Tötungsdelikte an der Startbahn West
Die Tötungsdelikte an der Startbahn West des Frankfurter Flughafens am 2. November 1987 waren die ersten tödlichen Angriffe auf Polizeibeamte in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland während einer Demonstration.
Der damals 33-jährige Andreas E., ein militanter Autonomer, hatte aus einer Versammlung heraus gegen die seinerzeit bereits seit drei Jahren in Betrieb genommenen Startbahn West 14 Schüsse aus einer Pistole auf Einsatzkräfte der hessischen Bereitschaftspolizei abgefeuert. Ein 43-jähriger und ein 23-jähriger Polizeibeamter starben, sieben weitere wurden durch die Schüsse teilweise schwer verletzt. Die Tat erregte bundesweit großes Aufsehen und markierte das Ende der organisierten Proteste gegen die Startbahn West. Zwei Jahre nach Beginn des so genannten Frankfurter Startbahnprozesses wurde der Täter im März 1991 zu einer 15-jährigen Freiheitsstrafe verurteilt; im Oktober 1997 wurde er aus der Haft entlassen.
Vorgeschichte

1979 hatte sich die „Aktionsgemeinschaft gegen die Flughafenerweiterung“ gegründet, die sich wenige Monate später in „Bürgerinitiative gegen die Flughafenerweiterung Frankfurt Rhein-Main“ umbenannte. Ein Jahr später begannen die Vorbereitungsarbeiten des Frankfurter Flughafens an der Startbahn West. Dadurch nahm eine massive Protestwelle ihren Anfang und wurde zu einer der größten Bürgerbewegungen der Bundesrepublik Deutschland. In der Folge kam es unter anderem zu verschiedenen Protestaktionen durch die Bürgerinitiative, zur Errichtung eines „Hüttendorfes“ und zu mehreren Demonstrationen, auf denen sich gewalttätige Protestierer und die Polizei stundenlange Straßenschlachten lieferten. Die Situation eskalierte zunehmend, es kam zu bürgerkriegsähnlichen Kämpfen.[1] Es gab sowohl auf Seiten der Demonstranten als auch auf Seiten der Polizei zahlreiche Verletzte.
Am 2. November 1981 wurde das Hüttendorf friedlich geräumt. In mehreren deutschen Städten, insbesondere in Frankfurt am Main, kam es am selben sowie am darauffolgenden Tag wiederum zu blutigen Auseinandersetzungen. Ihren Höhepunkt hatten die Proteste der Startbahngegner am 14. November 1981, als 150.000 Menschen in Wiesbaden demonstrierten und 220.000 Unterschriften gegen die Startbahn gesammelt werden konnten. Nach dieser Zeit flachten die Proteste ab.[2]
Die Startbahn wurde am 12. April 1984 dem Flugverkehr übergeben. Danach kam es nur noch zu so genannten „Sonntagsspaziergängen“ vereinzelter Protestierer. Die letzte größere Protestaktion fand am 2. November 1987 statt.[3]
Tatumstände
Demonstration am 2. November 1987
Der 2. November 1987 war der sechste Jahrestag der Räumung des Hüttendorfes am 2. November 1981, aufgrund der es in verschiedenen Städten zu blutigen Protestaktionen gekommen war. Die „Bürgerinitiative gegen die Flughafenerweiterung Frankfurt Rhein-Main“ hatte Ende Oktober 1987 zu einem „Jubiläumsprotest“ an der Startbahn West aufgerufen. Etwa zwei- bis dreihundert Teilnehmer folgten dem Aufruf. Es gab zahlreiche Hinweise, dass es an diesem Tag zu Gewalttaten kommen würde. Bereits im Vorwege waren bei Fahrzeugkontrollen Molotowcocktails sichergestellt worden. Die Polizei notierte die Kennzeichen der angereisten Demonstranten.
