Europäischer Gerichtshof
Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, kurz auch Europäischer Gerichtshof genannt (Abk. EuGH) mit Sitz in Luxemburg ist das Recht sprechende Organ der Europäischen Gemeinschaften. Er nimmt damit im politischen System der EU die Rolle der Judikative ein.
Der Europäische Gerichtshof sollte nicht mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg verwechselt werden, der eine Einrichtung des Europarates ist.
Zuständigkeit und Verfahren
Aufgaben und Zuständigkeit
Die Aufgaben des EuGH sind in den Art. 220-245 EG-Vertrag sowie einer eigenen Satzung des EuGH festgeschrieben. Seine Aufgabe ist es, die Einheitlichkeit der Auslegung europäischen Rechts zu sichern. 1989 wurde zur Entlastung des Gerichtshofs ein Europäisches Gericht erster Instanz (Abk. EuG, EuGI) geschaffen. Seitdem ist der Gerichtshof für direkte Klagen von natürlichen und juristischen Personen nur noch als Rechtsmittelinstanz für Entscheidungen des Europäischen Gerichts erster Instanz zuständig.
Verfahren
Für Klagen der Europäischen Kommission und der Mitgliedstaaten (v. a. Vertragsverletzungsverfahren) sowie für die meisten Entscheidungen im Vorabentscheidungsverfahren ist der Gerichtshof jedoch weiterhin in erster Instanz zuständig.
- Vertragsverletzungsverfahren (Art. 226 EGV): Die Europäische Kommission kann einen Mitgliedstaat - nach einem Vorverfahren - vor dem EuGH verklagen. Der Gerichtshof prüft, ob ein Mitgliedstaat seinen Verpflichtung aus dem EG-Vertrag nicht nachgekommen ist. Dabei wird dem EuGH eine Klageschrift zugestellt, die teilweise im Amtsblatt veröffentlicht wird, und die dem Beklagten zugestellt wird. Je nach Fall kommt es zu einer Beweisaufnahme und einer mündlichen Verhandlung. Im Anschluss daran gibt der Generalanwalt seine Schlussanträge ab, in denen er einen Urteilsvorschlag abgibt, an den der EuGH allerdings nicht gebunden ist. Gemäß Art. 227 EGV besteht auch die Möglichkeit, dass ein Mitgliedstaat gegen einen anderen Mitgliedstaat vor dem EuGH (nach einem Vorverfahren durch Einschaltung der Kommission, Art. 227 Abs. 2-4 EGV) vorgeht.
- Vorabentscheidungsverfahren (Art. 234 EGV): Die nationalen Gerichte können (bzw. müssen, soweit es sich um die letzte Instanz handelt (z. B. Bundesfinanzhof, Bundesgerichtshof)) dem EuGH Fragen hinsichtlich der Auslegung von Gemeinschaftsrecht vorlegen. Außerdem können sie vom EuGH überprüfen lassen, ob ein europäischer Gesetzgebungsakt gültig ist. Dies soll in besonderem Maße die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die nationalen Gerichte, die für die innerstaatliche Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zu sorgen habe, sicherstellen. Das nationale Gericht muss in seiner Verhandlung auf die Auslegung bzw. Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts angewiesen sein (sie muss entscheidungserheblich sein und die Auslegung darf nicht bereits geklärt sein) um eine Frage vorlegen zu dürfen. Es unterbricht dabei sein Verfahren bis zur Antwort des EuGH. Die vorgelegte Frage wird zunächst in alle Amtssprachen übersetzt und im Amtsblatt bekannt gemacht. Dies gibt den beteiligten Parteien, sämtlichen Mitgliedstaaten und den europäischen Organen die Möglichkeit, Stellungsnahmen abzugeben. Wiederum folgen i. d. R. eine mündliche Verhandlung sowie Schlussanträge des Generalanwalts, bevor es zu einem Urteilsspruch kommt. Das vorlegende Gericht (und andere Gerichte in ähnlichen Fällen) sind an das Urteil des EuGH gebunden.
