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Flämisch-wallonischer Konflikt

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Die Gemeinschaften Belgiens:
  • Flämische Gemeinschaft
  • Französische Gemeinschaft
  • Deutschsprachige Gemeinschaft
  •  Brüssel-Hauptstadt (zweisprachig)

    Als flämisch-wallonischer Konflikt wird der seit Jahrzehnten andauernde Streit der beiden großen Sprachgemeinschaften Belgiens, der Flamen und der Wallonen (bzw. der beiden Gliedstaaten Flandern und Wallonien) bezeichnet. Die kleine Gruppe der Belgier mit deutscher Muttersprache (Deutschsprachige Gemeinschaft Belgiens) ist an diesem Konflikt weitgehend unbeteiligt, wenn man von dem Umstand absieht, dass deren Gebiet sich innerhalb der Wallonischen Region befindet und somit bei Konflikten zwischen den Regionen auch die deutsche Sprachgemeinschaft involviert ist. In der Vergangenheit hatte sie teilweise vom innerbelgischen Konflikt profitiert, da die Gründung der Sprachgemeinschaften Belgiens die Konstitutionalisierung der deutschen Sprache als dritte Landessprache Belgiens ermöglichte.

    Die Begriffe „Flämisch“ und „Wallonisch“

    Erst seit dem 19. Jahrhundert wird das Wort „Flämisch“ (siehe: "Belgisches Niederländisch") für die Gruppe niederländischer Dialekte in Belgien verwendet. Zuvor verwies „Flandern“ auf die historische Grafschaft Flandern, die den Nordwesten Belgiens und Teile von Nordfrankreich umfasste. Das Wort „Flämisch“ wurde nun auch für die niederländischsprachigen Einwohner des historischen Herzogtums Brabant und der Grafschaft Loon verwendet und bezog sich so auf alle niederländischsprachigen Einwohner Belgiens.

    Eine ähnliche Entwicklung fand mit dem Wort „Wallonisch“ statt. Ursprünglich verwies das Wort nur auf die französischen Dialekte, die um Lüttich gesprochen wurden. Später erfuhr der Begriff eine Bedeutungserweiterung, bis „Wallonisch“ und „Wallonie“ für den gesamten französischen Sprachraum in Belgien außerhalb Brüssels benutzt wurde. Viele Flamen bezeichnen mit dem Ausdruck „Walen“ (s. auch „Welsche“) die Gesamtheit der muttersprachlich französisch sprechenden Belgier, die selbst meist streng zwischen Wallonen („les Wallons“) und Brüsselern („les Bruxellois“) unterscheiden (Sammelbegriff: die Frankophonen („les francophones“)).

    Was auf Deutsch in der Regel als „flämisch-wallonischer Konflikt“ oder „belgischer Sprachenstreit“ bezeichnet wird, wird in Belgien mit den Ausdrücken „communautair conflict“ (ndl.) bzw. „conflit communautaire“ (frz.) angedeutet. „Communauté“ steht für (Sprach-)Gemeinschaft, also „Gemeinschaftskonflikt“.

    Die Anfänge

    Es gab zahlreiche politisch motivierte Versuche, ein „flämisches“ oder „wallonisches“ Volk in der früheren Geschichte auszumachen. Ein Beispiel eines solchen politischen Mythos ist die Goldene Sporenschlacht: Ein flämisches Infanterieheer von Bauern und Zunftmitgliedern schlug 1302 ein französisches Ritterheer, was in flämisch-nationalen Kreisen oft als früher Beleg eines Sprachen- und Kulturkonfliktes gedeutet wird. Dabei wird übersehen, dass das Herzogtum Brabant, weitgehend niederdeutschsprachig, auf Seiten des französischen Königs stand, und die Grafschaft Namur, deren Soldaten französischsprachig waren, auf Seiten des flämischen Bauernheeres kämpfte. Im Prinzip ist der flämisch-wallonische Konflikt nicht älter als der belgische Staat und spitzte sich vor allem im 20. Jahrhundert zu.