Offiziell verlautbarter Treffpunkt war um 18:00 Uhr am Vereinslokal der SKG Walldorf von 1880. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits dunkel. Um die Polizei zu täuschen, trafen sich die Protestierer durch mündlich-persönliche Weitergabe tatsächlich jedoch etwa zwei Kilometer weit entfernt an einem Wildgatter in Mörfelden. Von dort aus setzte sich der Demonstrationszug gegen 19:20 Uhr in Bewegung und gelangte etwa eine halbe Stunde später an eine Weggabelung, knapp 250 Meter vor der Südspitze der Startbahn-West-Mauer entfernt. Von dort führt der einzige Weg an das Tor in der Mauer der Startbahn West. An dieser Stelle errichteten einige Demonstranten Barrikaden, indem sie Autoreifen mit Ketten und Moniereisen im Boden verankerten und anschließend mit Gaskartuschen versehene Strohballen aufeinanderschichteten. Das Terrain war durch mobile Lichtmasten der Polizei, die auf dem Gelände der Startbahn aufgestellt waren, hell erleuchtet.[4]
Gegen 20:02 Uhr erging der Einsatzbefehl an alle eingesetzten Polizeieinheiten, aufgrund zu erwartender „Kleingruppentaktik“ der Demonstranten auf eine erhöhte Eigensicherung zu achten. Etwa zu diesem Zeitpunkt – um 20:00 Uhr herum – begannen gewaltsame Auseinandersetzungen. Auf Seiten der Demonstranten wurden die errichteten Barrikaden angezündet. Molotowcocktails flogen in Richtung der eingesetzten Polizeikräfte, ebenso geworfene Steine, durch Zwillen abgeschossene Stahlkugeln und abgefeuerte Signalmunition. Auf den Feldern gingen Heuballen in Flammen auf. Auf den schmalen Stegen brannten Barrikaden aus Ästen und abgeschlagenen Bäumen.[5]
Um 20:31 Uhr löste die Polizei die Versammlung „angesichts der Gefahrenlage“ auf. Über den Lautsprecherwagen gab sie bekannt, dass der Fackelzug verboten sei, der Aufzug gefährde die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Auf Seiten der Polizei rückten nun ab 20:38 Uhr die eingesetzten Hundertschaften sowie Wasserwerfer aus, um die Demonstranten über die etwa 600 Meter breiten Wiesen in Richtung Grundbach und die hinter ihm angrenzenden Waldgebiete zurückzudrängen. Das Wiesengelände war durch den Mond, die Scheinwerfer eines Polizeihubschraubers und die beiden mobilen Lichtmasten gut ausgeleuchtet.[6]
Gegen 20:57 Uhr, als die gewaltsamen Auseinandersetzungen noch im vollen Gange waren, kam der Einsatzbefehl über Lautsprecher, das Gebiet nur bis zum Beginn des Wiesengeländes zu räumen. Die Polizeibeamten der Hundertschaft 12/1 – einer so genannten Ausbildungshundertschaft – hatten diese Durchsage offenbar nicht mehr gehört. Sie stürmten auf das Wiesengelände, was den Regeln über die Eigensicherung der Beamten widersprach, die der Arbeitskreis II der Innenministerkonferenz erst kurze Zeit zuvor für den Einsatz gegen gewalttätige Störer aufgestellt hatte.[7] Hierdurch gaben sie auf der flachen, mit nur kniehohem Gras bewachsenen, ausgeleuchteten Wiese „gut sichtbare Zielscheiben“ ab.[8]
Schüsse auf Polizisten

Zu diesem Zeitpunkt hielt sich Andreas E. gemeinsam mit anderen Demonstranten am Waldrand am Ufer des Grundbaches auf. Gegen 21:05 Uhr zog er eine Pistole. Auf welche Weise Andreas E. an die Schusswaffe gelangt war, blieb ungeklärt. Andreas E. gab dann aus dem Dunkeln heraus innerhalb einiger Minuten insgesamt 14 gezielte Einzelschüsse auf die Angehörigen der Ausbildungshundertschaft 12/1 ab, die insbesondere aufgrund der weißen Schutzhelme und der flachen, übersichtlichen Wiese gut sichtbar waren. Hierbei hat er zwischen den Schüssen drei verschiedene, bis zu 55 Meter auseinander liegende Standorte eingenommen und einmal das Magazin gewechselt. Andreas E. traf insgesamt neun Polizeibeamte.
