Zum Inhalt springen

Innovation (Evolution)

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 31. Oktober 2010 um 19:43 Uhr durch Ventus55 (Diskussion | Beiträge) (Kultur als Innovation). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.

Innovation ist ein neues Merkmal oder eine Verhaltensweise in der evolutionären Stammesgeschichte von Lebewesen, das sich allein mit der Änderung bestehender Merkmale ihrer Vorfahren nicht oder nicht ohne weiteres erklären lässt. Innovation steht somit in Abgrenzung zu Variation, der bloßen Veränderung eines bereits vorhandenen Merkmals.

Unterscheidung Variation und Innovation

Innovation in der Evolution wird unterschieden von Variation, jeweils bezogen auf den Phänotyp. Variation wird von Charles Darwin und der der Synthetischen Evolutionstheorie hauptsächlich mit natürlicher Selektion und Adaption in Verbindung gebracht wird. Die Synthetische Theorie analysiert auf Basis populationsgenetischer Betrachtung statistische Änderungen der Genfrequenz in Populationen und interessiert sich von dieser Seite in ihrer klassischen Form nicht für Fragen der Entstehung spezifischer Merkmale des Organismus. Phänotypische Variation wird in der Standardtheorie als gegeben angenommen.

Im Gegensatz dazu wird besonders von Evo-Devo seit Anfang der 1990er Jahre untersucht, wie der Begriff Innovation hilft, Erkenntnisse zu erlangen über die Entstehung innovativer Merkmale in der Entwicklung und im ökologischen Umfeld, über ihre Realisierung im Organismus sowie ihre dauerhafte Verankerung (genetisch/epigenetische Integration).

Allgemein wird der Begriff Innovation jedoch oft synonym mit Variation verwendet, wenn wichtige evolutionäre Veränderungen beschrieben werden. Wegen der in wissenschaftlichen Publikationen oft unscharfen Abgrenzungen kann es zu Konfusion kommen[1]. Innovation meint immer eine qualitative Abweichung von den Vorgängereigenschaften, und nicht nur einen quantitativen (Müller)[1].

Beispiele

Abb. 1 Der Schildkrötenpanzer ist eine evolutionäre Innovation Typ II. Sie erforderte parallel komplizierte Skelettumbauten.

Phänotypische Innovation ist in der Evolution seltener als Variation. Ihre Bedeutung für die Evolution ist jedoch oft groß, da in der Evolutionsgeschichte mit einer Innovation, speziell mit einer Schlüsselinnovation (s.u.), vielfach eine lang anhaltende adaptive Radiation auf höheren taxonomischen Ebenen auftritt. Folgende Innovationen werden als ausgewählte phänotypische Innovation bei ihrem jeweils erstmaligen Auftreten genannt:

Morphologie[2] [3]:

Physiologie[1]:

  • Konstante Körpertemparatur bei Warmblütern

Verhalten:

Definitionen und Abgrenzungen

Ernst Mayr, einer der Hauptvertreter der Synthetischen Theorie, sieht als evolutionäre Innovation 1963 „jede neu erworbene Struktur oder Eigenschaft, die es erlaubt eine neue Funktion auszuüben, die ihrerseits eine neue adaptive Zone eröffnet“ [7]. Diese Definition lässt auch zu, dass eine neue Funktion durch reine quantitative Anhäufung bereits bestehender Merkmalselemente zustande kommt und nicht nur durch qualitative Neuerung. Heute wird eher letzteres mit Innovation gleichgesetzt.

