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Amoklauf an einer Schule

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Der Begriff Amoklauf an einer Schule, fachsprachlich auch School Shooting (engl.: Schul-Schießerei)[1], bezeichnet die versuchte und / oder vollzogene (mehrfache) Tötung von Menschen in einer schulischen Einrichtung (zumeist durch Jugendliche). Die Gewaltverbrechen werden in einem direkten Bezug zu derselben (oder einer anderen) schulischen Einrichtung begangen. Dieser Bezug kann sich in der Wahl der Opfer, insbesondere auch nach deren Funktion in der entsprechenden Schule, äußern. Dabei wird durch den (in aller Regel männlichen) Täter meist abschließend der eigene Tod durch Sicherheitskräfte bewusst provoziert, billigend in Kauf genommen oder durch eine Selbsttötung vorgenommen.

Eine einheitliche Bezeichnung des Phänomens hat sich derzeit noch nicht etabliert. „Amokläufe bzw. Massenmorde an Schulen“ und „schwere zielgerichtete Gewalttaten an Schulen“ werden häufig synonym verwendet. In Medien ist häufig auch von „Schulmassakern“ die Rede. Die am häufigsten verwendeten Begriffe – „Amoklauf“ und „School Shooting“ – werden beide nicht allen Aspekten gerecht. Zum einen steht Amok ursprünglich für einen plötzlichen, ungeplanten Gewaltausbruch im Gegensatz zu den hier beschriebenen, oft über einen langen Zeitraum geplanten Taten. Zum anderen werden nicht zwingend Schusswaffen eingesetzt.

Solche Taten gab es vereinzelt schon früher, so beim Amoklauf in Bremen 1913, Schulmassaker von Bath 1927 oder beim Attentat von Volkhoven 1964. In neuerer Zeit treten derartige Taten häufiger auf, und die Täter entstammen dem Kreis der aktuellen oder kurz zuvor entlassenen Schüler selbst, wie etwa beim Schulmassaker von Littleton 1999, dem Amoklauf von Freising und von Erfurt 2002[2], dem Amoklauf von Emsdetten 2006, dem Amoklauf an der Virginia Tech 2007, dem in Winnenden und dem in Ansbach 2009.

Merkmale

Bei der Mehrzahl der School Shootings handelt es sich um geplante und vorbereitete Taten, die einem bestimmten Schema folgen.[3] Der Entschluss zur Tat reift hierbei über einen längeren Zeitraum heran und wird vermutlich durch ein unspezifisches Ereignis ausgelöst, die dem Täter die zielgerichtete tödliche Gewalt schließlich als einzige Problemlösung erscheinen lässt.[4] Als Auslöser werden in der Literatur regelmäßig Kränkungen und Verluste genannt, die vom Täter als schwerwiegend wahrgenommen werden.[5] Begleitend werden Tat auslösende Sog- oder Modellwirkungen besonders medienwirksamer Taten genannt. Robertz (2004) wies auf eine periodische Häufung von Schulamoktaten im Zusammenhang mit Jahrestagen spektakulärer Amoktaten hin (2007a).

Amokläufe an Schulen werden meist durch Einzeltäter begangen. Robertz (2004) nennt einen Anteil von 97 Prozent vom männlichen Geschlecht und einen Altersdurchschnitt der Täter von 15,6 Jahren. In der Forschungsliteratur werden nur wenige Positivmerkmale der Täter benannt. Adler stellte drei psychologisch-psychiatrische Typologien vor, indem er zwischen (wahnhaft-)schizophrenen, (schamhaft-)depressiven und (narzisstisch-)persönlichkeitsgestörten Tätern unterscheidet.[6] Letztere betrachtet er als gefährlichste Gruppierung, deren Taten am opferreichsten sind. Aufbauend auf US-amerikanischen empirischen Studien widerspricht Hoffmann typischen Thesen über Schulamoktäter.[7] Nach diesen empirischen Befunden haben die Täter kein einheitliches demographisches Profil, weisen selten schwere psychische Störungen auf, stammen selten aus sogenannten „kaputten Elternhäusern“ (broken homes), sind nicht ausschließlich sozial isolierte Einzelgänger und begehen ihre Taten geplant.

