was dieses Behauptete alles nicht behauptet, auslässt und verneint. Sie richtet den Fokus demnach auf das Nichtgesagte. Dieses soll herausgestellt und konzentriert werden, sodass der Fußabdruck der Aussage deutlich wird.
Praktisch kann man sich Dekonstruktion so vorstellen, dass etwa Begriffe selbst und ihre Entstehungsgeschichte hinterfragt, Diskussionen von einer Metaebene aus auf ihre Sprecher und Bedingungen hin untersucht werden. Dabei kann Dekonstruktion als Philosophie in Text/Theorie vorkommen, aber auch z. B. als künstlerische Praxis im Film, in der Kunst, in der Mode, Musik oder Architektur. Interessant ist die Praxis der Dekonstruktion nicht nur für Texte, sondern auch für sozialwissenschaftliche Theorien, die sich mit Identitäten oder Identifizierungen beschäftigen, wie zum Beispiel die Queer Theory oder die feministischen Theorien (Judith Butler) oder Kulturtheorien. Hier werden anhand der Praxis der Dekonstruktion die Stabilitäten und Wesenheiten von Identitäten hinterfragt und nach neuen politischen Wegen gesucht.
In den letzten Werken von Derrida wird immer mehr sein Bezug zum Denken des französischen Philosophen Emmanuel Lévinas offenbar, in dessen Mittelpunkt die Beziehung zum Anderen stand. Dieser Andere ist ein singulärer Anderer und ganz anders. Jeder andere ist ganz anders. Von hier aus entwickelt Derrida auch seine Entscheidungstheorie. Jede Entscheidung sei eine passive Entscheidung des Anderen in mir. Ebenso kennzeichnet er die Praxis der Dekonstruktion als die Ermöglichung einer Beziehung oder eines Empfangs des Anderen. Im Gegensatz zu Lévinas ist bei Derrida das Andere oder der Andere nicht auf Menschen beschränkt.
Die Dekonstruktion ist stets die Befragung der Ursprünge, der Grundlagen und der Grenzen unseres begrifflichen, theoretischen und normativen Apparates.
Michel Foucault
Michel Foucault (1926 - 1984) war ein französischer Philosoph auf den die Bezeichnung Poststrukturalist am ehesten zutreffen, ebenso ist er als Repräsentant der Postmoderne eingeordnet worden. Er sich zwar gegen eine Logik des fortgeschrittenen Kapitalismus wendet, aber dabei durch eine letztlich fiktionalistische Festschreibung eines Erkennens und Denkens als Täuschung, Lüge, Fiktion kritisches Denken selbst durch Ununterscheidbarkeit in Frage stellt.
In "Wahnsinn und Gesellschaft" thematisiert er die Geschichte des Wahnsinns, seiner Diagnostizierung und Behandlung. Dabei demonstriert er u.a. wie psychische Krankheiten konstruiert wurden - man war nicht schizophren, weil man an einer bestimmten Krankheit litt, sondern weil jemand die Diagnose "Schizophrenie" stellte. Ab 1975 setzt er sich vertieft mit der Beziehung zwischen Macht und Wissen auseinander. Er grenzt sich nun von seinem früheren, "juridisch-diskursiven" Machtbegriff ab, nach dem Macht als repressiv verstanden wurde und auf Gehorsam (z.B. gegenüber Gesetzen) abzielte. Die von ihm geprägte „strategisch-produktive“ Machtvorstellung betont dagegen, dass Machtbeziehungen multipel sind, überall entstehen und wirken. Sie sind allen anderen Arten von Beziehungen (z.B. ökonomischen) immanent und durchziehen somit auch kursierendes Wissen.
Foucault hat den Begriff „Diskurs“, der sich durch seine Publikationen zieht, entscheidend geprägt. Seine Ausführungen zu Diskursanalyse bleiben sehr vage bzw. verändern sich mit der Zeit. Am deutlichsten wird er in der „Archäologie des Wissens“, die er als Methodenreflexion praktisch für seine Kritiker niederschrieb. In den Geistes- und Sozialwissenschaften ist Diskursanalyse nach wie vor keine ausreichend etablierte Methode, in den letzten Jahren entstehen jedoch zunehmend mehr Arbeiten, die sich auf Foucault stützen.
Paul Ricoeur
Paul Ricœur (1913 - 2005) war ein französischer Philosoph, der mit Reinhart Koselleck und anderen zu den Philosophen gehörten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Grundbegriffe der Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur zu untersuchen und den Mangel an Selbstreflexion der Historiographie herauszuarbeiten. Auch war er stets bemüht, als Vermittler zwischen den Kulturen und Denktraditionen im angelsächsischen, deutschen und französischen Sprachraum zu wirken. Auch nach seiner Emeritierung 1987 (Paris) und 1990 (Chicago) widmete sich Ricœur weiter geschichtsphilosophischen Untersuchungen im sprachlich-phänomenologischen Kontext. Die Debatte um "Gedächtnis" und Gedächtniskultur bereicherte er mit dem im Jahre 2000 erschienenen Buch La mémoire, l'histoire, l'oubli (Gedächtnis, Geschichte, Vergessen). Aus historischer, erkenntnistheoretischer und phänomenologischer Sicht untersucht er darin das Problem des Erinnerns und den Zusammenhang mit dem (kulturellen) Gedächtnis.