Stärker auf die Entwicklung, also auf den Entstehungsweg der Innovation (novelty) heben Müller/Wagner 1991 ab. Sie definieren Innovation als „ein Konstruktionselement in einem Bauplan, das weder ein homologes Gegenstück in der Vorläuferart noch im selben Organismus hat“[8]. Dieser Begriff schließt rein quantitative Veränderung von schon bestehenden Merkmalen aus. Er erlaubt den Blick auf Merkmale, die sowohl gänzlich neu entstehen, als auch auf Merkmale die durch neue Kombinationen oder Unterteilung bereits bestehender Merkmale entstehen (z.B. der Daumen des Panda). Ferner erlaubt die Definition vom Müller/Wagner die Anwendung auf klar abgegrenzte, eindeutige Fälle nicht nur in der Morphologie sondern auch in der Physiologie oder im Verhalten[9]. Ähnlich spricht West-Eberhard von „einem neuen Merkmal, das auf einer qualitativ neuen Entwicklungsvariante basiert“ [10]. Um die Ökologie einzubeziehen und zu berücksichtigen, dass nicht nur auf diskontinuierliche Merkmale abgehoben wird, erklärt Massimo Pigliucci 2008 Innovation wie folgt: „Evolutionäre Innovationen sind neue Merkmale oder Verhaltensweisen, oder neue Kombinationen zuvor existenter Merkmale oder Verhaltensweisen, die in der Evolution einer Abstammungslinie entstehen, und die eine neue Funktion in der Ökologie dieser Abstammungslinie zeigen“ [11]. Diese Definition lässt die Entwicklung wiederum stärker in den Hintergrund treten. Ferner soll aus Sicht von Evo-Devo die Definition auf Diskontinuität als mögliche Reaktionsform der Entwicklung abheben und die Fähigkeit der Entwicklung zu spontaner Konstruktionsänderung so auch Eingang finden in der Evolutionstheorie.

Der Begriff Innovation wird im Umfeld von Evolution neben den genannten phänotypischen Feldern Morphologie, Physiologie und Verhalten auch in folgenden Gebieten verwendet:

Schlüsselinnovation

Schlüsselinnovation (key innovation) bezieht sich auf die herausragende Rolle bestimmter Innovationen im makroevolutionären Prozess und — wie bei Mayr ebenfalls — auf die adaptive Radiation. Beispiele für Schlüsselinnovationen sind die Zweibeinigkeit, das Auge, Milchdrüsen bei Säugetieren und andere. Schlüsselinnovation ist vom Beggriff her stets zu sehen in einer wichtigen reziproken Verbindung zwischen ihrer internen Konstruktion, den entsprechenden Umweltfaktoren und der Population[1]. In diesem Zusammenhang gesehen ermöglichen sie die Verwertung neuer Energieresourcen und die radiative Exploration neuer ökologischer Nischen[1]. Das wird deutlich am Beispiel der Vögel in der Folge der Innovation der Flügel und der Zahl von mehr als 9000 rezenten Vögeln. Nennt man als Schlüsselinnovation taxonomisch neutral den Flügel, ist die Bedeutung noch umfangreicher, da Flügel mehrmals unabhängig evolutionär entstanden sind (Vogel, Fledertiere, Insekt, Schmetterling) und so zur adaptiven Radiation von noch weit mehr Nischen geführt haben.

Innovation zielt also stärker auf die konstruktive Entstehung ab, während Schlüsselinnovation stärker die Diversität in der Folge kaskadierter Effekte einer Innovation meint[1].

Klassifizierung von Innovationsformen

Gerd B. Müller unterscheidet 3 Typen phänotypischer Innovation[12]:

  • Typ I Innovation: Primäre anatomische Architektur im Bauplan von Metazoa
  • Typ II Innovation: Diskretes neues Element, das einem existierenden Bauplan hinzugefügt wird
  • Typ III Innovation: Größere Veränderung eines existierenden Bauplanmerkmals

Typ I Innovation nennt die physikalischen Grundvoraussetzungen für unterschiedliche Aggregationsformen von Zellen in multizellularen Organismen (Adhäsion, Diffusion, Oszillation etc.) wie von Stuart A. Newman als Dynamic Patterning Modules (DPM´s) beschrieben [13]. Solche multizellularen Grundformen sind evolutionär prämendelianisch entstanden, d.h. nicht durch Mutation-Selektionsprinzip sondern durch physikalische Eigenschaften, die erst ab einer bestimmten Skalierung emergent auftreten, wie zum Bespiel die Eigenschaft Flüssigkeit von Wasser bei einem oder wenigen Molekülen noch nicht gegeben ist.

Typ II – Innovation ist demnach z. B. der Schildkrötenpanzer oder die Feder.

Typ III Innovation ist der Narwal-Stoßzahn, der aus einem vorhandenen Zahn hervorgegangen ist.