    Als sich 1830 das südliche Gebiet des Vereinigten Königreichs der Niederlande in der belgischen Revolution abtrennte, entstand das Königreich Belgien. Im neuen belgischen Staat wurde auch als Reaktion auf die diffusen Sprachverhältnisse im Vereinigten Königreich die französische Sprache als alleinige Amtssprache eingeführt, auch für die niederländischsprachigen Bewohner. Außerdem wurde der Katholizismus zur Staatsreligion der Monarchie erklärt (dem zu dieser Zeit auch fast alle Belgier angehörten). Französisch wurde alleinige Verwaltungssprache, in der Armee, im Parlament und im Schulunterricht. Niederländisch war die „Sprache der Holländer“ und „der Bauern”. In Flandern wurden die niederländischen Dialekte nur in der Grundschule benutzt, ab der Sekundarstufe wurde nur auf Französisch unterrichtet. Real war der junge belgische Staat, „l’État franco-belge“, ein französisch-belgischer Staat. „Das Flämische“ (le flamand) wurde ein Schimpfwort, um eine Reihe von Mundarten anzudeuten.

    Die Herabstufung der niederländischen Sprache wurde von den gebildeten und führenden Kreisen nicht als Problem empfunden, sprachen doch die gebildeten Bevölkerungsschichten in ganz Belgien französisch. Erst langsam entstand eine „Flämische Bewegung“ (ndl. Vlaamse Beweging), die sich gegen die Unterdrückung ihrer Sprache wehrte, zuerst in den Kreisen gebildeter Kleinbürger. Ende des 19. Jahrhunderts trat die Bewegung aus dem Schatten des reinen Kulturbetriebs und Politiker verschiedener Parteien fingen an, die Lage ihrer niederländischen Sprache zu definieren und auszubessern. Ein Meilenstein war die Einrichtung des zweisprachigen Unterrichts in Flandern auf dem Niveau der Sekundarstufe (Französisch und Niederländisch).

    Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand als Gegenreaktion die „Wallonische Bewegung“. Der Name ist irreführend, da die Bewegung zuerst in Flandern in Kreisen der französischen Bildungsbürger entstand. Sie wollten die Stellung ihrer französischen Sprache in Verwaltung und Unterricht verteidigen, gegen die drohende verpflichtete Zweisprachigkeit in Flandern. Auch die Erweiterung des Wahlrechts beschleunigte die Entstehung einer wallonischen Bewegung. In der Wallonie befürchteten die führenden Kreise eine Beherrschung durch die zahlenmäßig überlegenen Flamen: Das agrarische Flandern war weitgehend konservativ-katholisch, die von der Schwerindustrie geprägte Wallonie hatte eine antiklerikale Tradition, die im 20. Jahrhundert stark sozialistisch geprägt war. Der flämisch-wallonische Konflikt, der auf den ersten Blick „nur“ mit Sprache zu tun hatte, war in Wahrheit auch ein sozialer Konflikt, verbunden mit der Besetzung von Arbeitsstellen und Machtausübung.

    Der Erste Weltkrieg beschleunigte den Konflikt. Zahlreiche Flamen kämpften im Stellungskrieg in Westflandern gegen die kaiserliche deutsche Reichsarmee. Sie erlebten, wie ihre nur französisch sprechenden Offiziere ihre Sprache missachteten. Der Sprachenkonflikt stellte sich hier insofern auch als soziale Kluft dar. Die Flämische Bewegung entwickelte den Mythos, dass viele einfache flämische Soldaten in den Schützengräben wegen Verständigungsschwierigkeiten mit ihren französisch sprechenden Befehlshabern sterben mussten. Viele Flamen arbeiteten im besetzten Teil Belgiens mit der reichsdeutschen Besatzungsmacht zusammen. Diese „Aktivisten“ wurden nach dem Krieg von der französisch sprechenden belgischen Obrigkeit streng bestraft. Auch dadurch wurde nach dem Krieg die flämische Bewegung stark politisiert.

    In verschiedenen Parteien setzten sich jetzt wichtige Politiker für den amtlichen Gebrauch des Niederländischen ein. Zu einem Meilenstein ihres Selbstbehauptungskampfes wurde die Errichtung einer Universität Gent, in der seit 1930 auf Niederländisch unterrichtet wurde.

    Die Flämische Bewegung dieser Periode war auch eine emanzipatorische Bewegung, die die Gleichberechtigung des Niederländischen in Belgien mit der Entwicklung und Bildung des armen flämischen Arbeiters verknüpfte. Im Verlauf der 1930er Jahre forderten schließlich viele Mitglieder der Flämischen Bewegung die Herauslösung aus dem französisch beherrschten belgischen Staat und eine Hinwendung zum nationalen Sprachraum.

