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Wildnispädagogik

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Der Begriff Wildnispädagogik etabliert sich in Deutschland seit den 1990er Jahren und benennt einen eigenständigen Bereich der Umweltbildung.[1] Sowohl hinsichtlich ihrer spezifischen Inhalte als auch hinsichtlich der entwickelten Lehr- und Lernformen unterscheidet sich die Wildnispädagogik deutlich von anderen natur- und umweltpädagogischen Strömungen.

Als Quelle dienen der Wildnispädagogik überliefertes Wissen und die Erziehungsmethoden aus untergegangenen oder den wenigen noch existierenden Naturvölkern. [2] Von daher bestimmt sie die Auseinandersetzung mit deren subsistenter Lebensweise, ihrer Weltsicht, ihrer Kultur und ihrem Handwerk sowie ihrem Verhältnis zur Natur als ihren Gegenstand.[3] Von dieser Schwerpunktsetzung leitet sich der wesentliche Inhalt der Wildnispädagogik ab: das (Über-) Lebenstraining in der Natur.[4] Gerhardt Trommer bemerkt dazu, dass Wildnispädagogik „geradezu auf den Kopf zu stellen (scheint), worum es in der Pädagogik schon immer ging: Die Befreiung des Menschen vom Urzustand, das Herausführen aus dem Zustand der Unmündigkeit. Pädagogik bemühe sich in aller Regel nicht um eine Erziehung, die für das Leben in der fernen Wildnis lebenstauglich macht."[5]

Datei:Naturmentoring, Wildnispädagogik 4.JPG
Fährtenlesen in der Lausitz (2007)

Grundlagen und Definitionsversuche

Auch wenn es in den letzten Jahren eine wachsende Nachfrage nach wildnispädagogischen Angeboten zu geben scheint, eine ausführliche und einheitliche Ausarbeitung der wildnispädagogischen Methoden, ihrer Inhalte und Ziele liegt bislang nicht vor, ein schlüssiges Gesamtkonzept fehlt. Das Hauptanliegen der Wildnispädagogik ist es Menschen von heute, die häufig ihre Verbindung zu den natürlichen Abläufen des Lebens verloren haben, den Zugang zur Natur wieder zu öffenen, wieder neu in den Kontakt mit Natur zu bringen. Wildnispädagogik kann Techniken und Fähigkeiten vermitteln, die es ermöglichen, sich draußen wohl und in der Natur wieder heimisch zu fühlen. Ein übergreifendes Ziel ist die Förderung von Achtsamkeit gegenüber dem Leben, einem Verständnis für die komplexen Zusammenhänge in den ökologischen Systemen und das Entwickeln einer emotionalen Verbundenheit, durch die zwischen Mensch und Natur, aber auch zwischen Mensch und Mensch Einklang erreicht wird.

Erxleben hebt das Ziel der Verbundenheit besonders hervor und spricht von „bedeutungsvollem Eingebundensein“. Intensives Naturerleben solle einen nachhaltigen Lebensstil fördern: „Wenn jemand wirklich tief mit der Natur vertraut ist, lebt er auch in Einklang mit ihr. Und Einklang bedeutet das Bedenken von Nachhaltigkeit.“[6]

Durch wildnispädagogische Methoden können die Erlebnisse in der „Wildnis“ und die Begegnung mit der Natur zur einer Wiederentdeckung der "vollen Sinnlichkeit", des affektiven und imaginativen beitragen und dadurch eine Verfeinerung der Wahrnehmungsfähigkeit fördern. Erfahrungen also, die einen Ausgleich darstellen, zu unserer modernen, durch Hast, Anonymität und Entfremdung geprägten Lebensweise.

Psychologische und Neurologische Studien bestätigen die große Bedeutung, die eine sinnliche und emotionale Beziehung zu Natur - und dem lebendigen im allgemeinen - bei der Entwicklung von unserem Denken, Fühlen und Handeln spielt. [7] [8] [9]

Wege der Wildnispädagogik

Die Wildnispädagogik hat unterschiedliche Ausrichtungen. Den Ausdruck benutzte erstmals Gerhard Trommer 2002 in einer Fachpublikation.[10] Anja Schendzielorz teilte 2003 die wildnispädagogischen Ansätze in zwei Kategorien ein: Wildnispädagogik der Nationalparke und diejenige der freien Wildnisschulen.[11]

Wildnisbildung in deutschen Nationalparks

Entsprechend ihrem Bildungsauftrag führen auch die deutschen Nationalparks Programme für Kinder, Jugendliche und Erwachsene zur Umweltbildung durch. Seit mit dem neuen Schlagwort „Natur, Natur sein lassen!“[12] der Wildnisgedanke von den Organisatoren der Nationalparks aufgegriffen wurde, gibt es in der Nationalparkbewegung Deutschlands zunehmend Überlegungen dazu, wie Menschen denn an diese „Wildnis“ heranzuführen sind. Innerhalb der nationalparkpädagogischen Diskussion entstand damit die nationalparksspezifische Wildnisbildung.[13] In Abgrenzung zur Wildnispädagogik bezieht sich ihre Vermittlungsarbeit dabei in der Regel auf etablierte und pädagogisch eher traditionelle Konzepte der Umwelterziehung. [14]

