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Testseite Kunstdienst der evangelischen Kirche
Der Kunstdienst (oder auch Kunst-Dienst) ist eine mit den deutschen evangelischen Kirchen teils institutionell, teils locker verbundene Einrichtung von theologisch und kunsthistorisch ausgebildeten Fachleuten, die zur Herstellung, Betreuung und Renovierung aller künstlerisch relevanten Kunst-, Ausstattungs- und Einrichtungsgegenstände für Orte christlicher Verkündigung Beratungs- und Vermittlungsdienste leistet.
Zeit der Weimarer Republik
Der Kunstdienst wurde im Jahre 1928 in Dresden, Walpurgisstraße 15, gegründet und setzte sich das Ziel, Lebensäußerungen künstlerischer Art, seien es Bildkunst, Tonkunst, Schriftkunst oder Denkmalkunst, die aus dem Geist des Evangeliums geschaffen werden, zu fördern, bekanntzumachen, zu verbreiten und ihnen sowohl im Raum der Kirche wie auch in der Gesellschaft eine angemessene Stellung zu verschaffen. Als Arbeitsformen und Methoden, um diese Aufgabe zu erfüllen, wurden "zwanglose Zusammenkünfte, Vorträge, musikalische Abende, Ausstellungen, Laienspiele, Tagungen u.a." genannt.[1]
Eine Vereinigung mit ähnlichen Zielen gab es, seitdem 1852 der "Verein für religiöse Kunst in der evangelischen Kirche" gegründet wurde, und der 1938 zum "Bund für christliche Kunst in der Evangelischen Kirche Deutschlands" umbenannt und gleichgeschaltet wurde
Über die Absichten der Kunstdienst-Gründer im Januar 1928 schreibt der Kirchenhistoriker Hans Prolingheuer:[2]
„Die evangelischen Kunstliebhaber wollten sich nicht dauernd, wie im 1852 gegründeten Verein für religiöse Kunst, von inkompetenten Kirchenleitungen bevormunden lassen, nicht länger kirchliches Hilfsorgan sein, dessen Aufgabe vor allem darin bestehe, Spenden beizutreiben zur Erhaltung der nun einmal vorhandenen Kunstwerke, oder als Pflegedienst einer Kirchenkunst zu fungieren, die bestenfalls als Kirchenschmuck toleriert werde.“
Zu den Dresdener Gründungsmitgliedern gehörten:
- Oskar Beyer
- Rudolf Böhme, sächsischer Regierungsrat
- A. Diener von Schönberg
- Karl Groß, Akademiedirektor
- Arndt von Kirchbach, Domprediger von Freiberg
- Esther von Kirchbach, Publizistin, Dichterin, Seelsorgerin
- Heinrich König
- Gotthold Schneider
- Alfred Stier, Kantor
Angeregt durch die "Musterschauen" organisierten die Kunstdienst-Enthusiasten von 1928 bis 1932 große Ausstellungen und Wanderschauen wie: "Rudolf Koch und sein Kreis", "Kultbauten der Gegenwart", "Kirchliche Kunst der Gegenwart" und "Hingabe". Dazu kamen die interkonfessionelle Ausstellung "Kult und Form" und die Ausstellung "Tod und Leben" als kritischer Beitrag zur wachsenden Unkultur des Bestattungswesens.

Zeit des Nationalsozialismus
Reichspropagandaminister Joseph Goebbels beauftragte im Juni 1933 seinen Staatskommissar Hans Hinkel, in Absprache mit dem evangelisch-kirchlichen Vertrauensmann Hitlers, dem künftigen Reichsbischof Ludwig Müller, unter Federführung des Kunstdienstes ein "Reichsamt für kirchliche Kunst in der Deutschen Evangelischen Kirche" zu schaffen. Als eine Behörde öffentlichen Rechts sollte sie in eine Amtsstelle und einen Ausschuss gegliedert werden. Hinkel berief in dieses Reichsamt neun in Partei, Kunst und evangelischer Kirche anerkannte Männer:
- Wilhelm Banke, Oberkonsistorialrat, Geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Vereins für religiöse Kunst
- Hermann Wolfgang Beyer, Professor, Kirchen- und Kunsthistoriker an der Universität Greifswald
- Otto von Kursell, Kunstmaler und Professor
- Horst Dreßler-Andreß, Ministerialrat und Leiter des Deutschen Rundfunks
- Hans Hinkel, Staatskommissar und Beauftragter des Reichspropagandaministers
- Dietrich Jagow, Staatsrat und Beauftragter des künftigen Reichsbischofs
- Rudolf Koch, Professor, Schriftschöpfer und Werkkünstler
- Friedrich Peter, Oberkonsistorialrat und Beauftragter der Reichsleitung der Kirchenpartei "Deutsche Christen"
- Winfried Wendland, Architekt und "Reichsreferent für Bildende Kunst der Deutschen Christen" und "Referent für NS-Kunst" im preußischen Kultusministerium


Als Amtsstelle wurde der Kunstdienst unter dessen Vorsitzendem Gotthold Schneider als Amtsstellenleiter ernannt. Der Sitz des Amtes wurde nun das Evangelische Johannesstift Berlin-Spandau in der Schönwalder Allee. Schirmherr von Amt und Ausschuss wurde der künftige Reichsbischof Ludwig Müller, und Ehrenpräsident wurde das Mitglied des Kunstdienst-Ehrenrates Rudolf Koch. Zu dieser Zeit befand sich Oskar Beyer, der mit einer jüdischen Frau verheiratet war, bereits auf der Flucht aus Deutschland.
Mitarbeiter im Kunstdienst unter der Leitung von Gotthold Schneider waren:
- Martin Kautzsch, Kunsthistoriker
- Eva Kautzsch, Büroangestellte
- Stephan Hirzel, Ingenieur und Schriftsteller
- Renate Hirzel, Malerin und Hausmutter
Außerdem wurde ein "Ehrenrat des Kunstdienstes" ins Leben gerufen. Die anwesenden Ratsmitglieder beriefen in diesen Ehrenrat:
Nach der Bildung der "Evangelischen Reichsgemeinschaft christlicher Kunst" wurde 1934 der Kunstdienst zu dessen Amtsstelle und zu einer mit staatlichen Vollmachten ausgestatteten Abteilung der Reichskammer der bildenden Künste. Geschäftsführer Gotthold Schneider stieg zum "Kunstreferenten bei der Reichsregierung" auf. Damit verbunden war im Frühsommer 1934 der Umzug des Kunstdienstes in die Dienststelle der Reichskammer am Berliner Blumeshof 4-6. Für Ausstellungen und Konzerte verfügte der Kunstdienst nun über eigene Säle im Schloss Niederschönhausen. Diese Lokalität bekam später eine hervorgehobene Bedeutung im Zuge der von der NS-Führung angeordneten Aktion "Gegen entartete Kunst", bei der es zum Raub von über 16.500 Kunstwerken kam, darunter als "jüdisch" oder "bolschewistisch" verunglimpfte "Afterkunst" aus Museen, Galerien und Häusern vertriebener jüdischer Familien.