    Die flämischen Parteien VNV und Verdinaso entwickelten hierzu nationalsozialistische Parteiprogramme und Rituale. Während der Zeit des 2. Weltkrieges arbeiteten deshalb auch viele ihrer Mitglieder mit der Besatzungsmacht zusammen. Es entstand auch eine „Deutsch-Vlämische-Arbeitsgemeinschaft“ unter dem Nationalistenführer Jef van de Wiele. Nach dem Krieg wurde ihnen diese Zusammenarbeit zum Vorwurf gemacht.

    Die Zuspitzung nach 1945 und die darauf folgende Föderalisierung Belgiens

    Die Konflikte nach dem Zweiten Weltkrieg teilten den belgischen Staat weiterhin in zwei Teile.

    Eine chronologische Übersicht:

    • Streit um den belgischen König Leopold III.: Während des Zweiten Weltkriegs wurde Belgien vom Deutschen Reich besetzt. Der belgische Herrscher geriet in Kriegsgefangenschaft und verhandelte mit dem Dritten Reich über die Zukunft seiner Dynastie. Nach dem Ende des Krieges und seiner Rückkehr auf den belgischen Königsthron wurde Leopold III. deswegen heftig kritisiert. Von einer Kommission wurde der König 1946 allerdings vom Vorwurf des Verrats entlastet. 1949 stimmten die Volksgruppen in Belgien über Leopold III. als König ab. Zustimmung fand er mit 72 % vor allem im katholisch geprägten Flandern mit einer stark monarchistischen christdemokratischen Partei. Die sozialistisch geprägte Bevölkerung Walloniens hingegen stimmte mehrheitlich mit 58 % gegen den König. Das Land drohte danach in einen Bürgerkrieg zu stürzen. 1951 dankte Leopold III. zugunsten seines ältesten Sohnes Baudouin ab.
    • Sich ändernde Wirtschaftslage der Landeshälften: Traditionell war Wallonien mit seiner Montan- und Textilindustrie die „reichere“ Hälfte des Landes. Mit der Entstehung einer auf Dienstleistungen orientierten Wirtschaft und der Verlagerung der Industrie hin zur Petrochemie entdeckten viele Investoren Flandern mit seinen Häfen (Hafen von Antwerpen) und einer gut ausgebildeten Arbeiterklasse mit niedrigen Lohnforderungen. Die Folge war, dass in den fünfziger und sechziger Jahren die flämische Wirtschaft viel schneller wuchs als die wallonische. 1966 erreichte das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf in Flandern das Niveau von Wallonien, in den darauffolgenden Jahren setzte sich der Aufstieg Flanderns weiter fort, während Wallonien erfolglos versuchte, seine auf Schwerindustrie fußende Wirtschaft zu reformieren. Der flämisch-wallonische Konflikt erhielt so auch eine stark wirtschaftliche Komponente. Vergebens versuchten wallonische Politiker die Machthebel in der Wirtschaftspolitik an sich zu reißen.
    • Festlegung der Sprachgrenze: 1962 wurde von einer Kommission eine Sprachgrenze festgestellt. Zuvor, 1960, hatten schwere Streiks gegen eine Reihe von Sparmaßnahmen der Regierung deutlich gemacht, dass die zwei Sprachgruppen auf wirtschaftlichem Gebiet mehr Autonomie wünschten. Die Entitäten „Flandern“ und „Wallonien“ waren damit zum ersten Mal territorial festgelegt. Bei dieser Festlegung wurden drei einsprachige Gebiete Flandern, Wallonien, Deutschbelgien und ein zweisprachiges Gebiet Brüssel festgestellt. In den nächsten Jahrzehnten lösten der Status von Brüssel, ursprünglich zu Flandern gehörend, und die fragliche Zugehörigkeit einiger Gemeinden zu den jeweiligen Sprachgebieten (z. B. Voeren/Fourons) zahlreiche Konflikte aus.
    • Leuven Vlaams: Die Universität in Löwen, die im flämischen Gebiet liegt, hatte eine französisch- und eine niederländischsprachige Abteilung. Die Flamen forderten eine einsprachige (niederländischsprachige) Universität, während der Studentenrevolten im Mai 1968 eskalierte dieser flämisch-wallonische Konflikt. Dieser wurde damit beendet, dass die französischsprachige Abteilung der Universität Löwen (Université catholique de Louvain (UCL)) 1971 nach Wallonien verlegt wurde – in eine hierfür neu gegründete Retortenstadt: Louvain-la-Neuve oder auf Deutsch „Neu-Löwen“, die erste Städtegründung in Belgien seit jener von Charleroi 1666.
    • Insgesamt fünf Staatsreformen (1970, 1980, 1988–1989, 1993, 2001–2003) haben aus Belgien einen föderalen Staat gemacht. Dafür wurden die politischen Parteien Belgiens in französischsprachige und niederländischsprachige Abteilungen getrennt.