Der 43-jährige Polizeihauptkommissar Klaus E. war Hundertschaftsführer der IV. Bereitschaftspolizeiabteilung Hanau. Er war 516 Meter vom Täter entfernt und erhielt einen Schuss in den Solar plexus. Der 23-jährige Polizeimeister Thorsten Sch. war Angehöriger der III. Bereitschaftspolizeiabteilung in Mühlheim und erst seit drei Jahren im Dienst. Er war 83 Meter vom Täter entfernt, als er im Unterbauch getroffen wurde. Für beide Polizeibeamte wurde ein Rettungshubschrauber angefordert, der gegen 21:20 Uhr in der Nähe der Opfer landete. Auf dem Flug in die Universitätsklinik Frankfurt stellten die Rettungskräfte die Wiederbelebungsversuche für Klaus E. ein. Er hinterließ eine Ehefrau und drei Kinder. Thorsten Sch. erlag in der Universitätsklinik um 22:15 Uhr seinen inneren Verletzungen.[9]
Weitere durch die Schüsse Getroffene waren der 26-jährige Polizeimeister Uwe K., der durch einen Lungendurchschuss schwer verletzt wurde, und der 23-jährige Polizeimeister Uwe T., der einen Oberschenkeldurchschuss erhielt. Fünf weitere Polizeibeamte wurden ebenfalls getroffen und leichter verletzt. Sie wurden mit Rettungswagen in die Flughafenklinik gefahren.
Ein Zeuge hatte unmittelbar nach der Tat den vermummten Andreas E. im Wald mit der Waffe in der Hand gesehen, woraufhin dieser im Gespräch die Schüsse auf die Polizeibeamten zugab. Andreas E. wies den Zeugen allerdings an, ja „das Maul“ zu halten. Der Zeuge konnte den Täter später nicht wieder erkennen.[10]
Die Tötungsdelikte waren überhaupt die beiden ersten Fälle in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, in denen Polizisten von einem Demonstranten getötet wurden.[11][12] Das Komitee für Grundrechte und Demokratie sprach daher von einer „Zäsur“ in der Geschichte der Bundesrepublik, da erstmals „die Handlungslogik von Protest und Widerstand in die des Bürgerkriegs, die kalkulierte Vernichtung des Gegners, umgeschlagen zu sein“ schien.[13]
Ermittlungen
Festnahme des Tatverdächtigen Andreas E.
Am Morgen nach der Tat zog der Generalbundesanwalt beim Bundesgerichtshof das Verfahren an sich, da der Verdacht bestand, dass „die Ermordung der Polizeibeamten nach den Umständen bestimmt und geeignet ist, den Bestand der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen.“ Die besondere Bedeutung des Falles ergab sich nach Auffassung des Generalbundesanwaltes aus der „Tötung von Polizeibeamten mit Schusswaffen am Rande einer Demonstration, aus der heraus vermummte Täter Gewalttaten begangen haben.“[14]
Nach der Tat durchsuchte die Kriminalpolizei rund vier Dutzend Häuser und Wohnungen in Wiesbaden, Rüsselsheim und Frankfurt am Main. Auch den Täter suchten die Beamten auf. Über den Werdegang des damals 33-jährigen Werbegrafikers ist bekannt, dass er eine Ausbildung an der Werbefachschule in Kaiserslautern absolvierte und als kaufmännischer Angestellter im Dachziegelvertrieb einer Frankfurter Firma beschäftigt war, zuletzt als Werbeleiter.
Andreas E.s Aktivitäten waren der Kriminalpolizei nicht unbekannt: Bereits seit 1980 gehörte er der Protestbewegung an und war auch an Gewaltaktionen beteiligt. Er galt als „Rädelsführer“ einer neunköpfigen Gruppe aus militanten Autonomen, die insbesondere Anschläge auf Hochspannungsmasten und Einrichtungen der Startbahn West plante und verübte. In der „revolutionären Szene“ war er kein anonymer Mitläufer, sondern sehr stark eingebunden. Ein Jahr vor der Tat wurde er an der deutsch-französischen Grenze festgenommen, weil sein Auto unter anderem mit „pyrotechnischem Gerät“ beladen war. Gegen ihn lief ein Ermittlungsverfahren wegen mehrerer Sabotageakte an Hochspannungsmasten; seine Wohnung war in diesem Zusammenhang bereits zweimal durchsucht worden.[15] Andreas E.s Telefongespräche waren damals bereits seit geraumer Zeit überwacht worden. Aus einem Telefonat vom Nachmittag des Tattages erfuhren die Ermittler, dass am Abend ein Treffen an der „Spinnenbrücke“ stattfinden solle. Mit der „Spinnenbrücke“ konnte nur ein Ort an der Hochspannungstrasse südlich der Startbahn West gemeint sein, an dem drei Hochspannungsmasten parallel nebeneinander stehen – in unmittelbarer Nähe zum Tatort, an dem Andreas E. später die Schüsse abgab. Die Kriminalpolizei konnte sich diese Information zunächst nur so erklären, dass Andreas E. dort einen weiteren Strommast umsägen wolle.[16]