Im Jahre 1934, nach dem Tode von Rudolf Koch, übernahm der Nationalsozialist und Architekt Winfried Wendland, der aktiv im "Kampfbund für deutsche Kultur" mitwirkte und Kustos der Hochschule für Bildende Künste in Berlin war, die Führung im Kunstdienst. In Kunst- und Kulturzeitschriften einschließlich kirchlich orientierten positionierte er die evangelische Kirchenkunst als eine völkische und "artgemäße" Kunst, die von der zeitgemäßen NS-Weltanschauung durchdrungen sein müsse.[3] In seinem Buch "Kunst und Nation" verkündete er:[4]
„Kunst ist rassegebunden... Es sind sowohl die Pyramiden Ägyptens, wie die Tempel Griechenlands, wie die deutschen Dome rassisch bestimmt. Sie alle tragen den durch das Blut des Volkes bedingten geistigen Gehalt, der fühlbar immer wieder das Ägyptische, Griechische, Germanische, Deutsche zeigt, und darüber hinaus auf eine hochstehende Mutterrasse weist, die wir die nordische nennen...“
Unter Wendlands Leitung wurden neue Verwaltungskräfte und auch freie Mitarbeiter eingestellt:
- Herbert Redlich, Verwaltungschef
- Günter Ranft, Kirchenmaler
- Dorothy Ranft, Kunsterzieherin und freie Mitarbeiterin
- Christian Rietschel, evangelischer Pfarrer
- Hugo Kükelhaus, Kunstpädagoge und freier Mitarbeiter
Die wichtigste Intention des evangelischen Kunstdienstes in diesen Jahren war es, die Äußerungen christlich-kirchlicher Kunst mit der Wiederentdeckung des germanisch-völkischen Fühlens durch den Nationalsozialismus zu versöhnen. Damit verbunden war eine dezidierte Ablehnung aller radikalen Gedankengänge und Bestrebungen des NS-Propagandaleiters Alfred Rosenberg, der ein neues Heidentum ("Neuheidentum") an die Stelle der christlichen Volksreligion postulierte. Der Kunstdienst konnte sich dabei die Rivalität zwischen Rosenberg und Goebbels zu nutze machen, denn Goebbels hat sich mindestens bis in das Jahr 1938 gegen die antichristlichen Usancen der Neuheiden gegenüber Hitler durchsetzen können.
Auch die Monatsschrift der Bekennenden Kirche, die "Junge Kirche", unterstützte mit ihren Beiträgen die Kunstauffassung des evangelischen Kunstdienstes, wonach kirchliche Kunst artgemäße Kunst sein müsse. Sie plädierte für eine Verschmelzung biblisch-christlicher Motive mit dem völkisch-germanischen Ahnenerbe:[5]
„Das deutsche Kunstwerk will nicht den Beschauer erfreuen oder zu genießender Betrachtung fordern, es erfüllt eine religiöse, sittliche Mission. So ist deutsche Kunst zuallererst christliche Kunst... Die deutsche Kunst verrät bezüglich Arbeitsstoff und Technik nationale Eigenheiten... Kennzeichnend für deutsche Kunst ist die Arbeit in Holz. Holzarbeit ist unlöslich an germanisches und deutsches Kunstschaffen gebunden... Mit dem Christentum kam der Steinbau nach Deutschland. Und nun geschieht etwas Wunderbares. Das Christentum verdrängt nicht die germanische künstlerische Eigenart, sondern bestätigt sie, und durch Eifer im Glauben entstehen unsere herrlichsten Kulturdenkmäler... Ist es nicht wundervoll zu nennen, dass Thor und Freya als vergöttlichte Bauern vor dem heroisierten Bauerntum christlicher Stifterfiguren verblassen müssen? Ist es nicht ein Hohn auf alle neuheidnischen Bestrebungen, dass die heldischen Ritter im Naumburger Dom zumindest ebensoviel Zucht und Kriegerehre verkörpern, als sie in der altgermanischen Mythologie Odin zugesprochen werden?“
Ganz in diesem Sinne wurde mit Unterstützung des Kunstdienstes 1935 in Berlin-Mariendorf mit der Martin-Luther-Gedächtniskirche das erste nationalsozialistische Gesamtkirchenkunstwerk eingeweiht.
Die Thüringer Deutschen Christen waren besonders bemüht, die Symbiose zwischen Christentum und Nationalsozialismus öffentlich sichtbar zu machen. Unter ihrer Ägide wurde auf den Türmen von neun Thüringer Kirchen statt des Christuskreuzes ein Hakenkreuz angebracht: u.a. auf den Kirchtürmen von Holzthaleben, Westerengel, Gera-Thieschitz, Gera-Pforten, Gera-Frankenthal und Gerstungen. Die erste in dieser Reihe war die Kirche von Holzthaleben, auf deren Turm der NS-Ortsgruppenführer und sechs weitere Parteigenossen die Anbringung des Hakenkreuzes angeregt hatten.[6] Doch aller Protest der DC und der Parteigenossen half nichts. Nach Verkündung des neuen Gesetzes zum Schutze der Bezeichnungen der NSDAP vom 7. April 1937 musste sich auch Gauleiter Sauckel darein fügen und ordnete 1939 die Demontage der von den Deutschen Christen so begehrten Zeichen an.