Aus der Sicht von Evo-Devo ist besonders die Typ-II-Innovation von Bedeutung wegen der qualitativen Aspekts [14].

Die Entwicklung erzeugt phänotypische Innovation

Es werden drei Phasen evolutionärer phänotypischer Innovation unterschieden:[15]

Initiierungsbedingungen

Hier will man wissen, welcher konkrete Selektions- oder Umweltfaktor oder -faktoren als Auslöser einer Innovation verantwortlich sein können, also wodurch etwa das anfängliche Wachstum das des Insektenflügels oder das des Schildkrötenpanzers ausgelöst wurde. Es muss davon ausgegangen werden: "Die Selektion kann nicht an Merkmalen angreifen, die noch nicht existieren und somit nicht unmittelbar Innovation verursachen" [16]. West-Eberhard betont: In den überwiegenden Fällen sind es veränderte Umweltbedingungen, die den Anstoß für evolutionäre Innovation geben[17]). Das gilt sowohl für die Entstehung des Skeletts der Wirbeltiere [18] als auch für die Entstehung des Außenskeletts von Meeresbewohnern (Seeigel), letzteres bei Anreicherung des Wassers durch Calcium [19]. Die Begründung dafür, dass Umweltfaktoren als initiierende Stressoren überwiegen, sieht West-Eberhard darin, dass sie oft viele Generationen lang anhalten und breit wirken, unter Umständen auf die gesamte Population lange und gleichzeitig. Das erleichtert die evolutionäre Entstehung von Innovation.

Datei:Narwhals breach.jpg
Abb. 2 Der vier bis fünf Meter lange Stoßzahn des Narwals ist eine Innovation Typ III

Müller unterscheidet drei evolutionäre Mechansimen, durch die phänotypische Innovation entstehen kann[1]:

1. Seltene genetische Mutationen, die das Rohmaterial bilden für einen spontanen Struktur-Effekt, der sich in der Entwicklung herausbildet. Möglicherweise können solche Mutationen der Entstehung der Feder zugrunde gelegen haben, neue makroskopische Eigenschaften, die auf neuartigem Material Keratin basieren.

2. Symbiontische Vereinigung von zuvor separierten genetischen bzw. Entwicklungssystemen oder -komponenten. Endoysymbiose, auch horizontaler Gentransfer genannt, ist vor allem bekannt bei der evolutionären Entstehung von Eukaryoten. Der Transfer beschränkt sich ausdrücklich nicht auf Gensegmente sondern kann auch die Übertragung vollständiger genetischer Module bzw. Entwicklungsmodule zwischen zwei Arten beinhalten.

3. Epigenetische Byprodukte (side effect hypothesis). Sie entstehen als Nebeneffekt der Selektion, die in diesem Fall an anderen Merkmalen oder auf anderen Ebenen wirkt als an denen, die zur Innovation selbst führen. Auf Nebeneffekte der Selektion hat bereits Darwin 1859 hingewiesen[20]. Auf der Grundlage spezifischer Zell- und/oder Gewebeeigenschaften und ihrer Interaktionen wirkt die Selektion gerichtet zum Beispiel auf Paramter wie die Zellteilungsrate, Zell- und Gewebe-Signalaustausch oder das Timing vieler unterschiedlicher Prozesse. Auf diese Weise kann das System an einen Schwellenwert gelangen, an dem neue Strukturen automatisch zu entstehen beginnen. Beispiele epigenetisch entstandener Nebenprodukte sind etwa neue Skelettelemente. Die Entstehung der Vogelfeder wird von Josef H. Reichholf auf diese Art erklärt[21]. Reichholf betont den Überschuss an Nahrungselementen als möglichen Initiator für die Innovation.

Realisierungsbedingungen

Des Weiteren spricht man von der Akkomodierung des neuen Merkmals im Phänotyp und will z. B. wissen, wie dieses vollständig in die Anatomie integriert werden kann. So verlangt z. B. der Schildkrötenpanzer umfangreiche Skelettumbauten (s. dazu: Evo-Devo Abschn.: Skelettumbauten bei der Entstehung des Schildkrötenpanzers). Auch ein zusätzlicher Finger oder Zeh (Typ III Innovation) erfordert die exakt koordinierte Integration in die Anatomie der Hand oder des Fußes sowie abgestimmte Hinzufügung von Adern, Nerven, Muskeln etc.