Innerhalb der Gruppe jugendlicher Schulamoktaten wurden meist entweder Lehrer oder Schüler angegriffen, abhängig von der zurückliegenden Kränkung. Robertz stellte fest, dass jeweils ungefähr in einem Drittel der Fälle ausschließlich das Lehrpersonal, ausschließlich Mitschüler oder sowohl Schulpersonal als auch Schüler verletzt wurden.[8] Vossekuil gibt einen Lehreranteil von 54 % an.[9] Nur in wenigen Fällen gibt es sog. Todeslisten.[10]

Die meisten Fälle zeigen einen unmittelbar nach der Tat anschließenden Suizid(-versuch) auf. Daher wird in der Forschung auch von „Homizid-Suizid“ gesprochen. Angenommen wird, dass dieser ein geplantes Tatelement darstellt. Darüber hinaus wird aber ebenso vermutet, dass Täter sich suizidieren, um eine Rückkehr in die „Hauptrealität“ nach der Tat zu vermeiden.[11]

Das Erstellen von Todeslisten [12] und genauen Ablaufplänen im Vorfeld der Tat [13], sowie das Verfassen und Veröffentlichen von Abschiedsbriefen oder -videos deuten im Vorfeld des Amoklaufs auf die Planung der Tat hin. Sogenannte Leakings (Durchsickern) wie zum Beispiel das Aussprechen von Warnungen oder Umsetzung gewalthaltiger Phantasien in Worten, Bildern oder Geschichten sind weitere mögliche Merkmale im Vorfeld dieser Taten. [14]

siehe auch: Forschung zu Amoktaten

Prävention

Einfache, eindeutig zu definierende Maßnahmen zur Verhütung von Amokläufen an Schulen gibt es nach allgemeiner Übereinkunft nicht. Eine infolge des Amoklaufs von Winnenden vom Landtag Baden-Württemberg eingesetzter 18-köpfiger Sonderausschuss konnte jedoch nach zehnmonatiger Arbeit parteiübergreifend mehr als 100 Empfehlungen geben; 77 davon stammten aus dem Bericht einer zusätzlich eingesetzten Expertenkommission des baden-württembergischen Kultusministeriums (Expertenkreis Amok Baden-Württemberg, der Bericht: [15]). Die Kosten der Umsetzung aller Vorschläge werden mit etwa 30 Millionen Euro veranschlagt.[16]

Technische Maßnahmen

Türknäufe statt Türgriffe

Als technische Maßnahmen gegen schulbezogene Amoktaten werden die in Schulen bisher gebräuchlichen, zum Öffnen der Klassenzimmertüren von innen wie außen herabzudrückenden Türklinken gegen so genannte "Amok-Türknäufe" ausgetauscht. Danach sollen sich die entsprechenden Türen nach außen nur noch mit einem Schlüssel öffnen lassen, man könnte die Türen also durch einfaches Zuziehen quasi von innen her (vom Klassenraum her) verriegeln. Umstritten ist dabei, ob diese Knäufe von außen drehbar (Drehknauf) oder nicht (Festknauf) sein sollen; bei nicht drehbaren Knäufen würde auch eventuell auftretenden Rettungskräften ein Zugang erheblich erschwert. In den USA wird ein System verwendet, bei dem drehbare Türknäufe zusätzlich von innen verriegelt werden können.