Im Jahre 1937 musste der Kunstdienst einen schmerzhaften Einschnitt hinnehmen, als wegen der überbordenden Menge der inzwischen in die Reichskunstkammer aufgenommenen Künstler die Struktur der Reichskammer auf lediglich noch fünf Fachabteilungen reduziert wurde. Das bedeutete, dass mit dem Wegfall der beiden kirchlichen Reichsgemeinschaften auch der evangelische Kunstdienst die Amtsräume am Blumeshof verlassen musste. Der nunmehr als eingetragener Verein agierende Kunstdienst unter seinem Vereinsvorsitzenden Gotthold Schneider zog in sein neues Domizil nach Berlin-Mitte, Matthäikirchplatz 2, wo er bereits über Räume verfügte. Hier hatte er während der Olympischen Spiele 1936 eine Ausstellung über "Neue evangelische Kirchenkunst" als Rahmenprogramm gezeigt. Auf der Weltausstellung 1937 in Paris wurde im Auftrag des Kunstdienstes von dem Deutschen Christen Hans Schwippert eine Michaelskapelle errichtet, in der ein Mosaik des Erzengels Michael als "Schutzheiliger der Deutschen" als Altarbild errichtet wurde. In einem Prospekt wurde die "soldatische deutsche Frömmigkeit" dieses "heldischen Altars" hervorgehoben.[7]
Der nunmehrige Verein "Evangelischer Kunstdienst" unter seinem alten und neuen Vorsitzenden Gotthold Schneider bestand seit Februar 1937 aus diesen sechs Mitgliedern
- Stephan Hirzel
- Martin Kautzsch
- Günter Ranft
- Herbert Redlich
- Winfried Wendland
- Karl Ruppel, Dozent im "Ahnenerbe der SS"
sowie deren Mitarbeitern. Die durch die Ausgliederung aus der Kammer resultierenden finanziellen Verschlechterungen fing der Vorsitzende Schneider geschickt auf durch die Übernahme gut dotierter staatlicher Aufträge, z.B. durch die Ausrichtung staatlicher Ausstellungen. Außerdem verblieb Vereinsmitglied Martin Kautzsch als Referent für Denkmale und Friedhofswesen Mitglied der Kammer.
Am 30. Juni 1937 ermächtigte Hitler durch seinen Reichspropagandaminister Goebbels den Präsidenten der Reichskammer der bildenden Künste, Professor Adolf Ziegler, alle Werke "deutscher Verfallskunst" seit 1910 auszusondern und für eine Ausstellung sicherzustellen. Ziegler bildete eine Auswahlkommission, der u.a.
- Wolfgang Willrich, Maler und Kunstschriftsteller
- Robert Scholz, Hauptstellenleiter für bildende Kunst im "Amt Rosenberg"
- Hans Herbert Schweitzer (Pseudonym "Mjölnir"), Reichsbeauftragter für künstlerische Formgebung
angehörten. Diese Auswahlkommission beschlagnahmte eine Vielzahl von Werken, darunter hochkarätige von Emil Nolde, Karl Schmidt-Rottluff, Ludwig Gies und Max Pechstein und lieferte sie für die Gestaltung der Ausstellung "Entartete Kunst", die am 19. Juli 1937 in München eröffnet wurde. Auf Anraten des stellvertretenden Akademiepräsidenten Georg Schumann traten Ernst Barlach und Ludwig Gies zuvor aus der Preußischen Akademie der Künste aus.
Ab 1.Januar 1938 stellte Goebbels dem bisherigen Aufsichtshaber über das Kunstdepot in der Köpenicker Straße, Franz Hofmann, seinen persönlichen Vertrauensmann Rolf Hetsch an die Seite, der einmal über Paula Modersohn-Becker promoviert hatte. Diese beiden ordneten nun die zusammen mit den von der Ausstellung "Entartete Kunst" zusammengeführten 16.500 Kunstwerke, indem sie diese registrierten und mit einer Nummer versahen. Sie wurden in umfangreichen Listen erfasst und mit Dollarpreisen ausgezeichnet. Jetzt wurde es die Aufgabe von Gotthold Schneider und dem "Expedienten" Günter Ranft, die versammelten Kunstwerke bei nichtöffentlichen Verkaufsausstellungen im Schloss Niederschönhausen bei den ausländischen Käufern an den Mann zu bringen. Der Kunstdienst war dabei nur für Präsentation und Zwischenlagerung verantwortlich. Die Verkaufsabschlüsse wurden vom Propagandaministerium getätigt, die Erlöse auf das Sonderkonto "Entartete Kunst" ("E.K.") eingezahlt. Für die Präsentation der Kunstwerke wurde mit dem 6. Juni 1938 die freischaffende Ausstellungsmacherin Gertrud Werneburg gewonnen - eine evangelische Christin der Bekennenden Kirche.
Als im Mai 1938 der evangelische Theologe und Oberkonsistorialrat Oskar Söhngen zum neuen Vorsitzenden des immer noch bestehenden Parallelunternehmens "Verein für religiöse Kunst" gewählt wurde, waren nunmehr beim Kunstdienst solche Beauftragte tätig, die jeweils als Gewährsleute der drei mit Kirchenkunst befassten Reichsminister zu fungieren hatten: für den Reichspropagandaminister Goebbels - Gotthold Schneider und Stephan Hirzel, für den Reichserziehungsminister Rust - Winfried Wendland, für den Reichskirchenminister Kerrl - Oskar Söhngen.
Am 1. September übernahm Gertrud Werneburg die ersten 175 Ölbilder aus dem Fundus der geraubten Kunst. Werneburg gab dem bereits erwähnten Kirchenhistoriker Prolingheuer zu Protokoll:[8]
„Ich habe angefangen mit diesen 175 Ölbildern, aus denen allmählich 6.000 wurden. 7.000! Unentwegt kam (der Möbelwagen der Firma) Knauer angefahren und brachte neue Bilder. Und dann kamen Aquarelle und die ganzen 'Brücke'-Leute. (Werke) von Franz Marc bis Christian Rohlfs, von Ernst Ludwig Kirchner bis Otto Dix... Von nun an kam unentwegt irgendein Kunsthändler... Und die ganzen Leute waren nun laufend da und suchten sich Bilder aus... Ich hatte zwei große Räume. Da hatte ich die Bilder alle angeschichtet. An die 60 Rohlfs alleine... Es war eine schöne Tätigkeit...“
Die Kirchenkämpfe zwischen Deutschen Christen und Bekenntnischristen, zwischen den sogenannten "intakten" und den DC-Kirchenleitungen sowie zwischen diesen allen mit den kirchenfeindlichen Rosenberg-Anhängern und den moderateren Verfechtern des "positiven Christentums", die im Jahre 1938 einen Höhepunkt erreichten, konnten dem Kunstdienst nicht wesentlich schaden, denn seine Akteure waren in allen erwähnten ideologischen Flügeln zu Hause.