Sofern die Initiierungsbedingungen für die Innovation unspezifisch und allgemein sind (Ernährung etc.), müssen die Realisierungsbedingungen zwangsläufig in der Entwicklung liegen [22]. Hier sieht man das Phänomen von Schwellenwerteffekten, das bedeutet, dass kleine Ausgangsbedingungen nicht-lineare, phänotypische Variation/Innovation hervorrufen können [23]. Die Veränderung von einem einzigen Parameter führt zur Antwort des ganzen Systems Entwicklung auf den Störfaktor. Diese Antwort des Systems Entwicklung kann die Innovation erzeugen. Der Innovations-/Konstruktionsprozess bis einem der oben genannten Beispiele wird dabei in vielen Fällen mehrstufig sein, d.h die Phasen Initiierung - Realisierung - Integration werden mehrmals durchlaufen und Funktionswechsel (s.u.) treten gegebenenfalls mehrfach auf.

Integrations- und Fixierungsbedingungen

Hier erforscht man, wie das neue phänotypische Element (zusätzl. Finger etc.) genetisch und epigenetisch fixiert bzw. assimiliert wird, so dass es dauerhaft Bestand hat und von dem auslösenden (Umwelt-)Stressor ganz oder nahezu entkoppelt wird. "Das Innovationsmerkmal muss in das bereits bestehende Konstruktions-, Entwicklungs- und Genom-System akkommodiert werden, um Funktionalität und Vererbung sicherzustellen" [24]. Dabei "scheint es eine Regel zu sein, dass die epigenetische Integration der genetischen Integration vorausgeht"[25] oder wie West-Eberhard es ausdrückt: "Genes are followers in Evolution" [26]. "Die genetische Integration stabilisiert und überdeterminiert im Zeitverlauf den generativen Prozess (Innovationsprozess) und resultiert in einem immer engeren Mapping zwischen Genotyp und Phänotyp" (Müller)[27].

Zusammenfassend gilt, dass Umweltfaktoren und die Entwicklungsprozesse eine wesentliche Rolle spielen in allen drei Phasen der Innovation. Müller spricht daher auch von epigenetischer Innovation[28]. Ein geringfügiger Einflussfaktor, entweder ein Umweltstressor oder eine genetische Mutation, kann eine Antwort des gesamten Systems Entwicklung auf den Störfaktor provozieren, wenn die kanalisierte Plastizität an ihre Grenzen stößt. Diese Antwort kann auf Grund der Fähigkeiten des Entwicklungssystems zur Selbstorganisation nicht-linear bzw. nicht-graduell (diskontinuierlich) sein. Die spezifische Ausprägungsform des morphologischen Ergebnisses wird nicht durch die Selektion diktiert, sondern durch die nicht-lineare Reaktionsfähigkeit des Entwicklungssystems[29].

Die Entstehung von Innovation ist kein adaptiver Prozess. Die natürliche Selektion wirkt auf ein Konstruktionsergebnis der Entwicklung, nicht auf gradualistische Veränderungsschritte. Das ist eine Kernaussage der epigenetisch verstandenen Evo-Devo-Forschung und -Theorie, wie sie von Müller, Kirschner/Gerhard, West-Eberhard vertreten wird.

Constraints

Abb. 3 Der Insektenflügel ist eine evolutionäre, phänotypische Innovation Typ II. Er konnte erst nach mehrfachem Funktionswechsel als Flügel dienen (s. Flügel (Insekt))