Postmoderne
Die Postmoderne bezeichnet eine Epoche und geistig-kulturelle Bewegung, die schwer zu definieren ist, aber weitgehend durch ihre Zurückweisung - nach anderer Meinung Vollendung - der Moderne unterschieden werden kann. Die Postmoderne ist eine Reaktion auf die Moderne. Zeitlich gibt es verschiedene Einordnungen, von ersten Anfängen in den 60er Jahren, bis hin zum Beginn der 80er Jahre, wo sich die Postmoderne in allen möglichen Alltagsphänomenen (zB. Mode, Popkultur, Kunst, postmoderne Architektur) offen zu zeigen begann.
Während in der Moderne die avantgardistische Perspektive dominiert, steht in der Postmoderne nicht die Realisierung des Neuen im Mittelpunkt des (künstlerischen) Interesses, sondern eine Rekombination oder neue Anwendung vorhandener Ideen. Die Welt wird nicht auf ein Fortschrittsziel hin betrachtet, sondern als pluralistisch, zufällig, chaotisch und in ihren hinfälligen Momenten angesehen. Ebenso gilt die menschliche Identität als unstabil und durch viele, teils disparate, kulturelle Faktoren geprägt. Die Postmoderne wendet sich gegen Festschreibungen insbesondere ideologischer Art, weshalb ihr andererseits oft der Vorwurf der Beliebigkeit gemacht wird.
Gilles Deleuze
Gilles Deleuze (1925 - 1995) war ein französischer Philosoph der Postmoderne. Seine Schriften entziehen sich der leichten Lesbarkeit, was einem artifiziellen, hochkomplexen und assoziativen Schreibverfahren geschuldet ist.
Deleuze steht in der langen Tradition europäischer Denker, die sich mit der Kritik des Essentialismus beschäftigten (Spinoza, Nietzsche). An dessen Stelle sollte - nach Deleuze - das All-Eine, die Totalität von Allem, die das gesamte physikalische Universum und seine Möglichkeitsbedingungen treten. Deleuze richtete sich damit auch gegen den Platonismus, dessen Auffassung war, dass die Dinge der Welt nur unvollkommenen Manifestationen von Ideen seien, die selbst vollkommen, ewig und unveränderlich sind. Deleuze setzte dem seine Vorstellung von der Welt des Virtuellen entgegen. Jede Realisierung von Gegenständen in der Welt ist ein Nexus (Ort eines Verbundenseins) von Virtualitäten, die notwendigerweise unvollkommen miteinander interagieren. Da sie unvollkommen sind, stören sie auch die zukünftige Realisierung von Virtualitäten.
Deleuze und Guattari propagieren Heterogenität, Vielheit, nomadische Wissenschaft und den organlosen Körper. Ihr wichtigster Begriff, das Rhizom, soll eine Alternative zum Baum des Wissens bieten, der seit Platon das zentrale Modell für die hierarchische Organisation der Wissenschaften war. Er wurde jedoch vor allem auch in der Medientheorie als Metapher zur Beschreibung von Hypertext-Netzwerken verwendet.
Jean-François Lyotard
Jean-François Lyotard (1924 - 1998) war ein französischer Philosoph und Literaturtheoretiker der Postmoderne in den späten 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Er beschäftigte sich mit dem Wissen in den hochentwickelten "postindustriellen" Gesellschaften und prägte hier auch den Begriff der Postmoderne. Er verortet sich selbst in der Sprachtheorie und rekurriert dabei auf Ludwig Wittgenstein und dessen Theorie der Sprachspiele. Für Lyotard läuft Kommunikation in Form eines Spiels mit bestimmten Regeln ab, die je nach Situation neu gesetzt, verändert oder eingehalten werden.
Lyotard unterscheidet zwei Formen von Wissen, das szientifische Wissen – das wissenschaftliche Wissen der Moderne mit ungeklärter Legitimation - und das narratives Wissen: das traditionelle Wissen in Form von Geschichten und Erzählungen, das sich selbst legitimiert. Wissenschaft sieht Lyotard also als neues Sprachspiel, das mit dem Problem der eigenen Berechtigung konfrontiert ist (vgl. Agonistik). Dafür schlägt er zwei mögliche Legitimationserzählungen vor: 1. eine politisch-staatliche (Emanzipation und Aufklärung, Immanuel Kant; emanzipatorischer Dispositiv) und 2. eine philosophische (Deutscher Idealismus, Georg Wilhelm Friedrich Hegel; spekulativer Dispositiv). Nach Lyotard gelingt es beiden "großen Erzählungen" nicht, sich selbst zu legitimieren; die Moderne sei daher gescheitert, die großen Erzählungen müssten aufgegeben und durch neue Sprachspiele ersetzt werden.