    Sonderfall Brüssel

    Zweisprachige Zugauskunft in Brüssel

    Die Stadt Brüssel und ihr Umland gehört keinem der beiden Gliedstaaten an, sondern bildet als Region Brüssel-Hauptstadt eine selbständige Region.

    In der Region Brüssel sind sowohl Französisch als auch Niederländisch Amtssprache. Aus diesem Grund gibt es in Brüssel kulturelle Einrichtungen beider großer Gemeinschaften. Geografisch und historisch gehört Brüssel zum niederländischsprachigen Flandern, jedoch sind heute ca. 80 % der Einwohner Brüssels französischsprachig. Durch die Stadtflucht vieler frankophoner Familien, die sich in den zu Flandern gehörenden Umlandgemeinden niederließen, blieb die Dominanz des Französischen nicht mehr auf die Hauptstadtregion beschränkt. Die Flamen sprachen daher vom sich ständig ausbreitenden „Ölfleck“ Brüssel. So haben einige zu Flandern gehörende Gemeinden, die an die Region Brüssel-Hauptstadt grenzen, mittlerweile einen bedeutenden, teilweise die Mehrheit stellenden, frankophonen Bevölkerungsanteil. Amtssprache ist hier allerdings allein das Niederländische. In diesen sogenannten Fazilitäten-Gemeinden gibt es gewisse Erleichterungen für französischsprachige Bürger (etwa frankophone Kindergärten und Grundschulen sowie die Möglichkeit, mit der Gemeindeverwaltung auf Französisch zu kommunizieren), ohne dass dies den Vorrang des Niederländischen in Frage stellen soll. Dennoch wird in Flandern inzwischen vielfach die Abschaffung dieser Erleichterungen mit dem Argument gefordert, die französischsprachigen Bewohner dieser Gemeinden sollten sich in ihr flämisches Umfeld integrieren. Für zusätzlichen Konfliktstoff sorgt in diesem Zusammenhang die Existenz des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde, der die Region Brüssel und angrenzende Teile Flanderns umfasst. Flämische Parteien fordern seit Längerem, den Wahlkreis entlang der Regionalgrenzen zu teilen.

    Heutige Situation

    Mehrsprachiges Ortsschild in der besonders umstrittenen Gemeinde Voeren (Fourons), die niederländischen Bezeichnungen wurden übersprüht

    Die politischen Parteien in den beiden Landesteilen sprechen nur ihre jeweils eigene Sprachbevölkerung an. Es gibt zwar eine Zusammenarbeit mit der „ideologischen Schwesterpartei“ aus der jeweils anderen Landeshälfte, aber in den letzten Jahrzehnten sind die politischen Meinungsunterschiede größer geworden.

    Die meisten politischen Debatten in Belgien erhalten bereits kurz nach ihrem Entstehen einen sprachpolitischen Konflikt bzw. Aspekt (aspect communautaire (frz.)/communautair aspect (ndl.)). Ein aktuelles Beispiel hierfür war der Streit über die Lärmbelastung in der Umgebung des Brüsseler Flughafens, in dem sich die belgischen Gemeinschaften gegenseitig beschuldigten, ihre jeweilige Bevölkerungsgruppe zu Lasten der anderen Einwohner schützen zu wollen. Im Laufe der Jahre entstand so ein hochkomplexes Dossier über Abflugstrecken und Schallpegel, inklusive Gerichtsurteilen und Gesetzestexten.

    Die Belgier leben zwar in einem gemeinsamen Staat, aber es werden – anders als zuvor – nur die Medien der jeweils eigenen Landeshälfte bzw. Sprache genutzt. Der Nachteil dieser Aufspaltung ist, dass zahlreiche öffentliche Debatten nur in einer Landeshälfte geführt werden. Die Namen der öffentlichen Sender haben sich ebenfalls geändert: VRT (Vlaamse Radio en Televisie), RTBF (Radio-Télévision Belge de la communauté Française).

    Die französische Stadt Lille hat in der niederländischen Sprache den Namen Rijssel, was für jemand, der kein niederländisch spricht, auf Autobahnen oder bei Bahnhofsdurchsagen im flämischen Teil Belgiens zu Irritationen führt.