Constraints begrenzen phänotypische Evolution und wirken richtungsbestimmend für ihren Verlauf. Sie können pysikalisch, morphologisch oder phylogenetischer Natur sein. Auch werden äußere und innere Constraints unterschieden. So kann ein Mensch evolutionär keine Kiemen oder Flugfähigkeit mehr entwickeln. Im Zusammenhang hier sind besonders Entwicklungsconstraints zu nennen. Conrad Hal Waddington nennt das Phänomen Kanalisierung[30]. Art und Umfang, wie Constraints aufgebrochen und überwunden werden können, spielen eine maßgebliche Rolle dafür, wie evolutionäre Innovation in der Entwicklung entstehen kann. Sind Entwicklungspfade stark kanalisiert, besteht im Sinn Waddingtons eine Pufferung genetischer Mutation, die auf die Erhaltung des status quo des Phänotyps hinwirkt. Das kann bedeuten, das die Entwicklung bei hohem Selektionsdruck unfähig ist, mit Variation zu antworten und genau deswegen gezwungen ist, Schwellenwerte zu überschreiten, was zu erhöhten Chancen für Innovation führt[31].

Funktionswechsel

Komplexe Innovation ist vielfach nicht von Beginn an funktionell als das entstanden, als was es bei rezenten Lebewesen erscheint. So sind Insektenflügel mehrstufig entstanden, und zwar zunächst als rudimentäre Körperfortsätze aus Gewebeformen, die aus überschüssigem Material gewachsen sein können und im ersten Stadium aquatischen Arthropoden als Lamellen dienten. Später konnten sie als Segel beim Gleiten auf glatten Oberflächen verwendet werden und erst darauf aufbauend, nach weiteren Transformationen, als Flügel[32]. Stephen J. Gould schreibt zu Funktionswechsel[33] „Überall in der Natur hat beinahe jeder Bestandteil jedes lebenden Wesen unter leicht veränderten Bedingungen wahrscheinlich unterschiedlichen Zwecken gedient und ist in der lebendigen Maschinerie vieler älterer und ganz spezieller Formen tätig geworden.“

Während solche Beispiele langfristige Prozesse beschreiben, lässt das oben genannte Evo-Devo-Konzept mit den Phasen Initiierung – Realisierung – Integration durchaus spontane morphologische Übergänge zu auf Grundlage von Schwellenwerteffekten und der nicht-linearen Reaktionsfähigkeit der Entwicklung (s.dazu Evo-Devo).

Es ist davon auszugehen, dass die hier genannten Innovationsbeispiele, wie etwa Milchdrüsen oder Zweibeinigkeit, komplexe, mehrstufige Innovationsprozesse sind, die jeweils einzeln die spontane Konstruktionseigenschaft der Entwicklung erfüllen, aber erst in kaskadierten Stufen, gegebenenfalls mit mehreren Funktionswechseln, zu dem führen, als was sie in den Beispielen erkennbar sind [34]. Für Gerhard Vollmer ist es dabei unerlässlich, dass ein Merkmal zeitweise zwei oder mehr Funktionen gleichzeitig ausübt[35].

Verhaltensinnovation bei Tieren

Abb. 4 2005 wurde erstmals beobachtet, wie ein Gorilla einen Stab zum Abtasten der Wassertiefe und als Gehhilfe verwendet.

Tiere erfinden innovative Verhaltensformen. Hier will man anaylsieren, wie diese evolutionär entstehen können und ob es gemeinsame Erklärungsmuster gibt. Unterschieden wird emotionales, kognitives, soziales und ökologisches neues Verhalten [36]. Raeder/Laland betrachten Verhaltensinnovation als Prozess und Produkt und definieren Innovation als "einen Prozess, der in neuem oder modifizierten erlernten Verhalten mündet und der die neuen Verhaltensvarianten in das Repertoire einer Population überführt"[37]. Innovatives Verhalten als Prozess beinhaltet individuelles und soziales Lernen. Hierbei wird soziales Lernen als chancenreicher für eine Etablierung in der Population gesehen. Raeder/Laland berichten daher bei innovativem Verhalten auch überwiegend über Primaten und Singvögel. Das generelle mentale und emotionale Makeup eines Individuums ist dabei relevant dafür, ob und wie oft Individuen mit neuen Verhaltensformen in Erscheinung treten [38]. Der niederländische Verhaltensforscher Carel van Schaik[4] nennt drei herausragende Muster für das Auftreten von Verhaltensinovation bei sozialen Tieren:

  • die Veranlagung eines Individuums
  • das soziale Umfeld und
  • die ökologischen Umstände