Die Wächterin und zur Kunst-Präsentation ausersehene Ausstellungsmacherin Werneburg ließ es bei der sie bald überfordernden Aufgabe, die vielen Werke den ausländischen Kaufinteressenten anzubieten, hin und wieder auch zu Regelwidrigkeiten kommen, die im Laufe der Jahre - besonders in den Kriegsjahren - zunahmen. So "bedienten" sich Regierungsprominente wie der Leibarzt Hitlers, Karl Brandt, der einfach ein Bild von der Wand abnahm und mitgehen ließ. Oder sie musste auf ausdrückliche Weisung von Goebbels der Witwe von Wilhelm Lehmbruck Plastiken und Bilder herausgeben, die nur zum Teil unter die Rubrik der "gesetzlich geraubten" gefallen waren. Später bedienten sich auch Kunstdienst-Mitarbeiter selber an den Kunstwerken, deren Menge nicht beziffert werden kann, weil es dazu keine schriftlichen Nachweise gibt. Lediglich Werneburg hat gegenüber dem intensiv recherchierenden Prolingheuer verlautet, dass sich z.B. der Kunstdienst-Pfarrer Christian Rietschel mit einer originalen Feininger-Grafik sein Haus für den Ruhestand in der Bundesrepublik finanziert hat.[9]
Am 20. März 1939 wurden auf der Hauptfeuerwehrwache in Berlin tausende Gemälde und Zeichnungen aus dem Depot Köpenicker Straße verbrannt.[10] Werneburg hat diese Kunstgegenstände auf Anordnung von Ministerialrat Hofmann vor ihrer Vernichtung registriert. Seitdem sich das Kunst-Autodafé herumgesprochen hatte, stiegen die Nachfragen von Sammlern und Mäzenen aus dem Ausland. Kunsthändler aus den USA und der Schweiz gaben sich im Schloss die Klinke in die Hand. Als 125 als "entartet" gebrandmarkte Kunstwerke nach der Schweiz geliefert und dort im Mai und Juni 1939 versteigert wurden, kam es auch zum Bildertausch (u.a. "entartete" Deutsche gegen klassische Niederländer), für den deutsche Galeristen und Kunsthändler von der Reichsführung beauftragt wurden.
Seit Mai 1939 brachten Kunstdienst-Mitarbeiter, darunter Rolf Hetsch und Günter Ranft, für sich selber oder gute Freunde Bilder, Graphiken und Plastiken auf die Seite. Viele hundert Kunstwerke wurden dem Verkaufsangebot entzogen und zahllose wurden einfach herausgenommen. Das ermöglichte der reiche und einflussreiche Kunsthändler Bernhard A. Boehmer.
Zu dem Kunstexperten Gotthold Schneider und dem schon genannten Boehmer kam zu Beginn des Frankreich-Feldzuges Otto Abetz hinzu, wodurch nach dem Raub die Verwertung französischer Kunstwerke ein weiteres Arbeitsfeld des Kunstdienstes wurde. Hitler hatte Abetz als deutschem Botschafter bei der Regierung Pétain die "Sicherstellung und Erfassung des öffentlichen Kunstbesitzes, ferner des privaten und vor allem jüdischen Kunstbesitzes" auferlegt.[11]
Während der Siegesfeiern nach dem schnellen Ende des Frankreich-Feldzuges lud Pastor Christian Rietschel zu einer "Kunstdienst-Woche für Jungtheologen" im Juni 1940 nach Berlin ein. Einer der Referenten, Rolf Hetsch, erinnerte sich 1943 daran,[12]
„...daß ich in meinen Ausführungen vor allem den germanischen Sinngehalt und die volkhafte Bindung der deutschen Meisterwerke (Bamberger Reiter, Naumburger Stifterfiguren, Triumphkreuze, mystische Andachtsbilder usw.) dargelegt habe. Um der historischen Wahrheit willen erschien es mir notwendig, die willkommene Gelegenheit zu ergreifen, gerade vor jungen deutschen Theologen auf diese von der Kirche weithin verkannte Tatsache mit Nachdruck hinzuweisen, um auch bei ihnen das Bewusstsein zu vertiefen, dass die legendären Motive deutscher mittelalterlicher Kunst nicht als 'Jüdisch-orientalischen' Ursprungs betrachtet werden können, sondern in Wirklichkeit eine Verlebendigung uralten Symbolgutes unserer Ahnen (Heliand-Heiland) verkörpern. Ich stimme in meiner Auffassung nicht nur mit meinem Lehrer, Geheimrat Pinder, sondern auch mit dem fachlichen Berater des 'Ahnenerbes' Ruppel überein, der über diese Fragen den Reichsführer SS (Himmler) unterrichtete.“
Auch an der antisemitisch gesteuerten Korrektur am Erscheinungsbild bestehender christlicher Kunstwerke, die nicht verkauft werden sollten, betätigten sich Mitarbeiter des Kunstdienstes. So schlug Winfried Wendland den Kirchengemeinden die Ausmerzung hebräischer Inschriften in kultischen Räumen vor:[13]
„So findet sich z.B. auf manchen Barockaltären oder Türen das Wort 'Javeh' in hebräischen Buchstaben; wir werden es ohne Schaden entfernen und an seine Stelle z.B. ein Symbol der Dreieinigkeit oder ein Christusmonogramm setzen können. Damit ist dem christlichen Glauben kein Abbruch getan. Im Gegenteil!“
Am Ende des zweiten Kriegsjahres, am 6. Dezember 1941, zog die Verwertungskommission für die Werke der "entarteten Kunst" diese Bilanz: Nach den bisher erfolgten Verkäufen beläuft sich der Bestand an diesen Kunstgegenständen nur noch auf 2.979 Raubstücke, davon 1.360 Zeichnungen und graphische Blätter, 1.519 Blatt Druckgraphik in 59 Mappenwerken, nebst 95 Gemälden und fünf Bildwerken.[14]
Nach dem Abschluss der Verkaufsausstellung im Schloss Niederschönhausen ließ Reichspropagandaminister Goebbels für den von ihm favorisierten evangelischen Kunstdienst ein reetgedecktes Fachwerkhaus in Güstrow errichten, ganz in der Nähe vom Wohnsitz des Bildhauers und Top-Kunsthändlers Bernhard A. Boehmer, einen sogenannten "Kunstkaten", der allerdings kriegsbedingt erst 1944 gänzlich fertig gestellt wurde.
Doch schon zu Silvester 1943 feierte der evangelische Kunstdienst zusammen mit zahlreichen Gästen den inzwischen - vor allem wegen der Bombenangriffe auf Berlin - im Gange befindlichen Umzug von Niederschönhausen nach Güstrow. Zahllose Akten, Archivgüter und Kunstwerke fanden dort ihren Platz. Die neue Hausmutter wurde Margarete von Wittich, die bereits am Matthäikirchplatz die Telefonvermittlung innehatte. Noch im Verlaufe des Jahres 1943 hatte auch der Devisenbringer Boehmer einen Restbestand von 3.000 im Keller des Propagandaministeriums lagernden Kunstwerken per Speditionswagen in den Katen bringen lassen.