    Viele Jugendliche verstehen die andere Landessprache nicht mehr und verwenden zunehmend Englisch statt der anderen Landessprache als Lingua Franca, um sich miteinander zu verständigen.

    Am 10. Juni 2007 fanden in Belgien Parlamentswahlen statt. Es gelang den Parteien aus beiden Regionen vorerst nicht, eine Regierung zu bilden. Einer der wesentlichen Gründe liegt darin, dass die flämischen Parteien im Zuge der Koalitionsverhandlungen eine stärkere Eigenständigkeit der Regionen, insbesondere in der Arbeitsmarkt- und Steuerpolitik, erreichen wollen, was die wallonische bzw. französischsprachige Seite ablehnt. Ein weiterer Konfliktpunkt ist die Frage des Fortbestands des Wahlkreises Brüssel-Halle-Vilvoorde, der entgegen üblicher Praxis regionsübergreifend angelegt ist. Er ermöglicht es frankophonen Wählern im flämischen Umland Brüssels, für Brüsseler Kandidaten aus Parteien der französischsprachigen Bevölkerungsgruppe zu stimmen. Die überwiegende Mehrheit aller flämischen Parteien fordert eine Teilung des Wahlkreises streng entlang den Provinzgrenzen, womit in dem betreffenden Teilgebiet Halle-Vilvoorde nur noch flämische Parteien eine realistische Chance auf politische Repräsentation bekämen. Französischsprachige Nationalisten hingegen fordern eine Eingliederung der flämischen Randgemeinden mit hauptsächlich französischsprachiger Bevölkerung in die Hauptstadtregion Brüssel, die dadurch insbesondere auch eine direkte geographische Verbindung an Wallonie bekäme.

    Angesichts der lang anhaltenden politischen Blockade sprachen sich bei einer Meinungsumfrage im September 2007 nur noch 49,6 % der Flamen für den Erhalt des belgischen Staates aus.[1] Auf der anderen Seite beteiligten sich am 18. November 2007 über 35.000 Menschen – zum weit überwiegenden Teil französischsprachige Belgier – an einer Demonstration in Brüssel. Die Teilnehmer riefen zur Einheit des Landes auf und forderten die belgischen Politiker auf, ihre „Sandkastenspiele“ zu beenden und den Streit zwischen den niederländisch- und französischsprachigen Parteien beizulegen.[2]

    Am 1. Dezember 2007 informierte der designierte Ministerpräsident Yves Leterme den König über den Abbruch der Regierungsbildung [3]. Guy Verhofstadt wurde am 3. Dezember von König Albert II. beauftragt, in Gesprächen mit allen Parteien eine Lösung aus der Staatskrise zu finden. Verhofstadt erklärte zunächst, dass er selber keine weitere Regierung unter seiner Führung anstrebe.[4] Das Resultat der von Verhofstadt geführten Verhandlungen war die Gründung einer Übergangsregierung, die bis zum 23. März 2008 im Amt bleiben solle. Die Staatskrise Belgiens wurde daher in vielen Medien für vorläufig beendet angesehen.[5]

    Letermes Versuch

    Am 18. März 2008 gelang es Yves Leterme, eine Koalition aus fünf Parteien zu bilden. Die neue Regierung wird von den Christdemokraten und Liberalen beider Sprachgruppen sowie den wallonischen Sozialisten gebildet. Die nationale flämische N-VA, mit der Letermes christdemokratische CD&V ein Wahlbündnis eingegangen war, ist nicht an der Regierung beteiligt.[6]

    Fast genau vier Monate später, am 15. Juli, reichte Leterme bei König Albert II sein Rücktrittsgesuch ein. Ihm ist es nicht gelungen, die notwendige Staatsreform einzuleiten [7]. Albert II. lehnte das Rücktrittsgesuch ab. Leterme solle weiterhin Ministerpräsident Belgiens bleiben, aber die Verhandlungen über die Staatsreform an die Ministerpräsidenten Flanderns (Kris Peeters) und Walloniens (Rudy Demotte) abtreten. Streitig ist aber, ob der Ministerpräsident der überwiegend französisch-sprachigen Hauptstadtregion Brüssel, Charles Picqué, an den Verhandlungen teilnehmen soll. Von flämischer Seite wird das abgelehnt, aber von den Wallonen gefordert. [8]

    Leterme, Van Rompuy, Leterme

    Am 18. Dezember 2008 wurde ein Versuch Letermes bekannt, auf ein Gericht Einfluss auszuüben. Es ging dabei um die Niederländisch/Belgische Fortis Bank. Leterme bot daraufhin dem König den Rücktritt seiner gesamten Regierung an, was Albert II. am 22. Dezember 2008 annahm. Herman Van Rompuy war vom 30. Dezember 2008 bis zum 1. Dezember 2009 belgischer Premierminister und Regierungschef. Danach nahm Leterme das Amt wieder an. Im April 2010 führte der wiederaufgeflammte Streit um den Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde zum erneuten Scheitern der Regierung Leterme, nachdem die flämische VLD die Fünfparteienkoalition verlassen hatte [9].