Eine Besonderheit des EuGH ist der Generalanwalt. Dieser hat die Aufgabe, nach der mündlichen Verhandlung einen Vorschlag für ein Urteil in der Form von Schlussanträgen zu erstellen. Dazu fasst er die bisherige Rechtsprechung des EuGH in ähnlichen Fällen zusammen und nutzt diese, um seine Vorstellungen hinsichtlich der Beurteilung des vorliegenden Falls zu begründen. Der Generalanwalt ist dabei nicht Vertreter einer Partei, sondern soll seinen Vorschlag unabhängig und neutral entwickeln. Der EuGH ist an diese Vorschläge nicht gebunden, faktisch folgt er jedoch in ca. 3/4 aller Fälle den Vorschlägen des Generalanwalts.
Sprachen
Verfahrenssprache kann jede Amtssprache der Europäischen Union sein; wobei es darauf ankommt, aus welchem Land die Klage erhebende Partei und die beklagte Partei kommt. Diese Regelung sollte sicherstellen, dass jeder Angehörige der Europäischen Union in seiner Sprache Rechtshandlungen vornehmen kann. Die Beiträge der Verfahrensbeteiligten und der Richter werden hierbei simultan verdolmetscht, die Dokumente zum Verfahren übersetzt. Interne Arbeitssprache des Gerichtshofs ist Französisch. Durch die Erweiterung der Union auf 25 Mitgliedstaaten lässt sich allerdings eine Tendenz zur Benutzung des Englischen feststellen. Der Grund liegt vor allem darin, dass in den neuen Mitgliedstaaten die juristische Ausbildung zu einem großem Teil auf Englisch stattfindet, weniger jedoch auf Französisch. Französisch wurde auch nur deshalb Arbeitssprache des Gerichtshofs, weil zum Zeitpunkt der Gründung der Union 1957 (damals noch EG – Europäische Gemeinschaft) die Mehrzahl der Bevölkerung der sechs Gründungsstaaten (Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande) Französisch sprach.
Auslegungsmethoden
Bei der Auslegung von Rechtsnormen des europäischen Gemeinschaftsrechts durch den EuGH ergeben sich einige Besonderheiten gegenüber den gewöhnlichen juristischen Auslegungsmethoden.
Die erste Besonderheit liegt darin, dass die Rechtsquellen des Gemeinschaftsrechts keine einheitliche, verbindliche sprachliche Fassung kennen, sondern derzeit in 20 verschiedenen Sprachen verbindlich sind, was sich aus den Art. 21 und 314 EGV ergibt. Bei abweichendem Sinn verschiedener Sprachfassungen stößt die reine Wortlautauslegung daher an ihre Grenzen und die zusätzliche Verwendung rechtsvergleichender, systematischer oder teleologischer Argumente wird notwendig.
Des weiteren ergeben sich aus der sprachlichen Ungenauigkeit des Primärrechts, die den durch die Vielzahl der an der Entstehung beteiligten Organen bzw. Personen bedingten schwierigen politischen Willensbildungsprozessen geschuldet ist, Probleme bei der Auslegung. So beschränken sich viele Normen auf allgemeine Formulierungen, um den Gemeinschaftsorganen einen Entscheidungsspielraum zu gewähren und eine dynamische Interpretation zu ermöglichen. Auch sind die in den Verträgen verwendeten Begriffe autonom, d.h. mit gemeinschaftsrechtlichen Bedeutungen, zu verstehen und können nicht dem Sprachgebrauch einzelner Mitgliedstaaten entnommen werden. Der Gerichtshof bedient sich hier bei der Suche nach systematischer Geschlossenheit oft der sog. „wertenden Rechtsvergleichung“, wobei er in den nationalen Regelungen nach der besten Lösung sucht.
Weitere Besonderheiten zeigen sich bei der Auslegung der Verträge nach Sinn und Zweck. So handelt es sich etwa bei dem Effektivitätsgrundsatz („effet utile“) um eine besondere Form der Sinnauslegung, nämlich die nach den Vertragszielen. Demnach sollen die einzelnen Bestimmungen der Verträge so ausgelegt werden, dass sie die größtmögliche Wirksamkeit entfalten. Es gilt hierbei jedoch zu beachten, dass es sich bei der Interpretation nach dem „effet utile“ keineswegs um Auslegung über den vom Primärrecht gesetzten Rahmen hinaus handelt. Vielmehr hält sich der EuGH hier unter seiner vollen Ausnutzung innerhalb des durch die Verträge gesetzten Rahmens.