In diesem Kontext soll Wildnisbildung Besonderheiten von Nationalparks und anderen Großschutzgebieten (GSG) vermitteln. Den Besuchern soll ermöglicht werden, die Unterschiede der Verhältnisse in GSG und ihrem Wohnort zu erkennen und zu verstehen. Wildnisbildung soll hier ein eigenes Profil entwickeln. Sie hätte dann u. a. die Funktion, dass Menschen Naturdynamik, Harmonie und Sinn der Schöpfung erleben, verstehen und als handlungsorientierten Leitgedanken akzeptieren.[15]

Die Bildungsarbeit in den Nationalparks orientiert sich meist an verschiedenen Bildungskonzepten und ist eine Mischung aus Naturpädagogik (Göpfert 1987), Ökopädagogik (Beer & De Haan 1987), Erlebnispädagogik (Janssen 1988), Rucksackschule (Trommer 1991), Flow Learning (Cornell 1991, 1999), Earth Education (VAN MATRE 1990) und vielen anderen.[16]

Wildnispädagogik in Wildnisschulen

Unabhängig von der Entwicklung im Nationalpark entwickelte sich die Wildnispädagogik in den Wildnisschulen. Wildnisschulen betrachten Wildnispädagogik als von Großschutzgebieten unabhängig und wenden Sie auch unabhängig davon an. Die Übergänge zwischen Zivilisation, Kulturland und Wildnis werden als fließend angesehen. Naturnahe Landschaften können viel Unmittelbares anbieten und für jemanden aus der Großstadt hat der nächste Wald, mit Geräuschen wie Vogelgezwitscher statt Autolärm, bereits etwas Wildes und anregendes. Es geht darum die „kleine Wildnis“ zu entdecken, die einen vor jeder Haustür erwartet (Erxleben, 2008).

Die Bildungsarbeit der Wildnisschulen wurde maßgeblich von Tom Brown jr.[17] und Jon Young[18], aus Amerika beeinflusst und leitet sich eher von der „Kultur der Wilden“, als von der „Wildnis“ als Landschaft ab. Die Wildnisschulen sehen ihre Tradition u. a. basierend auf den Lehren Indigener Völker und Jäger und Sammler Kulturen.

Der erste, einjährige Wildnispädagogik Lehrgang wurde 2003 durchgeführt. Mit der Diplomarbeit: Einheimisch werden in der Natur[19] wurde ein Wildnispädagogischer Lehrgang zum ersten Mal wissenschaftlich begleitet und der MDR hat in seiner Reihe LexiTV einen Bericht über den Wildnispädagogik Lehrgang einer Wildnisschule gesendet.[20]

Anwendungsgebiete der Wildnispädagogik

Die Angebote der Wildnispädagogik werden von Bildungseinrichtungen, wie Kindergärten, Jugendgruppen, Schulen und Universitäten, von Firmen, Privatgruppen und Familien in Anspruch genommen.[21]

Im Jahr 2000 wurde ein Netzwerk von Wildnispädagogen, das „W.I.N.D - Wildnisschulen Netzwerk Deutschland“ gegründet.[22] Seit 2007 existieren wildnispädagogische Waldkindergärten. Im selben Jahr fand der erste dreijährige Wildnispädagogik-Lehrgang statt.[23] Eine internationale Infrastruktur für das weltweite Netzwerk der Wildnispädagogik versucht das 2009 in den Vereinigten Staaten gegründete 8 Shields Institute[24] zu etablieren.

Die These, dass es sinnvoll ist, auch unabhängig von Großschutzgebieten zu arbeiten, stößt aktuell auf immer mehr Anerkennung.[25] Die Vertreter der zwei Grundlinien der Wildnispädagogik arbeiten mehr und mehr in Projekten in und außerhalb der Wildparks zusammen.