Damit neue Verhaltensweisen aufkommen, ist laut van Schaik ökologischer Druck notwendig. Er ist eine mögliche Initiatorbedingung (s.o.). Neue Verhaltensformen können dann unter Umständen überlebenswichtig für die Art werden. Das gilt vor allem dann, wenn eine Art nicht in der Lage ist, ihr Habitat zu verlassen oder zu vergrößern. "Eine große ökologische Verbreitung ist wahrscheinlich positiv korreliert mit Innovation, weil in einem ökologisch großen Gebiet neue Herausforderungen und Möglichkeiten bestehen. Dennoch muss Innovation nicht mit einer extensiven geografischen oder ökologischen Weite korelliert sein: Manchmal kann nämlich Innovation die Migrations- oder Erkundungstendenz der Besiedlung neuer Gebiete limitieren, weil Innovation die existierende Nische ausweitet bzw. eine effizientere Ausbeutung eröffnet und es so Individuen erlaubt zu bleiben. Es wird daher angenommen, dass eine asymmetrische Korrelation besteht zwischen der Ausbreitung einer Art und Innovation"[39].

Schwierigkeiten können sich nach Jablonka/Avital ergeben bei der eindeutigen Abgrenzung neuer kontextabhängiger, kognitiver Verhaltensformen von anderen vorhandenen Verhaltensformen und deren Funktionen. Lernfähigkeit und Bereitschaft für Innovation kann nicht losgelöst analysiert werden. Innovation resultiert aus dem hochintegrierten Zusammenspiel komplexer kognitiver Prozesse und Umstände. Deren unterliegende physiologischen und neurologischen Mechanismen können nicht unterschieden werden von anderen solchen Prozessen, benötigen aber noch die Berücksichtigung einige weiterer Prozesse, wie etwa bestimmte emotionale Zustände in spezifischen Lernstiuationen[40].

Nicht geklärt ist heute die Frage, ob die Vererbung von sozialem Lernen eher konservatives oder innovatives Verhalten fördert, bzw. wann welches. Erforscht werden Fragen nach den Entwicklungsdimensionen: In welchem Alter sind innovative Verhaltensformen am wahrscheinlichsten? Bei welchem Geschlecht, sozialen Status bzw. ökologischen Stress? Welche Anforderungen gibt es an kognitive Mechanismen, die nicht nur die Ausbildung erlernter neuer Innovationen erlauben sondern auch zu ihrer funktionalen Organisation führen? [41] So muss die fertige Laube des Laubenvogels zuerst bei älteren Tieren abgeschaut, dann selbst gebaut werden, anschließend für die Werbung des Weibchens genutzt werden, um nach mehrjährigen Misserfolgen und erst mit zunehmend verbesserter Bautechnik zu dem "Ziel" zu gelangen, dass eine Laube von einem Weibchen auch angenommen wird[42].

Die Verwendung eines Stocks durch einen einzelnen Gorilla (Abb. 4) ist noch keine evolutionäre Innovation. Dafür ist der Nachweis zu erbringen, dass die Verhaltensform in das Repertoire der Population übernommen wird (s.o. Definition). Die Vererbung (Weitergabe) von Verhalten beschreiben Jablonka/Lamb[43]. Dabei wird das Erkennen kognitiver Fähigkeiten und Bereitschaftpotenziale erfordert, die sich wie oben gesagt, nicht losgelöst analysieren lassen. Tiere imitieren nicht in Art und im Umfang, wie Menschen imitieren, wie der US-amerikanische Anthropologe und Verhaltensforscher Michael Tomasello in vielen empirischen Studien belegen konnte[44]. Die Fähigkeit zu Imitation ist beim Menschen notwendig für die Entstehung von Kultur (s.u. Abschn. Kulturelle Evolution), Imitation kann demnach als eine menschliche Innovation gesehen werden. Tiere (Bsp. Laubenvogel) beobachten die Verhaltensprodukte und weniger die -prozesse erfahrener Tiere und entwickeln daraus ihr eigenes ähnliches Verhalten[42]. Mit dem Aufzeigen derartiger Verhaltensformen und -unterschiede ist nicht nachgewiesen, dass oder wie das jeweilige Verhalten evolutionär adaptiv wirkt und im darwinschen Sinn zur biologischen Fitness beiträgt. Die Eigenschaft von innovativen Verhaltensformen als evolutionär adaptiv ist wenig untersucht bei Tieren. Die Evo-Devo-Sichtweise, dass Innovation ein Produkt der Entwicklung ist, erzwingt analog zu dem in Kap. 6 gesagten auch bei innovativen Verhaltensweisen (novelties)nicht, dass ihre Entstehung im Organismus ein adaptiver Prozess ist. Den engen Zusammenhang von Entwicklung und Verhaltensänderung zeigt das Evo-Devo-Kapitel Ausgewählte empirische Forschungsergebnisse und dort der Abschnitt Belyaevs Zähmung von Silberfüchsen. Adaptives Verhalten ist jedoch Gegenstand der Theorie von Richerson/Boyd bei der Evolution der menschlichen Kultur[6].