Als Andreas E. am Morgen nach der Tat seine Wohnung in Frankfurt am Main nicht öffnete, fuhren die Ermittler zur Wohnung seiner Freundin in Frankfurt-Niederrad. Gegen 06:30 Uhr ließ die Kriminalpolizei die Wohnungstür durch einen Schlüsseldienst öffnen. Als die Kriminalbeamten das Schlafzimmer der Dachgeschosswohnung betraten, sahen sie Andreas E. auf der Fensterbank stehen. Er hatte kurz zuvor seinen Leinenrucksack in einer Dachgaube oberhalb des Schlafzimmerfensters verstecken wollen. Im Rucksack befanden sich neben der durchgeladenen Tatwaffe des Herstellers Sig Sauer auch ein mit fünf Schuss gefülltes Magazin, zwei leere, passende Magazine, drei Handfunkgeräte, eine Strumpfmaske sowie ein Paar Handschuh. Später fanden Ballistiker heraus, dass die tödlichen Schüsse aus dieser Waffe stammten, und die Kriminaltechnik stellte fest, dass die Handschuhe Schmauchspuren aufwiesen.[17]
Am Folgetag, dem 3. November 1987, kommentierte Generalbundesanwalt Kurt Rebmann die ersten Fahndungserfolge: „Wir vermuten die Täter natürlich im Kreis der militanten Startbahngegner, und wir kennen diesen Kreis in etwa. Wir suchen bei Personen, die wir als tatverdächtig im weitesten Sinne ansehen. Diese Durchsuchungen haben zu einigen Festnahmen geführt.“[18]
Der Haftbefehl gegen Andreas E. wegen des Verdachts des Mordes erging am 4. November 1987. Andreas E. bestritt die Tat jedoch. Er gab an, er könne sich den Waffenfund bei ihm nur so erklären, dass ihm jemand die Pistole unbemerkt zugesteckt habe. Später nennt er auch einen Namen: Der Mitdemonstrant Frank H. habe ihm etwas in den Rucksack gelegt, was er abwechselnd als Funkgerät, als Schreckschusspistole oder auch einfach nur als Gegenstand identifiziert haben will. Anfang Dezember 1987 ließ Andreas E. eine Erklärung durch seinen Verteidiger verbreiten: „Die gegen mich erhobenen Vorwürfe treffen nicht zu. Ich habe nicht mit der bei mir gefundenen Waffe auf Polizisten geschossen und bin an der Tat auch nicht beteiligt. Ich verurteile die jetzt mir vorgeworfene Tat, und ein derartiges Vorgehen hat und hätte nie meine Billigung gefunden.“[19]
Festnahme des Tatverdächtigen Frank H.
Die ersten Aussagen des Beschuldigten Andreas E. belasteten im Wesentlichen den Mitbeschuldigten, den damals 24-jährigen arbeitslosen, zwangsexmatrikulierten Politologie- und Musikstudenten Frank H. So gab Andreas E. an, er und sein Komplize hätten kurz vor dem 2. November auf einer Art improvisierten Schießstand in einem Wald nahe Walldorf die Tatwaffe ausprobiert. Die Spurensicherung der Kripo fand nach der Beschreibung tatsächlich den beschriebenen Ort. Dort befanden sich zwei Styroporstücke, auf denen Zielscheiben aufgezeichnet waren. Die Beschuldigten hatten gemeinsam 20 Schüsse auf die Zielscheiben abgegeben, denn es wurden 20 Patronenhülsen gefunden. Die Zielscheiben wiesen insgesamt elf Treffer auf.[20]
Am 6. November 1987 erließ der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof auch gegen Frank H. Haftbefehl wegen Mordes. Das Bekanntwerden der Festnahme Andreas E.s und dessen Angaben sowie der ausgestellte Haftbefehl veranlassten den Tatverdächtigen Frank H. dazu, unterzutauchen und Mitte November 1987 nach Amsterdam zu flüchten. In einem offenen Brief bestritt er, etwas mit der Tat zu tun zu haben. Da er kein rechtsstaatliches Verfahren erwarte, werde er sich den Behörden nicht stellen.[21] Die Kriminalpolizei hatte unterdessen bei der Durchsuchung seiner Wohnung einen Brief gefunden, in dem er angab, „es sei möglich, die Startbahn zum Kippen zu bringen, wenn wir […] Bullen töten“.[22]
Die Ergreifung des Tatverdächtigen Hoffmann am 18. März 1988 war dann auf einen Zufall zurückzuführen: Am besagten Tag suchte er im Amsterdamer Drogenviertel eine Straßenprostituierte auf. Frank H. war nicht fehlsichtig, daher trug er zur Tarnung eine Brille mit normalem Glas. Diese Prostituierte nahm häufig Brillen tragenden Männern, mit denen sie auf der Straße ins Gespräch kam, die Brille weg, um sie ihnen erst gegen abgespresstes Geld wieder zurückzugeben. Den Trick versuchte sie nunmehr auch bei Hoffmann. Diesen Vorfall beobachteten jedoch uniformierte Polizisten, die sogleich in die Situation eingriffen. Sie baten Frank H., sie zur Anzeigenerstattung aufs Polizeirevier zu begleiten. Frank H. machte sich allerdings verdächtig, da er versuchte zu fliehen. Die Personalienüberprüfung führte dann zu seiner Festnahme.[23] Frank H. wurde im Januar 1989 an die Bundesrepublik ausgeliefert.