In Freiburg im Breisgau wurden nach den Empfehlungen des baden-württembergischen Expertenrates bereits Türkliniken gegen Türknäufe ausgetauscht.[17][18]; in Offenburg hat die Stadtverwaltung sich jedoch gegen eine solche Maßnahme entschieden.[19][16]

Pädagogik

Inklusion

Ganz allgemein wird als Prophylaxe vor Amoktaten an Schulen der Ort Schule als ein Lebensraum (auch für Erwachsene, in das Gemeinwesen einbezogen) behandelt, in dem es nicht nahezu ausschließlich um Leistungsoptimierung und Wissensvermittlung gehen soll.[20] Zu diesem Aspekt gehört auch die zunehmende Verbreitung des Prinzips der Inklusion im Bildungswesen.

Stärkung schützender Faktoren

Nach Elliot Aronson zählen dazu (2001):

  • schulpsychologische und sozialarbeiterische Konzepte
  • die Stärkung des Selbstbewusstseins
  • die Vermittlung von Selbstwirksamkeitserleben und Erfolgserfahrungen
  • der Abbau von Ängsten (Schulangst)

Darüber hinaus könnte auch eine bessere und häufigere, unter Umständen auch verbindlichere Kommunikation mit Schuleltern der Gewaltprävention dienen: zum Beispiel durch regelmäßig (alle vier Wochen) stattfindende Elternsprechtage unter Einbeziehung der Kinder; andernorts auch Schul- bzw. Kindesentwicklungsgespräche genannt.[21]

Verminderung, Verhinderung von Risikofaktoren

Z. Bsp:

  • optimierte Zugangskontrolle zu Waffen
  • Verbot und die Kontrolle von Gewaltdarstellungen
  • Verhinderung oder Verminderung einer negativen Vorbildfunktion durch eine sachliche, Opfer-bezogene, keinesfalls idealisierende Berichterstattung über Amoktaten insbesondere in den Medien.

Psychologie

Schulpsychologen

Im Bundesland Baden-Württemberg sollen bereits im Schuljahr 2010/11 die ersten 30 von 100 zusätzlichen Schulpsychologen zum Einsatz kommen; insgesamt soll hier innerhalb von drei Jahren deren Zahl auf dann 200 verdoppelt werden.[16]

Einzelfallbezogene Krisenintervention

Nach Britta Bannenberg (2007) kann hier keine spezifische Amok-Prävention erfolgen; es können lediglich allgemeine Maßnahmen wie solche der bereits bekannten Suizid- oder Gewaltprävention angewandt werden.

(Schul)sozialarbeit

In Baden-Württemberg sollen an den Schulen 250 neue Stellen für Beratungslehrer und Gewaltpräventionsberater eingerichtet werden; darüber hinaus soll an allen 4000 Schulen des Landes das Anti-Mobbing-Programm des schwedischen Psychologen Dan Olweus eingeführt werden. Dieses will die Gewalt in Klassenzimmern und Pausenhöfen eindämmen und für ein besseres Schulklima sorgen.[16]

Politische Maßnahmen

Die Zunahme von Amoktaten wird von einigen Wissenschaftlern und Politikern mit einer steigenden Gewaltbereitschaft und sinkenden Hemmschwelle aufgrund von Trainings- und Desensibilisierungseffekten durch gewalthaltige Computerspiele oder Filme erklärt, die insbesondere sozial nicht fest verwurzelte und labile Schüler massiv beeinflussen könnten. Die sogenannte „Killerspiele-These“ wurde bisher wissenschaftlich nicht erwiesen.[22]

Das Jugendschutzgesetz enthält spezielle Passagen, die sich auf Mediennutzung beziehen.[23] Im Zusammenhang mit gewalthaltigen Medien erscheint der Teilaspekt der Nachahmung, das Aufgreifen und Ausleben der Idee durch junge Menschen als relevant für das Verständnis von Schulschießereien. Darauf deuten Nachahmungen der Täter von „Heldenfiguren“ [24] aus bekannten Filmen oder Computerspielen hin. Die Gefahr von Nachahmungstaten und Trittbrettfahrern steige zudem durch die Häufung der Fälle und der Medienpräsenz.