Eine reale Gefahr für die Fortexistenz des Kunstdienstes in seiner personellen und ideellen Nähe zur evangelischen Konfession schien aufzukommen, als sich aufgrund von Verdächtigungen aus dem Rosenberg-Umfeld der "Neuheiden" der neue Präsident der Reichskammer der bildenden Künste, Wilhelm Kreis, zu einer Untersuchung der gegen den Kunstdienst erhobenen Vorwürfe genötigt sah: z.B. die Verbindung zu dem "Modernisten" Otto Bartning und die Nähe zur evangelischen Amtskirche. In seinem Schlussbericht kam Kreis zu der Auffassung, dass die Kunstdienst-Mitarbeiter auch bei fehlender Parteizugehörigkeit politisch zuverlässig seien. Lediglich sollten die durch Einberufung zur Wehrmacht fehlenden NS-Mitglieder wie Winfried Wendland ersetzt werden. Dafür hatte aber Gotthold Schneider schon vorgebaut, indem er dem Präsidenten den Botschafter Abetz und den Kulturfunktionär der Organisation Todt, Tino Schmidt, vorgeschlagen hatte. SS-Mann Schmidt erhielt sogar ein eigenes Büro.
Das letzte große Werk des Kunstdienstes vor Kriegsende war die Anfertigung und archivarische Lagerung von Fotos jener tausenden Architektur-Zeugnisse deutschen Kunstschaffens in den von der Wehrmacht besetzten Ländern. Der Kunstdienst selber hatte Goebbels den Rat zur Durchführung eines solchen Unternehmens erteilt. Etwa 300 Fotografen, betreut durch den Fotoexperten Hans Cürlis, wurden in die Frontgebiete entsandt, um jene Kunstwerke auf Glasplatten zu bannen, die im Zusammenhang mit 1.500 Domen, Kirchen und Schlössern abzulichten wären. Die möglicherweise durch das Krieggeschehen verloren gehenden Objekte sollten wenigstens als Abbildung für die Nachwelt erhalten bleiben.[15] Der Ministeriale Rolf Hetsch wurde mit der organisatorisch-technischen Leitung dieser Fotoaktion beauftragt.
Die nach kriegsbedingter Reduzierung verbliebenen Hauptamtlichen des Kunstdienstes Otto Abetz, Tino Schmidt und Gotthold Schneider organisierten 1945 ihre Nachkriegsexistenz in den Westzonen des befreiten Deutschlands. In einem Konvoi von zwei Lkw mit SS-Begleitkommando wurden hunderte Kisten mit den Kirchenkunst-Glasplatten-Fotos, aber auch mit den im Kunstkaten angesammelten Schätzen bildender Kunst über verschlungene Wege bis in die Gegend von Konstanz und St. Blasien in Verstecken untergebracht. Die Glasplatten blieben bis auf wenige Fundstücke bis heute verschollen. Die mitgeführten Kunstwerke wurden von den handelnden Vorstandsmitgliedern einer persönlichen Verwertung zugeführt.
Nach 1945
Die Kunstdienst-Leiter fanden nach 1945 neue Betätigungsmöglichkeiten: Gotthold Schneider gründete 1952 in Darmstadt (Bundesrepublik Deutschland) ein "Institut für neue technische Form". Winfried Wendland wurde Landeskirchenbaurat der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg in Potsdam (DDR) und durch Vermittlung von Bischof Dibelius 1962 Leiter des wiedergegründeten Kunstdienstes für die Evangelische Kirche der Union (EKU). Oskar Söhngen wurde nach 1945 vor allem als Autor zu kirchenmusikgeschichtlichen Veröffentlichungen tätig. Ludwig Gies, der für das Berliner Reichsbank-Gebäude bronzene Adler als NS-Hoheitszeichen entworfen hatte, wurde - einzig mit dem exklusiven Wissen des damaligen Kanzlers Konrad Adenauer - der Schöpfer des Bundesadlers im ersten Bonner Parlamentssaal.
Der Evangelische Kunstdienst wurde in der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens 1950 wieder gegründet. Gegenwärtiger Leiter ist Dr. Frank Schmidt. Neben der Ausstellungs- und Bildungsarbeit ist der Kunstdienst eine Beratungsstelle für die sächsischen Kirchgemeinden. Er steht den Kirchgemeinden, kirchlichen Werken und Einrichtungen sowie dem Landeskirchenamt für das Gebiet der bildenden Kunst (Malerei, Grafik, Plastik) und des Kunsthandwerkes (Vasa sacra, Paramentik, sonstige Ausstattung) beratend und vermittelnd zur Verfügung.[16]
Als Einrichtung der Evangelischen Kirchen der Union (EKU) existierte von 1964 bis 1997 ein Kunstdienst in Erfurt. Er wurde von Waldemar Wucher ins Leben gerufen, beriet Gemeinden in gestalterischen Fragen und organisierte Ausstellungen und Vorträge. Als letzter Leiter dieser Stelle ging im März 1997 der Theologe und Kunsthistoriker Karl-Heinz Meißner in den Ruhestand. Als Nachfolgeorganisation wurde der „Evangelische Kunstdienst Erfurt e.V.“ am 22. März 1997 im Predigerkloster zu Erfurt gegründet. Erster Vorsitzender des Vereins bis 1999 war Frank Hiddemann. Der Verein will nach eigener Aussage das bewahren und weiterführen, was der Kunstdienst aufgebaut hat. Vereinsvorsitzender ist gegenwärtig Holger Lübs.[17]