Kultur als Innovation

Die Kulturfähigkeit des Menschen wird als Alleinstellungsmerkmal unserer Spezies gesehen. Sowohl Sprache als auch Kultur selbst gelten als evolutionäre Innovationen. Richerson/Boyd[6] beschreiben, wie Kultur evolutionär adaptiv entstehen kann. Es geht Richerson/Boyd nicht darum zu erklären, wie kulturelle Leistungen oder Produkte evolutionär entstanden sind wie etwa das Auto oder andere technische Errungenschaften. Das wäre Evolution in der Kultur. Die Autoren meinen aber Evolution der Kultur. Auf den Unterschied hat Karl Eibl hingewiesen[45].

Abb. 5 Das interaktive System kultureller Evolution. Richerson/Boyd erklären Kultur als Prozess komplexer Beziehungen von Genom/Epigenom, Umweltbedingungen, natürlicher Selektion und der adaptiven Kumulation von verebbarem Wissen.

Der Mensch ist zu kumulativer kultureller Evolution fähig. „Menschen können eine Innovation zu einer anderen hinzufügen, bis die Ergebnisse Organen mit extremer Perfektion ähneln wie etwa einem Auge“ [6]. Der Mensch kombiniert zweitens individuelles Lernen und soziales Lernen (Imitieren). Durch beide Lernformen kann Wissen akkumuliert werden. Erst durch selektives Lernen, das ist die Kombination der beiden Lernformen, entsteht aber drittens eine im evolutionären, darwinschen Sinn adaptive Akkumulation von Wissen. Lernen per se ist also nicht als adaptiv erkennbar. Selbst wenn durch individuelles oder schulisches Lernen Wissen ständig vermehrt und weitergegeben werden kann, dient das nach Richerson/Boyd nicht nachweisbar der Erhöhung der menschlichen Fitness. Das kann allein die Selektion leisten, die die jeweils besten Kombinationen aus beiden Lernformen selektiert.

Evolution durch Kultur definieren Richerson/Boyd wie folgt: „Unter kultureller Evolution verstehen wir Verhalten oder Artefakte, die über viele Generationen übermittelt und modifiziert werden und die zu komplexen Artefakten oder Verhalten führen“[6]. Durch Kultur verändert der Mensch seine eigenen Lebensbedingungen (Umwelt). Die veränderte Umwelt wirkt auch auf das Genom zurück. Somit verändert und gestaltet der Mensch durch sein eigenes Handeln auch sein Genom und damit seine morphologische und verhaltensseitige Evolution (s. Nischenkonstruktion). Beide Mechanismen sind dicht verwoben und lassen sich nicht voneinander trennen. Somit kommen die Autoren zum Ergebnis: "Adaption durch kumulative kulturelle Evolution ist kein Nebenprodukt der Intelligenz und des sozialen Lebens"[46].

Kultur ist in dem Sinne ein evolutionär adaptiver Prozess, als der Mensch durch selektives Lernen selbst entscheidet, ob er eher individuell oder eher durch Schule, Training etc. sozial lernt und so andere imitiert. Die Kombination der beiden Lernformen in der Interaktion von Mensch - Umwelt - Genom ist es, die im darwinschen Sinn nach Richerson/Boyd der Selektion unterliegen und die biologische Fitness des Menschen adaptiv verbessern kann. Temporäre Fehlanpassungen (maladaptions) wie Rückgang der Geburtenrate, Vernichtung der Regenwälder etc. können dabei nicht ausgeschlossen werden und widersprechen auch nicht dem Verständnis des darwinschen Evolutionsgedankens.