Die Überlegungen Lyotards im Rekurs auf Kant haben massive politische Implikationen, zählt er zu den gescheiterten "Rahmenerzählungen" doch auch den Marxismus. Er stellt den pluralistischen Liberalismus als alternativlos heraus - nämlich als System der zur Koexistenz verurteilten "unübersetzbaren Diskurse". Lyotards Philosophie ist der Versuch, Aufklärung und Vernunft um jeden Preis zu retten, etwa vor dem neuerlichen Einbruch der Religion ins Politische.
Jean Baudrillard (* 1929) ist ein französischer Philosoph und Soziologe, der als Kritiker und Theoretiker der Postmoderne über zahlreiche Themen wie Virtualität, Simulation, Cyberspace, Hyperrealität, Fundamentalismus, Globalisierung, Subjektwerdung und Menschenrechte schrieb. Zudem entwarf er eine Art „Anti-Medientheorie“.
Baudrillards Denken ist bestimmt vom Zeichensystem (Signifikat und Signifikant), in dem Aussagen sich immer mehr von der Wahrheit entfernen, was z.B. die Verführung des Konsumenten möglich macht. Dadurch entsteht ein Raum permanenter Simulation von Realität, die in Hyperrealität (der Auflösung alles Greifbaren, Referentiellen) endet.
Baudrillard liebt es, mathematisch-physikalische Begriffe wie Raum-Zeit, Paralleluniversum usw. in einer Weise zu gebrauchen, die dem gelernten Mathematiker oder Physiker schlicht und einfach sinnlos erscheint. Dabei prallt die Welt der Naturwissenschaftler mit ihren festen Begriffen und klaren Definitionen auf die der Philosophie, die sich mit den Begriffen selber und ihren Bedeutungen, mit Ähnlichkeiten und Analogien in Strukturen auseinandersetzt.
Feministische Philosophie
Judith Butler (* 1956) ist Professorin für Rhetorik und vergleichende Literaturwissenschaft und gilt heute als die Vertreterin eines dekonstruktiven Feminismus. Einer von Butlers wichtigsten Beiträgen ist ein performatives Modell von Geschlecht, in welchem die Kategorien "männlich" und "weiblich" als Wiederholung von Handlungen verstanden werden, und nicht als natürliche oder unausweichliche Absolutheiten. Diese Beiträge waren auch in der feministischen und kritischen Theoriebildung einflussreich, weil Butler damit die Kategorie "Frau" als Subjekt des Feminismus in Frage stellte. Dies führte besonders in Deutschland zu erbitterten Debatten innerhalb der feministischen Theorie.
Die Subjektwerdung des Menschen vollzieht sich nach Butler innerhalb gesellschaftlicher (Macht-)Strukturen, wodurch jede Identität im Zusammenhang mit den sozialen/kulturellen Verhältnissen zu denken ist. Judith Butler bedient sich in ihrer Analyse verschiedenster Theorien und Forschungsansätze, unter anderem derer von Sigmund Freud, Louis Althusser und Michel Foucault, wobei letzterer wohl für Butlers gesamtes Werk als prägend anzusehen ist.
Julia Kristeva (* 1941) ist eine feministische Intellektuelle, Psychoanalytikerin, Schriftstellerin und Philosophin, deren Schriften zur Linguistik und zur Sprache die poststrukturalistische Diskussion mitprägten. Schon in den frühen 1970ern problematisierte Kristeva die weibliche Identität im Patriarchat. Wegen ihrer Nähe zur Psychoanalyse wurde Kristeva aber von Teilen der feministischen Literaturwissenschaft kritisiert. In jüngerer Zeit hatten ihre Arbeiten Einfluss auf die Theorien der Gender Studies.
Literatur
- Reiner Ruffing: Einführung in die Philosophie der Gegenwart. Fink, Paderborn 2005, ISBN 3-8252-2675-1
- Andreas Graeser: Positionen der Gegenwartsphilosophie. Vom Pragmatismus bis zur Postmoderne. Beck, München 2002, ISBN 3-406-47595-7
- Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): Philosophie der Gegenwart in Einzeldarstellungen. Von Adorno bis v. Wright. 2. Aufl. Kröner, Stuttgart 1999, ISBN 3-520-42302-2
- Georg W. Bertram: Hermeneutik und Dekonstruktion. Konturen einer Auseinandersetzung der Gegenwartsphilosophie. Fink, München 2002, ISBN 3-7705-3643-6
- Ingeborg Breuer, Peter Leusch, Dieter Mersch: Welten im Kopf. Profile der Gegenwartsphilosophie. Lizenzausg. WBG, Darmstadt 1996, ISBN 3-534-13420-6