    Die Neuwahl und ihre möglichen Folgen

    Bei den vorgezogenen Neuwahlen am 13. Juni 2010 zeichnete sich ein Wahlerfolg der flämischen Nationalisten ab [10]. Dadurch verschärfte sich die Wahrscheinlichkeit einer Teilung des Landes. Dies käme dem wirtschaftlich stärksten Teil des Landes, Flandern, eher zugute als der postindustriell geprägten Wallonie. Zudem wäre bei einer möglichen Teilung noch völlig ungeklärt, was mit der Hauptstadtregion rund um die europäische Metropole Brüssel geschieht. Derzeit gibt es mehrere Modelle für eine mögliche Teilung Belgiens:[11]

    • Zwei-Staaten-Modell

    Belgien wird in die beiden Nationalstaaten Flandern und die Wallonie aufgeteilt und Brüssel gehört zu Flandern.

    • Drei-Staaten-Modell

    Belgien wird in die beiden Nationalstaaten Flandern und die Wallonie und den Stadtstaat Brüssel aufgeteilt.

    • Teilübernahme Belgiens

    Flandern und Brüssel werden unabhängige neue Staaten, die Wallonie wird von Frankreich oder Deutschland und das Gebiet um Eupen von Luxemburg oder Deutschland aufgenommen. Der belgische Energieminister Paul Magnette sprach sich am 21.10.2010 dafür aus, die gesamte Wallonie Deutschland und nicht Frankreich zuzuschlagen, falls Belgien zerfallen würde. [12]

    • Komplette Zerteilung Belgiens

    Flandern geht zu den Niederlanden über, die Wallonie wird von Frankreich oder Deutschland und das Gebiet um Eupen von Luxemburg oder Deutschland aufgenommen. Nur rund um Brüssel besteht ein unabhängiger Staat.

    Siehe auch

    Quellen

    1. „Belgischer Stau“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19. September 2007
    2. „Wallone oder Flame - Hauptsache Belgier“, www.tagesschau.de vom 19. November 2007
    3. Vorlage:Tagesschau
    4. Tagesschau: Vorlage:Tagesschau vom 3. Dezember 2007
    5. Tagesschau: Vorlage:Tagesschau vom 19. Dezember 2007
    6. Tagesschau: Vorlage:Tagesschau vom 18. März 2008.
    7. Tagesschau:Vorlage:Tagesschau vom 15. Juli 2008
    8. Spiegel Online: Regierungskrise in Belgien - König Albert will Leterme zweite Chance geben vom 17. Juli 2008
    9. Focus: Regierung bricht auseinander, 22. April 2010.
    10. Tagesschau: Vorlage:Tagesschau, 13. Juni 2010.
    11. http://www.finanznachrichten.de/nachrichten-2010-06/17141004-westdeutsche-zeitung-eine-teilung-belgiens-ist-wahrscheinlicher-geworden-von-martin-vogler-007.htm
    12. http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,724460,00.html

    Literatur

    • Horst Siegemund: Parteipolitik und „Sprachenstreit“ in Belgien, Beiträge zur Politikwissenschaft Band 40, Verlag Peter Lang, Frankfurt a.M. 1989, ISBN 3-631-41809-4
    • Frank Berge; Alexander Grasse: Belgien – Zerfall oder föderales Zukunftsmodell? – Der flämisch-wallonische Konflikt und die Deutschsprachige Gemeinschaft, Regionalisierung in Europa Band 3, Leske und Budrich, Opladen 2003, ISBN 3-8100-3486-X
    • Marion Schmitz-Reiners: Belgien für Deutsche. Einblicke in ein unauffälliges Land, Christoph Links Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-86153-389-8
    • Johannes Koll (Hrsg.): Belgien. Geschichte - Politik - Kultur - Wirtschaft, Aschendorff Verlag, Münster 2007, ISBN 978-3-402-00408-1