In einzelnen Fällen wurde der landeskirchliche Kunstdienst aufgegeben. So hat die Union Evangelischer Kirchen (UEK) am 13. November 2010 ihre Integration in die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) beschlossen. Arbeitsbereiche des Kirchenbündnisses wie der Evangelische Kunstdienst würden aufgegeben, erklärte der UEK-Vorsitzende, der badische Landesbischof Ulrich Fischer.[18]
Literatur in Auswahl
- Hans Prolingheuer: Hitlers fromme Bilderstürmer. Kirche & Kunst unterm Hakenkreuz, Dittrich Verlag Köln 2001, ISBN 3-920862-33-3
- Dorothea Körner: Zwischen allen Stühlen. Zur Geschichte des Kunstdienstes der Evangelischen Kirche in Berlin 1961-1989, Berlin 2005
- Christian Wessely (Hg.): Kunst des Glaubens - Glaube der Kunst, Regensburg 2006
- Andreas Hellgermann: Vom Design zur Sache. Eine fundamentaltheologische Untersuchung zum Umgang mit den Dingen, Münster 2006
- Konstantin Akinscha / Grigori Koslow: Beutekunst - Auf Schatzsuche in russischen Geheimdepots, 1995
- Wilhelm F.Arntz: Bildersturm über Deutschland. III: Das Schicksal der Bilder, 1962
- Barron, Stephanie (H.): "Entartete Kunst" - Das Schicksal der Avantgarde im Nazideutschland (Katalog), 1992
- Rainer Beck / Rainer Volp /Gisela Schmirber (Hg.): Die Kunst und die Kirchen. Der Streit um die Bilder heute, 1984
- Reinhard Bollmus: Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Studien zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, 1970
- Buomberger, Thomas: Raubkunst - Kunstraub. Die Schweiz und der Handel mit gestohlenen Kulturgütern zur Zeit des Zweiten Weltkrieges, 1998
- Conrad Gröber (Hg.): Christliche Kunst der Gegenwart - Tagungsberichte der katholischen Reichsgemeinschaft christliche Kunst, 1938
- Die Kunst der Kirchen, 1941
- Jonathan Petropoulos: Kunstraub und Sammlerwahn. Kunst und Politik im Dritten Reich, 1999
- Ernst Piper: Nationalsozialistische Kunstpolitik. Ernst Barlach und die "Entartete Kunst". Eine Dokumentation, 1987
- Christian Rietschel: Sinnzeichen des Glaubens, 1985
- Winfried Wendland: Kunst im Zeichen des Kreuzes. Die künstlerische Welt des Protestantismus unserer Zeit, 1934
- Joseph Wulf: Die Bildenden Künste im Dritten Reich. Eine Dokumentation, 1966
Weblinks
- Rezension zu Hans Prolingheuer: Hitlers fromme Bilderstürmer
- Artikel zu: 50 Jahre Kunstdienst in der Evangelischen Kirche von Berlin-Brandenburg
- Kirchengeschichten im Nationalsozialismus
[[Kategorie:Kunst im Nationalsozialismus]] [[Kategorie:NS-Propaganda]] [[Kategorie:Christliche Kunst]]
Einzelnachweise
- ↑ Aufruf eines Arbeitsausschuss des Kunst-Dienstes, 1928; in: Hans Prolingheuer, Hitlers fromme Bilderstürmer. Kirche & Kunst unterm Hakenkreuz, Dittrich Verlag Köln 2001, Faksimile S. 79, ISBN 3-920862-33-3
- ↑ Hans Prolingheuer, Hitlers fromme Bilderstürmer. Kirche & Kunst unterm Hakenkreuz, Dittrich Verlag Köln 2001, S. 35, ISBN 3-920862-33-3
- ↑ Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst, Heft 1, 1934
- ↑ Winfried Wendland: Kunst und Nation, S. 18f
- ↑ Junge Kirche, Heft 6, 1935
- ↑ Thomas A. Seidel (Hg.): Thüringer Gratwanderungen. Beiträge zur fünfundsiebzigjährigen Geschichte der evangelischen Landeskirche Thüringens, Leipzig 1998, S. 92, ISBN 3-374-01699-5
- ↑ Darüber berichtet der katholische Erzbischof Conrad Gröber (Hg.): Christliche Kunst der Gegenwart - Tagungsbericht der Katholischen Reichsgemeinschaft christlicher Kunst, 1938
- ↑ Hans Prolingheuer, Hitlers fromme Bilderstürmer. Kirche & Kunst unterm Hakenkreuz, Dittrich Verlag Köln 2001, Faksimile S. 133, ISBN 3-920862-33-3
- ↑ Hans Prolingheuer, Hitlers fromme Bilderstürmer. Kirche & Kunst unterm Hakenkreuz, Dittrich Verlag Köln 2001, Faksimile S. 260, ISBN 3-920862-33-3
- ↑ Augsburger Allgemeine vom 20. März 2009: Das Datum, siehe auch: Paul Ortwin Rave: Kunstdiktatur im Dritten Reich (1949), Nachdruck, herausgegeben von Uwe M. Schneede, Berlin o.D., S. 124
- ↑ Der Führer und Reichskanzler, Verfügung vom 3. August 1940, Absatz I,7; zitiert bei Prolingheuer, a.a.O., S. 184
- ↑ Bundesarchiv Potsdam, Bestand R 55/168,9
- ↑ Winfried Wendland: Die Kunst der Kirche, S. 28
- ↑ Paul Ortwin Rave: Kunstdiktatur im Dritten Reich, 1949, S. 130
- ↑ Otto Thomae: Die Propagandamaschinerei - Bildende Kunst und Öffentlichkeitsarbeit im Dritten Reich, 1978, S.186f.
- ↑ http://www.evlks.de/arbeitsfelder/kunst_und_kultur/2390.html
- ↑ http://www.ev-kunstdienst-erfurt.de/Vorgesch.html
- ↑ http://www.kirche-mv.de/UEK.5849.0.html
Testseite Die NS-Zeit in der Region Apolda
1. Die Anfänge der NS-Partei
Als Vorläufer der NSDAP bildeten sich in Apolda kurz nach der Novemberrevolution von 1919 völkische Gruppierungen, die vor allem bei anstehenden Wahlterminen - z.B. durch Annoncen in Tageszeitungen - öffentlich in Erscheinung traten. Im Vorfeld zu den Wahlen für den II. Reichstag kam es am 11. April 1924 im Gasthaus "Zum Verein" in der Bahnhofstraße zu einer Versammlung, die von zahlreichen Männern in grau-grüner Uniform besucht war. Der Einlader, der Steuerbeamte Rudolf Melzer, sprach davon, für "eine völlig antikapitalistische Bewegung" einzutreten, die eine Erneuerung Deutschlands ohne die das Volk "ausbeutenden Banken" bewirken wolle. Der aus Berlin angereiste Redner Franz Stöhr, thüringischer Spitzenkandidat der "Nationalsozialistischen Freiheitsbewegung", stellte zwar in Abrede, zum Kriege hetzen zu wollen, aber forderte, dass sich die "deutschen Gaue Mitteleuropas zu einem Groß-Deutschland zusammenschließen" sollten.[1]
Eine der ersten Ortsgruppen entstand in Wersdorf, gegründet von dem Lehrer Bernhard Bauerschmidt. Sie ging im November 1925 in die wieder zugelassene NSDAP ein. In Apolda berief Melzer eine Versammlung ein, in der sich 18 Männer zu dem eben aus dem Gefängnis von Landsberg frei gelassenen "Führer" bekannten und somit eine der ersten Thüringer NSDAP-Ortsgruppen gründeten. Eine ihrer öffentlichkeitswirksamen Aktionen war das Angebot von sogenannten "Deutschen Kunst-Abenden", in denen sie ihre rassistischen Phobien verbreiteten. Im "Bürgerverein", dem größten Versammlungssaal Apoldas, führten sie z.B. das Stück "Blutsünde" auf.[2]
Inzwischen hatte die NSDAP in Erinnerung an den gescheiterten Putsch in München und die dabei ums Leben gekommenen Hitler-Anhänger den 9. November zum "Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung" erklärt. Am diesem Novembertag 1926 ließ der Leiter des Hauptpostamtes Willy Dinger, der erste NS-Ortsgruppenleiter von Apolda, auf dem Postgebäude in der Bahnhofstraße die Hakenkreuzfahne hissen, ohne dass dagegen städtische oder Reichsbehörden einschritten. Lediglich das Apoldaer SPD-Blatt, die "Volkszeitung" polemisierte dagegen. Aber auch der Vorsitzende des "Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" protestierte dagegen in einer Leserzuschrift an das Tageblatt.[3]
Auch bei den Wahlen zu den unterschiedlichen Vertretungskörperschaften war in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre in Apolda ein steiler Anstieg der Stimmen für die NSDAP zu verzeichnen:
Jahr | Stadtrat | Landtag | Reichstag I | Reichstag II | Reichspräsident I | Reichspräsident II |
---|---|---|---|---|---|---|
1927 | - | 2,5% | - | - | - | - |
1928 | 5,6% | - | 4,9% | - | - | - |
1929 | 23,0% | 25,3% | - | - | - | - |
1930 | - | - | 28,5% | - | - | - |
1931 | - | - | - | - | - | - |
1932 | 37,2% | 49,7% | 50,0% | 42,8% | 38,7% | 44,1% |
1933 | 64,9% | - | 51,7% | 86,0% | - | - |
Diese Erfolgsgeschichte der NSDAP in der Apoldaer Wählerschaft konnten die Funktionäre und Aktivisten dieser Partei so nutzen, dass sie sogar Adolf Hitler für einen Besuch der Stadt gewinnen konnten. Mit zahlreichen Groß-Annoncen im rechtskonservativen "Apoldaer Tageblatt" warben sie für diesen ersten und einzigen Auftritt am 9. September 1931 im "Bürgerverein". In dem total überfüllten Saal forderte Hitler die Gewinnung neuen "Lebensraums" für das deutsche Volk und erteilte jeder friedlichen internationalen Zusammenarbeit eine rigorose Absage.[4]
2. Die offene Machtausübung
Mit den Wahlgewinnen vom Dezember 1932, als die NSDAP ihren Stimmenanteil gegenüber der letzten Stadtratswahl fast verdoppeln konnte, wurde die bisher bestehende konservativ-bürgerliche Mehrheit gebrochen und ein mehrheitlich NS-geführter Stadtvorstand ins Amt gehoben, der sich fünf Tage vor den umstürzenden Ereignissen in Berlin konstituierte. Der neu gebildete Stadtvorstand bestand nun aus:
- Vorsitzender des Stadtrates: Rudolf Melzer (NSDAP)
- Erster Stellvertreter: Rudolf Haupt (Bürgerliche Parteien)
- Zweiter Stellvertreter: Willi Dinger (NSDAP)
Sofort nach Hindenburgs Machtübertragung an Hitler als Reichskanzler am 30. Januar 1933 rollte eine Welle der Verfolgung durch die Stadt. Alle kommunistischen Funktionsträger, deren die Landespolizei und die SA habhaft werden konnten, wurden verhaftet und in Deutschlands frühestes "wildes" KZ Nohra eingeliefert. Einige, die untergetaucht waren, wurden Wochen später ebenfalls gefasst. Das SPD-Blatt "Apoldaer Volkszeitung" wurde für 14 Tage verboten. Der Vorsitzende der SPD-Stadtratsfraktion Heinz Schubärth trat aus der SPD aus und legte sein Mandat nieder. Am 27. Februar setzten Brandstifter den Reichstag in Berlin in Brand. Einen Tag später erließ Hindenburg das "Gesetz zum Schutz von Volk und Staat", das praktisch alle Freiheitsrechte der Verfassung außer Kraft setzte. Auch in Apolda kam es zu weiteren Berufsverboten, Hausdurchsuchungen und Verhaftungen. Die Berufsverbote betrafen mehrere Lehrer, die wegen ihrer SPD-Mitgliedschaft keine Gewähr für "nationale Zuverlässigkeit" boten. Kommunisten waren ohnehin in Thüringen seit 1930 nicht mehr als Lehrer, Polizisten oder Verwaltungsbeamte in den Staatsdienst übernommen worden. In dieser angespannten innenpolitischen Situation fanden am 5. März die Wahlen zum Reichstag statt, die bereits unter politischem Druck und Angst vor Terror durch die Anhänger der Hitlerbewegung standen. In Apolda bekam die NSDAP 51% aller Stimmen, trotzdem votierten für die beiden Arbeiterparteien SPD und KPD zusammen immerhin noch 34% der Wähler. Am 13. März hatten Brandstifter versucht, an drei Stellen gleichzeitig das SPD-Lokal "Volkshaus" in der Bernhardstraße in Brand zu setzen. Die Presse meldete die gelungene Löschung durch die Feuerwehr und kündigt eine Untersuchung durch die Kriminalpolizei an. Ein Ergebnis dieser Ermittlungen zu der Brandstiftung, wenn sie denn überhaupt durchgeführt wurden, ist nie veröffentlicht worden.