Herkunft der Tatwaffe

Die Tatwaffe stammte ihrerseits selbst aus einem Verbrechen, das ein Jahr zuvor gegenüber einem Kriminalbeamten begangen worden war: Am 8. November 1986 war ein 33-jähriger Kriminalhauptmeister während einer Kundgebung zur zivilen Aufklärung vor den Hanauer Nuklearbetrieben eingesetzt. Rund ein Dutzend mit Motorradmützen oder Palästinensertüchern maskierte Demonstranten kamen auf ihn zu und umzingelten ihn. Nach der Frage, ob er „ein Zivi“ sei, entwendeten sie ihm seine Handschellen und sein Reizgassprühgerät; ebenso sein Portemonnaie mit Dienstausweis, Führerschein und EC-Karte. Als die Vermummten seine Dienstwaffe forderten, griff er zu ihr und hielt sie im Holster fest. Die Angreifer stießen ihn zu Boden und zerrten ihn an den Haaren ziehend wieder auf die Beine. Einer von ihnen raubte dem Kriminalbeamten schließlich die Dienstpistole des Herstellers Sig Sauer aus seinem Holster. Der Beamte flüchtete anschließend zu seinem Dienstfahrzeug.[24]
Später hatten Polizeieinheiten den Autonomentreff „Brückenkopf“ in Hanau umstellt, da sie dort die geraubte Schusswaffe vermuteten. Die Polizeieinheiten durften jedoch keine weiteren Maßnahmen treffen und mussten unverrichteter Dinge abziehen, da die Einsatzleitung keine gewaltsame Auseinandersetzung riskieren wollte. Bis heute ist ungeklärt, wer an dem Raub der Dienstwaffe beteiligt war.[25] Die Bundesanwaltschaft ging davon aus, dass Andreas E. einer der Autonomen war, die den Kriminalbeamten beraubten.
Gerichtsverfahren
Anklage
Die Bundesanwaltschaft klagte Andreas E., Frank H. sowie sieben weitere Personen aus der Gruppe an, deren Kopf Andreas E. gewesen sein soll. Die Anklage lautete gegen die beiden Hauptangeklagten auf Mord in zwei Fällen und versuchten Mordes in zwei weiteren Fällen. Die Bundesanwaltschaft warf ihnen vor, „ihrem gemeinsamen Tatplan entsprechend im Schutze der Dunkelheit“ auf die Polizeibeamten abwechselnd geschossen zu haben. Daneben sollen die beiden Hauptangeklagten den Raub der Dienstpistole in Hanau ein Jahr vor den tödlichen Schüssen begangen haben. Die Ankläger wollten nachweisen, dass sich innerhalb der Anti-Startbahn-Bewegung ein militanter Kern gebildet hatte, der in strafrechtlicher Hinsicht anfangs eine kriminelle, später eine terroristische Vereinigung war. Denn in wechselnder Beteiligung, aber stets langfristig geplant hätten die Mitglieder Anschläge auf Hochspannungsmasten und Einrichtungen der Startbahn West zu verantworten. Es sei ein Gesamtschaden von 4,9 Millionen D-Mark entstanden.[26]
Prozess und Urteile

Der so genannte Startbahnprozess begann am 23. Februar 1989 vor dem 5. Strafsenat (Staatsschutzsenat) des Oberlandesgerichtes Frankfurt. Schon kurze Zeit später wurden die Verfahren gegen vier Angeklagte wegen der Strommastaktionen abgetrennt: Sie räumten die Taten ein, im Gegenzug wurden die Anklagen wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung fallengelassen. Drei Angeklagte erhielten Freiheitsstrafen unter zwei Jahren, die zur Bewährung ausgesetzt wurden, eine Angeklagte wurde nicht verurteilt.