Einzelnachweise

  1. Hoevel, Malte. (2005), S.33
  2. Young, Jon. (2008), S.XVI; Lies, Jörn (2004), S.43
  3. Stöcker, Paul (2010), S.22f
  4. Kremer, David (2005), S.16
  5. Trommer, Gerhardt (2002), S.8f
  6. Erxleben, Anja (2008), S.1f
  7. GEO Heft 8/2010: S. 100f.
  8. Vgl. Norbert Jung, Forschung: „Psychotope als Gegenstand der Mensch-NaturBeziehung“
  9. Gerald Hüther. Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen (Sammlung Vandenhoeck; 6. Aufl. 2006) ISBN 978-3-525-01464-6
  10. Gerhard Trommer: Wildnispädagogik - Eine wichtige Zukunftsaufgabe für Großschutzgebiete. In: Nationalpark 4/02, S. 8-11, 2002
  11. Anja Schendzielorz:Was wird unter Wildnispädagogik verstanden? Konzepte der Wildnispädagogik im Vergleich. Zulassungsarbeit zur ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Realschulen in Bayern. Erziehungswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. S. 97 und Hoevel, 2005
  12. Hans Bibelriether: (1992): Natur Natur sein lassen. - In: Prokosch, P. (Hrsg.) (1992): Ungestörte Natur - Was haben wir davon? - Tagungsber. 6 Umweltstift. WWF Deutschland, S. 85-104, Husum
  13. vgl. http://naju.nationalpark-kellerwald-edersee.de/de/3_Wildnisbildung; www.gfn-harz.de/sites/wildnisbildung.pdf
  14. vgl. Hoevel (2005), S.21
  15. Erxleben, Anja (2008): Einheimisch werden in der Natur Diplomarbeit FH Eberswalde
  16. BUND (2002): Wildnisbildung, ein Beitrag zur Bildungsarbeit in Nationalparken
  17. engl. Wikipedia: Tom Brown jr.
  18. Jon Young
  19. siehe 7.
  20. LexiTV Video: Überleben leicht gemacht
  21. Kunden der Wildnisschule Wildniswissen
  22. W.I.N.D. Website
  23. Dreijährige Wildnispädagogik
  24. 8shields.org
  25. Fachtagung „Neue Wege in der Waldpädagogik“, 09. und 10. November 2009, Erfurt

Literatur

  • Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (2002): Wildnisbildung, ein Beitrag zur Bildungsarbeit in Nationalparken.
  • Erxleben, Anja (2008): Einheimisch werden in der Natur, Diplomarbeit an der FH Eberswalde
  • Hoevel, Malte (2005): Ein Konzept für die "Wildnispädagogik" im Nationalpark Eifel. Diplomarbeit. Betreut von W. Golte. Bonn. Friedrich-Wilhelms-Universität, Geographisches Institut.
  • Kahn, P.; Kellert, S.(2002). Children and nature: psychological, sociocultural, and evolutionary investigations. MIT Press. ISBN 0262112671.
  • Lies, Jörn (2005): Wildheit als Weg - Über die Unerledigtheit von Wildnis. Diplomarbeit an der HGB Leipzig
  • Louv, Richard (2005): Last Child in the Woods: Saving Our Children from Nature-Deficit Disorder. (Gebundene Ausgabe). Algonquin Books. ISBN 1565123913
  • Louv, Richard (1998): Web of Life: Weaving the Values That Sustain Us.
  • Nülle, Susanne (2008): Coyote Teaching / Wildes Wissen und die Auswirkungen in der Waldkindergartenarbeit. Praxisbericht an der Universität Bremen
  • Peham, Wolfgang (2008): Der Wald in uns - Nachhaltigkeit kommunizieren. Artikel: Verbunden sein, Seite 30-37 - Oekom Verlag München.
  • Thiessen, Henning (1992): Wildnisse in Schleswig-Holstein? In: Prokosch, P. (Hrsg.) (1992): Ungestörte Natur - Was haben wir davon? Tagungsber. 6 Umweltstift. WWF Deutschland, Husum
  • Trommer, Gerhard (Hrsg.) (1991): Natur wahrnehmen mit der Rucksackschule. Westermann, Braunschweig
  • Trommer, Gerhard (1992): Wildnis - die pädagogische Herausforderung. Deutscher Studienverlag, Weinheim
  • Trommer, Gerhard & R. Noack (1997): Die Natur in der Umweltbildung - Perspektiven für Großschutzgebiete. Deutscher Studien Verlag, Weinheim
  • Trommer, Gerhard (1999): Psychotop Wildnis - Wildnis und Verwilderung - Begriffsdefinitionen und Hintergründe. In: Polit. Ökologie. 59:10–12
  • Trommer, Gerhard (1999a): Die Gila Wilderness - erstes Wildnis-Schutzgebiet in den USA. In: Nationalpark. 2/99: 36-39
  • Trommer, Gerhard (2002): Wildnispädagogik – Eine wichtige Zukunftsaufgabe für Großschutzgebiete. In: Nationalpark. 4/02: 8–11
  • Young, Jon, Haas, Ellen und McGown, Evan (2008): Coyote´s Guide to Connecting With Nature.
  • Kremer, David (2004): Überleben lernen. Wildnistraining zwischen Erlebnispädagogik und Umweltbildung. Diplomarbeit. Betreut von Peter Heitkämper und Dagmar Berg-Winkels. Münster. Westfälische Wilhelms-UNiversität Münster, Erziehungswissenschaft und Saozialwissenschaft.
  • Stöcker, Paul (2010): Wildnispädagogik im bildungstheoretischen Kontext, Masterarbeit, HNE-Eberswalde
  • GEO Heft 8/2010 "Die Natur der Kinder; Lasst sie raus!" S.90-108, Gruner und Jahr AG & CoKG, Druck und Verlagshaus
Commons: Naturmentoring – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien