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Tendabahn

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Die Tendabahn ist eine der außergewöhnlichsten Eisenbahnstrecken durch die Alpen. Sie verbindet die italienische Stadt Turin über Cuneo mit dem französischen Nizza und unterquert den Hauptkamm der Seealpen unterhalb des Col di Tenda in einem über 8 km langen Tunnel. Bedingt durch die grenzseitige Lage zog sich der Bau der Strecke über 50 Jahre hin, dabei mussten verschiedentliche Kompromisse eingegangen werden, um den auseinander strebenden Interessen zweier europäischer Staaten Rechnung zu tragen. Dies äußert sich beispielsweise durch die Tatsache, dass sich in Breil sur Roya mitten im alpinen Hochgebirge ein Bahnhof mit zwei Streckenästen befindet. Ein Streckenast führt von dort aus als Stammstrecke weiter nach Italien, der andere Streckenast als Zweigstrecke weiter nach Frankreich. Außergewöhnlich ist auch, dass sich in verschiedenen Tunnels Festungsanlagen befinden.

Der Viaduc de la Chapelle

Die Strecke muß vom Scheitelpunkt des Tenda-Tunnel bis zum Niveau des Mittelmeeres einen Höhenunterschied von mehr als 1000 m überwinden. Das ist eine Größenordnung, die nur noch von den Gebirgsstrecken der Rhätischen Bahn übertroffen wird. Die gesamte Strecke ist etwa 100 km lang und ist durchgehend eingleisig ausgebaut.

Baugeschichte

1851 Es entstehen verschiedene Eisenbahnprojekte zur Verbindung Piemont - Mittelmeer. Die Strecke Turin - Savona wird bereits 1874 eröffnet.

1856 Ein Projekt von Ingenieur Filippo Cerotti kommt der schließlich verwirklichten Tenda-Linie sehr nahe. Unterschiede: Linienführung im unteren Roya-Tal unter Umgehung Ventimiglias zur Küste und dieser entlang nach Nizza.

1857 Ingenieur Petit-Nispel präsentiert ein von der Stadt Nizza in Auftrag gegebenes Gegenprojekt: Nordwärts durch das Tal des Paillon, dann durch die Vesubie-Schlucht, unter dem Col de Pagari durch und das Tal des Gesso hinunter nach Cuneo.

1858 Ablehnung dieses Projektes.

1860 Das Königreich Sardinien - Piemont tritt Savoyen mitsamt Nizza und Hinterland an Frankreich ab. Dabei bleibt das untere Roya-Tal bei Sardinien - Piemont, der mittlere Talabschnitt wird französisch, die beiden obersten Gemeinden, La Brigue und Tenda bleiben sardinisch. Begründet wird dies mit der Beibehaltung der Jagdgründe König Emanuel II, daneben werden auch strategische Gründe genannt.


1859 Der "Plan Freycinet", ein französisches Programm zum Ausbau der Eisenbahn sieht eine Verbindung Nizza - Sospel - Breil sur Roya vor mit Verbindung zur Landesgrenze oberhalb von Fontan. In Italien wird das zum Bau der Tenda - Linie notwendige Gesetz angenommen.

1875 aus strategischen Gründen erwächst dem Bahnprojekt in Frankreich Widerstand. Die Frage der militärischen Sicherheit wird das Projekt während der nächsten 30 Jahre belasten. Es werden aus diesem Grunde rein italienische Streckenführungen vorgeschlagen.

1883 Baubeginn bei Cuneo.

1887 Bedenken die nationale Sicherheit betreffend führen zur Schließung des französischen Projektierungsbüros für die Strecke.

1889 Baubeginn am 8099 m langen Tenda-Tunnel.

1898 Durchschlag am Tenda-Tunnel.

1900 Einigung des französischen Kriegsministers und des Ministers für öffentliche Bauten auf die Verbindung Nizza - Breil sur Roya und weiter zur Landesgrenze. In Italien kommen wiederum Vorschläge zur rein italienischen Fortführung der Tenda-Bahn auf, allerdings ist dann der Bau eines zweiten langen Scheiteltunnels notwendig.

1903 In Nizza wird vorgeschlagen, den zwischen Sospel und Breil sur Roya befindlichen Tunnel unter dem italienischen Monte Graziano zu bauen, um ihn um 1000 m zu kürzen. Dies wird schließlich Wirklichkeit und erfordert ein Sonderabkommen zwischen den beiden Staaten. Die beiden Tunnelportale befinden sich in Frankreich, 2305 m Tunnel unter Italien bei einer Gesamtlänge 3882 m.

1904 Italienisch-Französisches Abkommen, nach dem die gesamte Strecke bis 1914 fertiggestellt werden soll.

1908 Baubeginn zwischen Ventimiglia und der Grenze im unteren Roya-Tal Richtung Breil sur Roya.

1912 Baubeginn am Tunnel Col du Braus (5938 m) zwischen Breil sur Roya und Nizza.

1914 Ausbruch des ersten Weltkrieges, Baustopp in Frankreich. In Italien wird noch weitergebaut.

1915 Kriegseintritt Italiens durch Kriegserklärung an Östereich.

1921 Baubeginn an den großen Brücken der Verbindung: Viaduc de Scarassoui und Saorge; Fertigstellung 1923.

1928 Einweihung der durchgehenden Verbindung Ventimiglia - Cuneo und der Seitenlinie Nizza - Breil sur Roya.

1937 Wirtschaftkrise, Protektionismus und Verschlechterung des politischen Einvernehmens zwischen Italien und Frankreich führen zu einer starken Verkehrsabnahme auf allen Linien zwischen den beiden Ländern.

1939 Beginn des zweiten Weltkrieges.

1940 Italienische Kriegserklärung an Frankreich. Zerstörung der Anlagen der Tunnel Mont Graziano, weitere französischer Eisenbahnanlagen und zum ersten Male des Viaduc de Saorge. Nach dem Waffenstillstand Beginn des Wiederaufbaus durch die Italiener und Abschluß der Arbeiten im gleichen Jahr.

1943 Waffenstillstand zwischen Italien und den Alliierten. Zweite Zerstörung des Viaduc de Saorge durch die Italiener. Anschließend behelfsmäßiger Wiederaufbau durch die Deutschen.

1945 Deutscher Rückzug aus dem Roya-Tal. Neben vielen anderen Bauwerken wird der Viaduc de Saorge zum dritten Male zerstört.

1947 Der Pariser Friedensvertrag beendet den Kriegszustand zwischen Italien und Frankreich. Es werden Grenzkorrekturen vereinbart, sodass die gemeinsame Grenze im Tenda - Tunnel zu liegen kommt. Außerdem wird die Grenze so verschoben, dass der Tunnel Mont Graziano völlig in Frankreich liegt.

1976 Nach langer Diskussion wird die Strecke in ihren kriegszerstörten Abschnitten wieder aufgebaut. Fast sämtliche der großen und schönen Brücken müssen neu gebaut werden.

1979 Wiedereröffnung der Tenda-Bahn in Friedenszeiten.

Streckenverlauf bei Breil sur Roya, der untere Streckenteil führt nach Italien, der obere nach Frankreich

Außergewöhnliche Brücken und Tunnels

Wie sich schon aus der oben angegebenen Streckenhistorie ergibt, ist die Tenda-Bahn sehr reich an Brücken und Tunnels.

Bedeutende Tunnels der Stammstrecke

Von den Tunnelbauwerken existieren auf der Stammstrecke Cuneo - Ventimiglia 83 Stück und auf der Zweigstrecke Breil sur Roya - Nizza 24 Stück. Die Südrampe der Strecke besitzt zwischen Breil sur Roya und dem Tenda-Tunnel insgesamt sieben Tunnelanlagen, die ausschließlich der Höhengewinnung dienen. Davon sind vier der Tunnels vom Typ Kehrtunnel und drei weitere vom Typ Kreiskehrtunnel. Auf der Nordrampe befindet sich dagegen nur ein Kreiskehrtunnel.

  • Tenda-Scheiteltunnel 8099 m
  • Tunnel der Berghe 1884m (Kehrtunnel)
  • Tunnelfolge Tunnel de Rioro 1828 m (Kreiskehrtunnel)
  • Tunnelfolge Gorges du Paganin 1702 m (Kreiskehrtunnel)
  • Tunnel de Bosseglia 1583 m (Kehrtunnel)
  • Galleria Elicoidal di Vernante 1502 m (Kreiskehrtunnel)
  • Tunnel Cagnolina 1468 m (Kreiskehrtunnel)
  • Tunnel Branego 1273 m (Kehrtunnel)
  • Tunnel de Porcarezzo 1250m (Kehrtunnel)
  • Tunnel du Gigne 1186 m
  • Tunnel de Biogna 1154 m
  • Galleria Boglia 1086 m
  • Gallerie Lamberta 850m
  • Tunnel de l'Agrie 835 m
  • Gallerie Para 754m
  • Tunnel de la Frontiere 743 m
  • Tunnel de Devenzo 733 m
  • Tunnel de Fromentino 646 m
  • Zunnel de Precipus 622 m
  • Galleia Mantici 604 m
Viaduc de Scarassoui von der oberen Gleisetage gesehen

Bedeutende Tunnels der Zweigstrecke

  • Tunnel du Col Braus 5938 m
  • Tunnel du Mont Grazian 3382 m
  • Tunnel de Caranca 915 m
  • Tunnel Santa Augusta 754 m

Bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof von Breil sur Roya in Richtung Nizza ergibt sich das Kuriosum, dass der Tunnel de Caranca gleich zweimal den Tunnel de Gigne überquert.

