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Parade (Ballett)

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Titelblatt Parade von Rouart, Lerolle & Cie., Paris 1917 (Klavierauzug für vier Hände)

Parade – Ballet réaliste ist der Titel eines Balletts in einem Akt nach einem Thema von Jean Cocteau und mit der Musik von Erik Satie, der es in den Jahren 1916/1917 für Sergei Diaghilevs Ballets Russes komponierte. Die Kostüme, den Vorhang und das Bühnenbild entwarf Pablo Picasso. Das Ballett wurde am 18. Mai 1917 am Théâtre du Châtelet in Paris in der Choreographie von Léonide Massine, dirigiert von Ernest Ansermet, uraufgeführt[1] und verursachte einen Skandal.

Entstehung

Die Idee für das Ballett stammte von Jean Cocteau. Er hörte 1915 in einem Konzert Erik Saties Trois morceaux en forme de poire und wandte sich an den Komponisten mit der Idee für ein Ballett, einer Parade, in der Zirkusartisten versuchen, die Aufmerksamkeit ihrer Zuschauer für ihre Vorführung zu erringen. Satie, der noch nie eine Komposition für ein Ballett geschrieben hatte, stimmte zu.[2] Nach einigen Schwierigkeiten war Diaghilevs Unterstützung gewonnen; insbesondere Misia Sert war davon zu überzeugen, die Ballets Russes für die Aufführung einzusetzen, denn sie beriet Sergei Diaghilev bei seinen Produktionen. Eine erste Musikversion für Klavier ist ihr gewidmet. Die Produktion der Parade begann in der Mitte des Ersten Weltkriegs. Cocteau musste bis kurz vor der Uraufführung als Fahrer eines Ambulanzwagens für das Rote Kreuz zwischen der Front in Belgien und der Bühne hin- und herwechseln.

Die Choreographie übernahm Léonide Massine, Meistertänzer des Ballets Russes und Liebhaber von Diaghilev; er ersetzte Vaslav Nijinsky, der Paris kurz vor dem Ausbruch des Weltkriegs verlassen hatte. Das Bühnenbild, die Kostüme sowie den Bühnenvorhang übernahm der kubistische Maler Pablo Picasso, der über Edgar Varèse 1915 Cocteau kennengelernt hatte.[3] Vom 19. Februar bis zum 9. April 1917 schlossen sich Cocteau und Picasso der Gruppe Ballets Russes in Rom an, um die Aufführung vorzubereiten.[4] In dieser Zeit verliebte sich Picasso in eine von Diaghilevs Tänzerinnen, Olga Chochlowa, die er 1918 in Paris heiratete.[5]

Das Ballett

Die Aufführung hat eine Laufzeit von 15 Minuten. Die Darbietung zeigt eine Schaustellertruppe, die am Stadtrand ihr Zelt aufgeschlagen hat. Ein europäischer und ein amerikanischer Manager bemühen sich, das Publikum anzulocken. Ein chinesischer Zauberkünstler sowie ein männlicher und ein weiblicher Akrobat zeigen ihre Kunst: der chinesische Zauberer hat besonders witzig zu sein, er schwenkt seinen Zopf hin und her und jongliert mit einem Hühnerei. Die beiden Akrobaten vollführen einen Salto mortale. Ein amerikanisches Mädchen tut so, als lenke es ein Auto. Ein Pferd, gemimt von zwei Darstellern, hat auf die Beine zu kommen und zu tänzeln. Das Publikum ist wenig begeistert, keine einzige Eintrittskarte wird verkauft.[6]

Die Komposition Saties besteht fast durchweg aus Abschnitten „von in sich einheitlicher Struktur, die vier Takte oder ein Vielfaches davon lang sind.“[7] Satie konstruierte diese Klangkontinuen aus „Pendelmotiven in Oktaven, in Sekunden“ und wechselnden „Spielfiguren in Achtelwerten.“[7] Die Musik ist am ehesten als neoklassizistisch zu bezeichnen. Die Intervalle sind in einer Ternären Form, einer dreiteilige A-B-A-Struktur, angelegt und ebenso sind die Folgen von „Vier-, Acht- und Sechzehntakteinstellungen […] für die klassische Musik charakteristisch. So könnte man Parade […] als eine Tanzsuite mit Jazz- und Geräuschelementen bezeichnen“,[7] da der B-Teil oft eine sogenannte Trio ist. Das Finale besteht aus dem schnellen Ragtime „Rag-time du Paquebot“, dem ersten überhaupt in Europa komponierten Ragtime, den Satie gerne traurig gespielt haben wollte,[8] und mit dem die Darsteller erfolglos versucht hatten, Besucher herbeizulocken.[9]