Die 21 neuen Stadträte waren:
NSDAP (Hitlerbewegung) - 8689 Stimmen
- Melzer, Rudolf, Steuersekretär, Franckestraße 3
- Gabriel, Eduard, Kaufmann, Herderstraße 29
- Dinger, Willi, Oberpostsekretär, Roonstraße 15
- Dr. Hobein, Karl, Rechtsanwalt, Opelstraße 4
- Lotze, Walter, Wirker, Dornburger Straße 1
- Schönfelder, Max, Kutscher, Kaiser-Wilhelm-Straße 3
- Wagner, Arno, Gastwirt, Wilhelm-Ernst-Straße 16
- Scheibe, Ernst, Zimmermeister, Stobraer Straße 28
- Kißner, Paul, Konditor, Andreasstraße 27
- Dr. Rödiger, Richard, prkt.Tierarzt, Utenbacher Straße 69
- Haupt, Otto, Wirkermeister, Feldstraße 4
- Münzel, Karl sen., Fabrikant, Herderstraße 6
- Richter, Johannes, Vertreter, Weimarische Straße 8
- Schreiber, Magnus, Steuerassistent, Dornsgasse 4
Kampffront Schwarz-Weiß-Rot - 1495 Stimmen
- Dr. Sattler, Erich, Apotheker, Markt 11
- Stadelmann, Paul, Wirkermeister, Müllerstraße 7
Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) - 3199 Stimmen
(*Schubärth, Heinz, Lehrer, Ludendorffstraße 21, hatte die SPD verlassen und sein Mandat nicht angetreten)
- Schneider, Wilhelm, Schriftsetzer, Moltkestraße 6
- Friedrich, August, Stricker, Teubnerstraße 9
- Jöck, Eduard, Stricker, Lindenberg 13
- Burkhardt, Friedrich, Stricker, Heidenberg 18/20
- Daßler, Albin, Stricker, Wilhelm-Ernst-Straße 23
Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) - 2578 Stimmen
(*Kein einziger Stadtrat. Diese Stimmen wurden - wie im ganzen Reich - für ungültig erklärt.)
Auch sämtliche Ausschüsse wurden nun von NS-Vertretern bestimmt.
Ein erster Schlag gegen die Juden als "nationales Unglück" wurde wie im ganzen Reich auch in Apolda geführt. Zahlreiche Geschäfte wurden am 1. April von SA-Posten blockiert, Käufer, die den Boykottaufruf ignorierten, wurden beschimpft, einige fotografiert und Tage später im Kino Union-Theater im Lichtbild angeprangert als "Verräter am deutschen Volk".
Nachdem der 1. Mai ideologisch okkupiert als "Tag der nationalen Arbeit" von der NSDAP inszeniert und mit Aufmärschen und Freibier als fröhliches Volksfest gefeiert worden war, schlugen die Nazis am nächsten Tag wieder zu. Die Büros der Gewerkschaften in der Sandgasse und in der Bernhardstraße wurden besetzt, die dort Angestellten fristlos entlassen und die Gewerkschaftsführer von der SS verhaftet. Gewerkschaftliche Aktenunterlagen wurden auf dem Marktplatz auf einem Scheiterhaufen verbrannt. Nach diesen Ereignissen teilten auch die gewählten sozialdemokratischen Stadträte mit, dass sie "vorläufig" nicht mehr an den Stadtratssitzungen teilnehmen würden. SPD-Stadtrat Jöck legte ebenfalls sein Mandat nieder, und nun wurde auch kein Sozialdemokrat mehr in einen der Stadtausschüsse gewählt. Jetzt bestand auch das Präsidium des Rates nur noch aus drei Nazis:
- Vorsitzender: Rudolf Melzer
- 1. Stellvertreter: Willi Dinger
- 2. Stellvertreter: Karl Münzel sen.
Anders als die Genossen der SPD wurden die Kirchenvertreter von diesem NS-Stadtrat behandelt: der evangelische Pfarrer Yvan Benner und die Frau des evangelischen Superintendenten Gustav Thöllden wurden in den Jugendamtsausschuss berufen. Auch in den Folgejahren gestaltete sich diese Kooperation noch recht eng, bis etwa um 1937 aufgrund der enttäuschten Hoffnungen, die die NS-Führer in die Schaffung einer einheitlichen Reichskirche gesetzt hatten, sich das Klima gegenüber kirchlichen Kreisen abkühlte und gelegentlich zur Feindschaft entwickelte, bis bei Ausbruch des Krieges diese Kämpfe im wesentlichen ruhten, weil jetzt alle Kräfte zur Kriegsführung zusammengeführt werden sollten.
Weil es auch in Apolda einen Massenandrang zum Eintritt in die NSDAP gegeben hatte, beschloss die NS-Mitgliederversammlung am 7. Juli 1933 die Bildung von vier selbständigen Stadt-Ortsgruppen mit ihren Leitern:
- Nord: Pg. Küchler
- Süd: Pg. Hössel
- West: Pg. Rothe
- Ost: Pg. Lotze
Als sich Hitler am 11. November 1933 per Abstimmung zu seinem Amt als Reichskanzler auch noch im Amt des Reichspräsidenten bestätigen ließ, votierten 86% der Apoldaer für ihn, und für die damit verbundene Abstimmung über den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund gaben sogar 89,6% ihr Ja.
Im Jahr 1934 gab es eine Veränderung in der Zusammensetzung des Stadtratspräsidiums, weil dessen Vorsitzender auf Drängen der NSDAP der Kreisleiter sein sollte. Das Präsidium setzte sich nun wie folgt zusammen:
- Vorsitzender: Kreisleiter Lotze
- 1. Stellvertreter: Willi Dinger
- 2. Stellvertreter: Dr. Hobein
Ein geschickter kulturpolitischer Schachzug der NSDAP wurde im Februar 1934 der von ihr kreierte "Apoldsche Karneval", der bis zum Kriegsausbruch mit immer größerer Begeisterung gefeiert wurde, weil er die versprochene "Volksgemeinschaft" widerspiegeln sollte und mit dem Erlebnis des närrischen Ausnahmezustands das Verschwinden der Klassenschranken suggerierte.
Die von der NS-Partei umworbenen geschlechterspezifischen Gruppen bekamen 1934 ihre eigene Heimstätte:
- die Frauen der NS-Frauenschaft ihr Heim in der Wilhelm-Ernst-Straße
- die Apoldaer SA-Standarte 18 ein Büro in der Schützenstraße 4 und ein SA-Hilfswerklager am Mittelweg
- die HJ durfte ebenfalls ihr eigenes Heim beziehen.
Weitere Mittel, Volksverbundenheit darzustellen, waren die nunmehr im Dezember jedes Jahres anlaufenden Kampagnen für das Winterhilfswerk, auf das die "Volksgenossen" mit einem "Tag der nationalen Solidarität" eingestimmt wurden. Sogar Weihnachten, das "Fest der deutschen Familie", bekam seinen öffentlich auftretenden "nationalsozialistischen Weihnachtsmann", der im Saal des Bürgervereins 1.500 bedürftige Kinder beschenkte.