In den Vereinigten Staaten werden an Schulen vermehrt Waffenkontrollen durchgeführt.[25][26] In Deutschland gab es mehrere Änderungen im Waffenrecht. [27]

Literatur

Film

Einzelnachweise

  1. Frank Robertz, Ruben Wickenhäuser: Der Riss in der Tafel- Amoklauf und schwere Gewalttaten in der Schule: Amoklauf und schwere Gewalt in der Schule Springer, 2007 S.10
  2. Bericht der Kommission Gutenberg-Gymnasium zu den Vorgängen beim Erfurter Schulmassaker am 26. April 2002 in der Thüringer Allgemeine
  3. Vossekuil et al., 2002
  4. vgl. auch Gallwitz, 2001
  5. Hoffmann, 2002
  6. vgl. Adler, 2000
  7. vgl. Hoffmann, 2007
  8. vgl. Robertz, 2004
  9. vgl. Vossekuil et al., 2002
  10. Amoktaten – Forschungsüberblick unter besonderer Beachtung jugendlicher Täter im schulischen Kontext 2007, LKA NRW
  11. Landeskriminalamt NRW (2007). Amoktaten – Forschungsüberblick unter besonderer Beachtung jugendlicher Täter im schulischen Kontext, Kriminalistisch-Kriminologische Forschungsstelle Analysen, 3/
  12. „Die Todesliste von Usedom“, dpa / stern, 28. Oktober 2005
  13. „Amoklauf von Emsdetten. Das Tagebuch von Sebastian B.“, stern, 22. November 2006
  14. „Blacksburg-Massaker. Amokläufer versuchen, andere Täter zu überbieten“, Spiegel Online, 20. April 2007
  15. badenwuerttemberg.de, Expertenkreis Amok: Gemeinsam Handeln - Risiken Erkennen und Minimieren; Prävention - Intervention - Opferhilfe - Medien (87 S., 2. November 2010)
  16. a b c d badische-zeitung.de, Nachrichten, Südwest, 10. März 2010, Roland Muschel: Land will Konsequenzen aus Amoklauf ziehen (30. Oktober 2010)
  17. badische-zeitung.de, Lokales, Freiburg, 17. Oktober 2010, Claudia Füßler: Anti-Amok-Türknäufe entsprechen nicht Expertenrat (30. Oktober 2010)
  18. badische-zeitung.de, Lokales, Freiburg, 12. Oktober 2010, Claudia Füßler und Benjamin Klaußner: Klassenzimmer: Türknaufe statt Klinken für mehr Sicherheit (30. Oktober 2010)
  19. badische-zeitung.de, Lokales, Offenburg, 13. Oktober 2010, hsl: Weiterhin freier Zugang in die Klassenzimmer (30. Oktober 2010)
  20. erziehungskunst.de, Oktober 2010, Gisela Mayer, Thomas Stöckli: Unser innerer Dialog ist niemals abgebrochen(24. Oktober 2010)
  21. dradio.de, Deutschlandfunk, PisaPlus, 30. Oktober 2010, Antje Allroggen: Kommunikationsfalle Elternabend - Eine Glosse aus Betroffenensicht (30. Oktober 2010)
  22. „Studien: Computerspiele können aggressiv machen“, Heise online, 1. Dezember 2006
  23. „Medienwissenschaftler: Kein neues Gesetz für Gewaltspiele nötig“, Heise online, 14. Februar 2007
  24. „Video-Vermächtnis mit Waffe, Mantel, Kampfstiefeln“, Spiegel online, 20. November 2006
  25. „Schule gegen Gewalt“, Rheinische Post, 23. November 2006
  26. „Amerikas Waffen, Amerikas Tragödie“, Spiegel online, 18. April 2007
  27. Union und Polizisten lehnen schärferes Waffenrecht ab, Spiegel Online vom 11. März 2009