Uraufführung

Parade war die erste Zusammenarbeit von Satie und Picasso, ihre erste Auseinandersetzung mit einem Ballett sowie die erste gemeinsame Produktion mit Diaghilev und den Ballets Russes. Der Dichter Guillaume Apollinaire beschrieb Parade im Programmblatt von 1917 das Ballett als „eine Art von Sur-Realismus“ (und benutzte damit einen Begriff, den drei Jahre später die künstlerische Bewegung der Surrealisten in Paris reklamierte):

„Der kubistische Maler und der kühnste der heutigen Choreografen, Léonide Massine, haben zum ersten Mal vollkommen jene Allianz zwischen Malerei und Tanz, zwischen den bildenden und den mimetischen Künsten erreicht, welche der Bote einer kommenden, vollständigeren Kunst ist. Daran ist überhaupt nichts Paradoxes! […]“
„Diese neue Verbindung – ich sage neu, weil bisher Bühnenbild und Künste nur von sehr künstlichen Fäden verbunden waren – hat in ,Parade‘ zu einer Art Sur-Realismus geführt, den ich für den Ausgangspunkt einer ganzen Serie von Manifestationen des Neuen Geistes halte, der sich heute bemerkbar macht und der sicher unsere Eliten anziehen wird.“[10]

Ausstattung und Inszenierung

Bühnenvorhang zum Ballett „Parade“
Pablo Picasso, 1917
Théâtre du Châtelet, Paris

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(bitte Urheberrechte beachten)

Während Picassos Kostüme eine kubistische Formensprache aufwiesen, änderte er den Bühnenvorhang im letzten Augenblick, inspiriert durch die italienische Kunst des 19. Jahrhunderts, und benutzte so zwei Kunststile nebeneinander. Mit den beiden Managern kam in der Inszenierung der Kubismus auf die Bühne.[11] Einige von Picassos kubistischen Kostümen waren aus festem Karton gestaltet, die den Tänzern nur ein Minimum an Bewegung gestatteten. Insbesondere enttäuschte das Publikum den mithilfe einiger Helfer eigenhändig gemalte Vorhang Picassos, da dazu Saties Choral erklang. Sie hatten schockierendere Dinge erwartet und Léon Bakst kritisierte den Vorhang als zwar nicht zu avantgardistisch sondern als zu „passéiste“ (altmodisch).[3][11]

Die Partitur enthielt verschiedene Geräuschtypen, nach Art Lärm machender „Instrumente“ wie „Flaschenspiel, tönende Pfützen, Lotterierad, Schreibmaschinengeklapper, Dampfgeräusch, elektrische Klingel, Revolverschüsse, Dynamogeräusch“.[11] Diese sogenannten „trompe l’oreille“ (Ohren-Täuschung) waren von Jean Cocteau, nach Einverständnis von Satie seine Musik als „Unterlage für bestimmte Geräusche und Laute anzusehen, die der Librettist zur Präzisierung seiner Figuren für unerläßlich“[12] hielt, hinzugefügt worden. Vermutlich war es ein Versuch, den Skandalerfolg von Igor Stravinskis Le sacre du printemps zu wiederholen, der vor einigen Jahren von den Ballets Russes aufgeführt worden war.

Theaterskandal

Den unter anderem durch die Geräusche aus Parade hervorgerufene Skandal wurde auch in Zürich wahrgenommen, woraufhin Satie ohne sein Zutun in die Dada-Bewgung aufgenommen wurde. Marcel Janco bemerkte dazu, dass „zahlreiche Literaten, Pamphletisten, Skatologen, Maler, Musiker, Invertierte, […] eine Vielzahl deutscher Schriftsteller, ja sogar Diplomaten […]“[13] den Dada-Titel für sich beanspruchten, jedoch ohne Berechtigung. Er „würde dagegen vorschlagen, bestimmten großen Männern diesen Titel von Amts wegen zu verleihen“,[13] so zum Beispiel Charlie Chaplin, Voltaire, Erik Satie, Niccolò Machiavelli, Napoleon Bonaparte, Pablo Picasso, Molière, Max Jacob oder Sokrates.[13]

Der sowjetische Schriftsteller Ilja Ehrenburg, ein Freund Picassos, der in Paris im Exil lebte, beschrieb die spektakuläre Premiere im Mai 1917 im Pariser Théâtre du Châtelet: „Die Musik gab sich modern, das Bühnenbild war halb kubistisch […] Die Parterregäste rannten zur Bühne und schrien markdurchdringend: ‚Vorhang!‘ […] Und als ein Pferd mit kubistischer Schnauze Zirkusnummer vorführte, verloren sie endgültig die Geduld: ‚Tod den Russen! Picasso ist ein Boche! Die Russen sind Boches!‘“ Picassos Freunde jedoch waren begeistert. Apollinaire beispielsweise betrachtete die erstmalige künstlerische Allianz zwischen Malerei und Tanz, Plastik und Darstellungskunst als Beginn einer umfassenden Kunst, als eine Art „sur-réalisme“. [14]