Neben den Effektivitätsgrundsatz tritt eine weitere Lehre den Interpretationsmethoden des EuGH hinzu, nämlich die aus dem Völkerrecht bekannte Lehre von den „implied powers“. Danach beinhalten die Verträge implizit auch die Kompetenzvorschriften, ohne die sie nicht sinnvoll zur Anwendung kommen können. Auch diese Methode wird als eine besondere Art der teleologischen Auslegung verstanden. Sie ist auch – in ähnlicher Form - dem deutschen Recht nicht völlig fremd. So sind etwa die ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenzen des Bundes „aus der Natur der Sache“, als „Annexkompetenz“ und „Kraft Sachzusammenhangs“ zusätzlich zu den Katalogen der Art. 73, 74 und 74a Grundgesetz von Rechtsprechung und der Lehre ausdrücklich anerkannt.
Entscheidungen
Urteile des EuGH, soweit sie im Wege eines Vorabentscheidungsersuchens nach Art. 234 EGV ergangen sind, dienen zunächst dazu, dem vorlegenden nationalen Gericht die Entscheidung im Ausgangssachverhalt zu ermöglichen. Grundsätzlich bindet die EuGH-Entscheidung durch die Auslegung des Gemeinschaftsrechts nur das anfragende Gericht, dessen Urteil wiederum theoretisch nur für den entschiedenen Einzelfall gilt.
Die faktische Wirkung eines EuGH-Urteils ist jedoch ungleich größer, sie geht weit über den einzelnen Sachverhalt, der zur Vorlage geführt hat, hinaus. Da der EuGH für alle Mitgliedstaaten verbindlich Gemeinschaftsrecht auslegt, gilt die Norm des Gemeinschaftsrechts, so wie sie durch die im Urteil verkündete Auslegung zu verstehen ist, für alle Mitgliedstaaten und - in der Regel - ex tunc, d.h. rückwirkend. Anders formuliert: Der EuGH stellt fest, wie eine Vorschrift des Gemeinschaftsrechts immer schon und von allen hätte verstanden werden müssen.
Eine unbegrenzte Rückwirkung der Urteile wird jedoch durch die nationalen Verfahrensrechte verhindert, da ein rechtskräftiger Verwaltungsakt ohne gesonderte Vorschrift nicht mehr geändert werden kann.
Eigenständige Rechtsordnung der EG
Eine der wichtigsten Entscheidungen des EuGH ist das Urteil in der Sache „Van Gend & Loos-Entscheidung“ von 1963. In dieser Entscheidung begründete der EuGH die Doktrin, dass es sich beim europäischen Gemeinschaftsrecht um eine selbstständige Rechtsordnung sui generis handele, die von dem Recht der Mitgliedstaaten losgelöst sei. Dies bedeutete eine Abkehr von der bisherigen Auffassung, es handele sich beim Recht der europäischen Gemeinschaften um gewöhnliches Völkerrecht. Die Entscheidung hat große Bedeutung und sorgte in der Fachwelt für Aufsehen, da der EuGH damit auch begründete, dass Subjekte des Europarechts nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die einzelnen Bürger seien.
Aus der in „Van Gend & Loos-Entscheidung“ begründeten Doktrin von der Eigenständigkeit des Europarechts entwickelte der EuGH 1964 in der Entscheidung "Costa/ENEL" die weitere Doktrin vom Vorrang des Europarechts gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten.
In diesen und den darauf folgenden Entscheidungen betonte der EuGH immer wieder, dass sich die Mitgliedstaaten freiwillig einer Gemeinschaft mit eigenständiger Rechtsordnung unterworfen haben. Dass es sich hierbei um eine Rechtsordnung und nicht bloß um ein politisches Zweckbündnis handelt, zeigt sich vor allem in solchen Entscheidungen des EuGH immer wieder.