Nachdem im Dezember 1990 überraschend zwei Entlastungszeugen aufgetaucht waren, die vor Gericht aussagten, gab das Gericht am 17. Januar 1991 bekannt, dass der Mordvorwurf nicht mehr haltbar sei. Die Bundesanwaltschaft hielt allerdings in ihrem Plädoyer am 18. Februar 1991 am Mordvorwurf fest und forderte für beide Hauptangeklagte jeweils eine lebenslängliche Freiheitsstrafe.[27]
Am 15. März 1991 sprach das Gericht das Urteil: Andreas E. wurde wegen Totschlags, versuchten Totschlags und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zur für diese Delikte möglichen Höchststrafe von 15 Jahren verurteilt. Das Gericht sah es als nicht erwiesen an, das Andreas E. und Frank H. abwechselnd geschossen hatten. Das Gericht hielt die Tat auch weder für heimtückisch noch habe Andreas E. aus niedrigen Beweggründen gehandelt. Es habe offen bleiben müssen, „welche Motive ihn zu den Schüssen auf die Polizeibeamten steuerten“.[28]
Der Angeklagte Frank H. wurde vom Vorwurf des Totschlags und versuchten Totschlags freigesprochen. Er erhielt wegen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung viereinhalb Jahre Freiheitsstrafe. Durch die Untersuchungs- und Auslieferungshaft waren bereits drei Jahre abgegolten, der Rest wurde zur Bewährung ausgesetzt.[29]
Sowohl die Anklagebehörde, die nach wie vor von Mord ausging, als auch der Verurteilte Andreas E. waren mit dem Urteil unzufrieden und legten jeweils Revision ein. Der Bundesgerichtshof bestätigte im Februar 1991 die Rechtsauffassung des OLG Frankfurt. Zur heimtückischen Tötung gehöre die Arglosigkeit des Opfers. Angesichts der „fortdauernden offenen Feindseligkeiten zwischen Polizei und Demonstranten“ sei diese vom OLG rechtsfehlerfrei verneint worden. Auch lägen keine niedrigen Beweggründe vor, die Erschießung der beiden Polizeibeamten unterscheide sich in „wesentlichen Punkten“ von terroristischen Anschlägen, für die die Rechtsprechung niedrige Beweggründe stets annahm. Trotz der Bestätigung des Urteils durch den BGH blieb es umstritten. Die Revision des Verurteilten gegen das Urteil als solches verwarf der BGH als unbegründet.[30]
Andreas E. wurde im Oktober 1997 nach verbüßten zwei Dritteln aus der Haft entlassen.
Folgen für den Protest gegen die Startbahn West
In der Folge brach die Protestbewegung gegen die Startbahn West nach der Tat auseinander.[31] Der erste organisierte Protest gegen die Startbahn löste sich auf und sollte über Jahre hinweg nicht mehr erstarken. Einer der Sprecher der Bürgerinitiative, Dirk Treber, brachte es so auf den Punkt: „Die Kugeln trafen auch die Bewegung tödlich. Danach gab es keinen organisierten Protest mehr gegen die Startbahn. Die Tat war damals für alle absolut unbegreiflich.“[32]
Das Komitee für Grundrechte und Demokratie konstatierte, dass „die Linke, die sich bislang als Opfer“ gesehen habe, sich „plötzlich in der Rolle des Täters“ wiederfinde. Außerdem könne sich „das moralische Gefälle, das die Akteure zumeist stillschweigend im Verhältnis zwischen Bewegungen und Staat unterstellt“ hätten, umgekehrt haben.