Laut Gabriel Fournier gab es einen heftigen Streit zwischen Cocteau, Satie und dem Musikkritiker Jean Poueigh, der für Parade eine schlechte Kritik geschrieben hatte. Satie hatte ihm eine Postkarte geschrieben mit dem Text: „Monsieur et cher ami – vous êtes un cul, un cul sans musique! Signé Erik Satie“ („Mein Herr und lieber Freund – Sie sind ein Arsch, ein Arsch ohne Musik! Signiert Erik Satie“) Der Kritiker verklagte Satie, und die Polizei nahm Satie während der Verhandlung bei Gericht fest, als er wiederholt „Cul!“ schrie. Das Urteil lautete auf acht Tage Gefängnis.[1]

Weitere Aufführungen

Programmblatt des Balletts Parade, 1920

Drei Jahre später, 1920, wurde Parade erneut in von den Ballets Russes im Théâtre du Châtelet in Paris aufgeführt. Diaghilev hatte sich gegen Cocteau durchgesetzt, und die Aufführung erfolgte ohne die zusätzlichen Geräusche, die in der Premiere Saties Musik ergänzt hatten.[15]

Rezeption

Die Frankfurter Schirn zeigte Ende 2006 bis Anfang 2007 unter dem Titel Picasso und das Theater mehr als 140 Werke Picassos: Entwürfe für Bühnenbilder, Fotografien, Kostüme, Bühnenvorhänge, Zeichnungen und Gemälde, darunter auch Entwürfe für Parade. Viele originale Bühnenbilder und Kostüme sind jedoch zerstört oder verschollen. Von den ursprünglichen Choreografien existieren oft nur noch wenige Schwarz-Weiß-Fotografien.[16]

Zum zehnten Jahrestag der Eröffnung des Graphikmuseum Pablo Picasso Münster fand im Juni und Juli des Jahres 2010 eine Neuinszenierung des Balletts statt. Die Choreografin Claudine Merkel hat das Stück neu konzipiert. Die Musik zur neuen Parade schrieb der münstersche Komponist Burkhard Fincke, die Kostüme entwarf der Designer Jean Malo. Die Oboistin Stefanie Bloch aus Münster begleitete die Tänzer.[17]

Literatur

  • Grete Wehmeyer: Erik Satie. Gustav Bosse Verlag, Regensburg 1974, ISBN 3-7649-2077-7; Gustav Bosse Verlag, Kassel 1997, ISBN 3-7649-2079-3 (Überarbeitete Neuauflage)
  • Grete Wehmeyer: Erik Satie. Rowohlts Monographien. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1998, ISBN 3-499-50571-1
  • Heinrich Lindlar (Hrsg.): rororo Musikhandbuch. 2 Bände. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1973; band 2, S. 594
  • Olivier Berggruen, Max Hollein (Hrsg.): Picasso und das Theater. Mit einem Vorwort von Max Hollein und Texten von Olivier Berggruen, Asya Chorley, Douglas Cooper, Marilyn McCully, Esther Schlicht, Alexander Schouvaloff, Ornella Volta, Diana Widmaier Picasso. Deutsch-englische Ausgabe, Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2006, ISBN 978-3-7757-1872-1

Einzelnachweise

  1. a b Parade – Premiered May 18, 1917, russianballethistory.com, abgerufen am 23. November 2010
  2. Erik Satie (1866–1925), musicacademyonline.com, abgerufen am 26. November 2010
  3. a b Grete Wehmeyer: Erik Satie. Gustav Bosse Verlag, Regensburg 1974, S. 201
  4. Jean Cocteau, jeancocteau.net, abgerufen am 26. November 2010
  5. Siegfried Gohr: Pablo Picasso. Leben und Werk. Ich suche nicht, ich finde. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2006, ISBN 3-8321-7743-4. S. 24 f
  6. Nach klassika.info
  7. a b c Karin von Maur (Hrsg.): Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Prestel-Verlag, München 1985, S. 386
  8. Ornella Volta: Satierik. Erik Satie. Rogener&Bernhard bei zweitausendeins, München 1984, ISBN 3-80-77-0201-6, S. 52
  9. Nancy Hargrove: The great Parade: Cocteau, Picasso, Satie, Massine, Diaghilev – and T.S. Eliot, highbeam.com, 1. März 1998, abgerufen am 23. November 2010
  10. Aus dem Programmblatt Apollinaires, zitiert nach corpusweb.net
  11. a b c Karin von Maur (Hrsg.): Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Prestel-Verlag, München 1985, S. 385
  12. Ornella Volta: Satierik. Erik Satie, München 1984, S. 55
  13. a b c Ornella Volta: Satierik. Erik Satie, München 1984, S. 56
  14. Wiegand: Picasso, S. 93 f
  15. Zitiert nach myballetsrusses.blogspot.com
  16. Picasso und das Theater, kunstaspekte.de, abgerufen am 25. November 2010
  17. Sabine Müller: Mit Picasso ins Ballett, ruhrnachrichten.de, 9. Juni 2010, abgerufen am 23. November 2010