So wurde am 13. Juli 2004 ein Beschluss der EU-Finanzminister revidiert, der die Defizit-Strafverfahren gegen Deutschland und Frankreich ausgesetzt hatte. Diese Entscheidung der Minister sei nicht mit EU-Recht vereinbar. Geklagt hatte die EU-Kommission.
Warenverkehrsfreiheit
Hauptartikel: Warenverkehrsfreiheit
Eine weniger bekannte, aber wichtige Entscheidung des EuGH im Zusammenhang des freien Warenverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten ist das Cassis-de-Dijon-Entscheidung von 1979. Darin untersagte der EuGH Deutschland, Anforderungen an ein Produkt zu stellen, die es in seinem Herkunftsland nicht erfüllen muss.
Steuerrecht
Entscheidungskompetenz des EuGH
Die nationalen Steuervorschriften innerhalb der EU sind vor allem im Bereich der direkten Steuern noch kaum harmonisiert (anders die indirekten Steuern, die über die Mehrwertsteuerrichtlinien stark vereinheitlicht wurden). Die Gemeinschaft hat in diesem Bereich auch keine ausdrückliche Harmonisierungskompetenz, aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit (s. Art. 5 EG-Vertrag) darf sie daher diesen Bereich (unter weiteren Voraussetzungen) nur dann harmonisieren, wenn die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes behindert wird (s. Art. 94 EG-Vertrag). Daher ist es im Bereich der direkten Steuern nur in wenigen Bereichen zu einer Harmonisierung gekommen, beispielsweise im Rahmen der Mutter-Tochter-Richtlinie und der Fusionsrichtlinie.
Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH müssen die Mitgliedstaaten allerdings bei Ausübung der ihnen verbleibenden Kompetenz die Schranken, die Ihnen das Gemeinschaftsrecht auferlegt, beachten. Das heißt, dass obwohl die Ausgestaltung des nationalen Steuerrechts Teil der Souveränität der Nationalstaaten ist und bleibt, das Ergebnis der Kompentenzausübung, also die nationale Steuergesetze, nicht gegen Gemeinschaftsrecht, insbesondere nicht gegen die Grundfreiheiten verstoßen dürfen (Vgl. z.B. EuGH, Urt. v. 14.2.1995, Rs. C-279/93 (Schumacker), Rz. 21)
Wichtige Entscheidungen
- Manninen-Entscheidung: Nach der Manninen-Entscheidung des EuGH ist die Beschränkung eines Körperschaftsteuer-Anrechnungsverfahren auf die Anrechnung nur inländischer Körperschaftsteuer EG-rechtswidrig. Auch ausländische Körperschaftsteuer muss angerechnet werden. Dieses Urteil (zusammen mit dem Urteil Fokus Bank ASA des EFTA-Gerichtshofs ist das endgültige Ende für Körperschaftsteueranrechnungssysteme in Europa.
- Lasteyrie du Saillant-Entscheidung: Die Besteuerung von stillen Reserven beim Wohnsitzwechsel von natürlichen Personen ins Ausland (nicht dagegen beim inländischen Wohnsitzwechsel) wie er auch in Deutschland durch § 6 AStG vorgesehen ist, wurde in Frankreich für EG-rechtswidrig angesehen (s. auch Wegzugsbesteuerung). Diesbezüglich steht ein Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen Deutschland im Raum.
- Gerritse-Entscheidung: Nach dem Urteil Gerritse ist es unzulässig, dass beschränkt Steuerpflichtige ihre Werbungskosten nicht abziehen dürfen, wenn es unbeschränkt Steuerpflichtige dürfen.
- Lankhorst-Hohorst-Entscheidung: Hier wurden die deutschen Regeln zur Gesellschafter-Fremdfinanzierung für EG-rechtswidrig erklärt.
- Eurowings-Entscheidung: Die hälftige Hinzurechnung von Leasinggebühren, die an Ausländer gezahlt werden, bei der Gewerbesteuer wurde für EG-rechtswidrig befunden.
Weitere Entscheidungen
- 1993: Keck-Entscheidung (Legitimationen der Einschränkung der Marktfreiheit)
- Kategorie:Entscheidungen des EuGH
Richter und Generalanwälte
siehe: Liste der Richter am Europäischen Gerichtshof