Joschka Fischer, damals Fraktionsvorsitzender der Grünen im Hessischen Landtag, gab seinerzeit an, dass ein Tabu in dieser Nacht verletzt worden sei, die „Zeit der sozialen Bewegungen“ sei nun vorbei.[33]
Einzelnachweise
- ↑ Hessischer Rundfunk, hr-online.de, Artikel Hart umkämpfte Betonpiste vom 12. April 2009
- ↑ Frankfurter Rundschau, Artikel Aktivisten erschießen Polizisten vom 11. März 2009
- ↑ RP Online, Artikel Frankfurt: Vergeblicher Protest gegen Startbahn West vom 7. April 2004
- ↑ Zum Jahrestag ein Doppelmord, in: Die Zeit vom 6. November 1987
- ↑ Maul halten, in: Der Spiegel vom 20. Februar 1989, S. 51
- ↑ Tödliche Schüsse von Wolf Wetzel, Unrast-Verlag Münster, 1. Auflage April 2008, ISBN 978-3-89771-649-0, S. 84
- ↑ Wie beim Alten Fritz, in: Der Spiegel vom 16. November 1987, S. 29
- ↑ Zum Jahrestag ein Doppelmord, in: Die Zeit vom 6. November 1987
- ↑ Tödliche Schüsse von Wolf Wetzel, Unrast-Verlag Münster, 1. Auflage April 2008, ISBN 978-3-89771-649-0, S. 131, 133, 149 und 150
- ↑ Maul halten, in: Der Spiegel vom 20. Februar 1989, S. 53
- ↑ Wir machen Rambo auf links, in: Der Spiegel vom 9. November 1987, S. 17
- ↑ Robert Leicht: Schüsse an der Startbahn-West, in: Die Zeit vom 6. November 1987
- ↑ Komitee für Grundrechte und Demokratie, Die Polizistenmorde an der Startbahn West von Wolfgang Kraushaar, Jahrbuch 1987, ISBN 3-88906-032-3, S. 112
- ↑ Tödliche Schüsse von Wolf Wetzel, Unrast-Verlag Münster, 1. Auflage April 2008, ISBN 978-3-89771-649-0, S. 172
- ↑ Wir machen Rambo auf links, in: Der Spiegel vom 9. November 1987, S. 19
- ↑ Wie beim Alten Fritz, in: Der Spiegel vom 16. November 1987, S. 29
- ↑ Wir machen Rambo auf links, in: Der Spiegel vom 9. November 1987, S. 19
- ↑ Mitteldeutscher Rundfunk, Artikel Schüsse am Frankfurter Flughafen von Dietrich Karl Mäurer, mdr.de vom 2. November 2007
- ↑ Komitee für Grundrechte und Demokratie, Die Polizistenmorde an der Startbahn West von Wolfgang Kraushaar, Jahrbuch 1987, ISBN 3-88906-032-3, S. 110
- ↑ Maul halten, in: Der Spiegel vom 20. Februar 1989, S. 53
- ↑ Komitee für Grundrechte und Demokratie, Die Polizistenmorde an der Startbahn West von Wolfgang Kraushaar, Jahrbuch 1987, ISBN 3-88906-032-3, S. 110
- ↑ Wie beim Alten Fritz, in: Der Spiegel vom 16. November 1987
- ↑ Aparte Behandlung, in: Der Spiegel vom 28. März 1988
- ↑ Maul halten, in: Der Spiegel vom 20. Februar 1989, S. 51
- ↑ Wie beim Alten Fritz, in: Der Spiegel vom 16. November 1987, S. 29
- ↑ Tödliche Schüsse von Wolf Wetzel, Unrast-Verlag Münster, 1. Auflage April 2008, ISBN 978-3-89771-649-0, S. 275
- ↑ Tödliche Schüsse von Wolf Wetzel, Unrast-Verlag Münster, 1. Auflage April 2008, ISBN 978-3-89771-649-0, S. 276/277
- ↑ Urteil: Andreas Eichler, in: Der Spiegel vom 18. März 1991, S. 280
- ↑ FAZ.net, Artikel Schüsse abseits der Piste vom 2. November 2007
- ↑ Tödliche Schüsse von Wolf Wetzel, Unrast-Verlag Münster, 1. Auflage April 2008, ISBN 978-3-89771-649-0, S. 278
- ↑ Mitteldeutscher Rundfunk, mdr.de, Artikel Schüsse am Frankfurter Flughafen von Dietrich Karl Mäurer vom 2. November 2007
- ↑ taz, Artikel Eine „ganz deutsche“ Geschichte vom 1. November 1997
- ↑ Komitee für Grundrechte und Demokratie, Die Polizistenmorde an der Startbahn West von Wolfgang Kraushaar, Jahrbuch 1987, ISBN 3-88906-032-3, S. 112