Bedeutende Brücken der Stammstrecke

Auf Grund der Linienführung entlang des steilwandigen und engen Roya-Tales muß die Strecke sehr häufig dieses Tal auf Brücken überqueren. Manche der Brücken haben eine Höhe von fast 60m. Nach den Zerstörungen des zweiten Weltkrieges mußten fast sämtliche Brücken neu gebaut werden. Bei den meisten dieser Brücke wurde Stahlbeton verwendet, der dann eine völlig andere Architektur des Brückentragwerkes erlaubte. Der Wiederaufbau war 1979 abgeschlossen.

Viaduc de Scarassoui von der Straße aus gesehen. Im Hintergrund: Gallerie mit der Einfahrt zum Tunnel de Scarassoui
  • Viaduc des Eboulis H = 22 m, L = 270 m
  • Viaduc de la Maglia H = 18 m, L = 162 m
  • Viaduc de Scarassoui H = 38 m, L = 125 m
  • Viaduc de Saorge H = 60 m, L = 58 m
  • Viaduc de l'Usine Electrique 31 m, L = 107 m
  • Viaduc de Tende H = 36 m, L = 191 m
  • Viaduc de St.Dalmas H = 24m, L = 130 m
  • Viaduc de la Chapelle H = 32 m, L = 89 m
  • Viadotto Rivoira H = 45 m, L = 233 m

Bedeutende Brücken der Zweigstrecke

  • Viaduc de la Launa H = 30 m, L = 135 m
  • Viaduc de Faquin H = 25 m, L = 125 m
  • Viaduc de l'Erbossiera H = 48 m, L = 205 m
  • Viaduc de l'Euira H = 27 m, L = 70 m
  • Viaduc de l'Escarene H = 38 m, L = 225 m
  • Viaduc de Bassera H = 26 m, L = 140 m
  • Viaduc de Bancao H = 21 m, L = 125 m
  • Viaduc de Bevera H = 30m, L = 125 m


Die letztgenannte Brücke ist ein absolutes Unikum bei den Brücken im Hochgebirge. Der Brückenträger besteht aus Stahl und wird in der Mitte von einem Steinbogen gestützt, der im rechten Winkel zur eigentlichen Brücke steht. Diese eigenartige Bauweise ergibts sich an der Tatsache, dass die Brücke in einem sehr spitzen Winkel eine Schlucht überquert.

Tunnelportal mit Schießscharten
Bahnhof Piena an der Stammstrecke

Festungsanlagen in den Tunnels

Bedingt durch die politischen Spannungen zwischen eropäischen Nationalstaaten Frankreich und Italien im 19. Jahrhundert wurde die Strecke mit Festungsanlagen ausgestattet. Die Portale mancher Tunnels wurden beispielsweise mit Schießscharten ausgestattet. Diese Einrichtungen sind heute noch zu erkennen. Aus diesem Grund sind die zugehörigen Tunnels für einen zweispurigen Querschnitt ausgebrochen, obwohl die Strecke nur eingleisig ausgebaut wurde. Auf dem Tenda-Pass selbst befinden sich immer noch die Ruinen großer Forts und Kasernen.

In der Nähe von L'Escarene befinden sich ausgedehnte Anlagen der Maginot-Linie.

Heutiger Betrieb auf der Strecke

Heute im Jahre 2004 stellt sich die betriebliche Situation wie folgt dar: Auf dem italienischen Streckenast Cuneo - Breil sur Roya - Ventimiglia findet ein dichter Lokalverkehr statt in der Größenordnung eines zwei-Stunden-Taktes. Auf dem französchen Teil Nizza - Breil sur Roya ist der Verkehr sehr dünn, was wohl mit den geologischen Problemen in dieser Gegend zusammenhängt. Ein echter europäischer Fernverkehr läuft hier wegen der fehlenden Elektrifizierung der Strecke nicht, bei der Anreise aus Richtung Norden muß in Turin und Cuneo umgestiegen werden.

Eine Seite über die Tendabahn mit Reisetipps


Literatur

Die Tenda-Linie
Wiederaufbau einer Alpenbahn
Autor: Rudolf W. Butz
Verlag OrellFüssli
ISBN 3280015537