Abb. 6 Wurfspeer der Anazasi-Kultur. Bereits die Herstellung eines Speers wie diesem sowie seine geübte Handhabung verlangen in hohem Grad die Vererbung von kumuliertem Wissen aus individuellem und sozialem Lernen über viele Generationen. Der Schaft muss exakt gerade gezogen sein, eine behauene, schlanke Steinspitze muss haltbar montiert, Länge, Ausrichtung, Balance und Wurftechnik der Waffe geduldsam erprobt sein. Die evolutionären Voraussetzungen für solche innovativen kulturellen, menschlichen Leistungen sind in Abb. 5 und im Text beschrieben.

Siehe auch

Evolutionäre Entwicklungsbiologie

Evolution der Vogelfeder

Evolution des Insektenflügels

Einzelnachweise

  1. a b c d e f g Mueller, Gerd B. (2002): Novelty and Key Innovations. Innovation, side-effect hypothesis, incipient. In Max Page (Ed.) Encyclopdy of Evolution. Oxford Unviersity Press S. 827-830 Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag. Der Name „MUE-2002“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert.
  2. Pigliucci, Massimo & Müller, Gerd B. (Hg.) (2010) u. dort: Müller, G. B. Kap. 12 Epigenetic Innovation S. 311. MIT Press
  3. Pigliucci, Massimo (2008) What, if anything, Is an Evolutionary Novelty? Philosophy of Science 75 (Dec. 2008) S. 896
  4. a b Schaik, Carel van (2006): Die Evolution der Innovation.Technology Review-Archiv, 2/2006, Seite 88 Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag. Der Name „SCH-2006-A“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert.
  5. Carel van Schaik (2008): Gruppen machen schlau.DIE ZEIT, 06.11.2008 Nr. 46
  6. a b c d e Richerson, J.R. & Boyd, R. (2005): Not by Genes Alone. How Culture Tranformed Human Evolution. University of Chicago Press Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag. Der Name „RB-2005-1“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert.
  7. Pigliucci, Massimo (2008) What, if anything, Is an Evolutionary Novelty? Philosophy of Science 75 (Dec. 2008) S. 898
  8. Müller, Gerd B. & Newman, Stuart A. (2005): Innovation Triad. An EvoDevo Agenda. Journal of Experimental Zoology 304B S. 490
  9. Pigliucci, Massimo & Müller, Gerd B. (Hg.) (2010) Evolution - The Extended Synthesis u. dort: Müller, G.B. Kap. 12 Epigenetic Innovation S. 312 MIT Press
  10. West-Eberhard, Mary Jane (2003): Development Plastizity and Evolution. Oxford University Press S. 198
  11. Pigliucci, Massimo (2008): What, if Anything, Is an Evolutionary Novelty? Philosophy of Science Ass. S. 890
  12. Pigliucci, Massimo & Müller, Gerd B. (Hg.) (2010) Evolution - The Extended Synthesis u. dort: Müller, G. B. Kap. 12 Epigenetic Innovation S. 314ff MIT Press
  13. Pigliucci, Massimo & Müller, Gerd B. (Hg.) (2010) Evolution - The Extended Synthesis u. dort: Kap. 11 Newman, Stuart A.: Dynamic Patterning Modules.MIT Press S. 281ff
  14. Müller, G. & Newman S. the Innovation Triad. An Evo-Devo Agenda. in Journal of Experimental Zoology 304B: 387-503
  15. Pigliucci, Massimo & Müller, Gerd B. (Hg.) (2010): Evolution - The Extended Synthesis u. dort: Müller, G. B. Kap. 12 Epigenetic Innovation S. 314ff MIT Press
  16. Müller, Gerd B. u. Newman, Stuart A. (2005): The Innovation Triad. An EvoDevo Agenda in Journal of Experimental Zoology 304B S. 491
  17. West-Eberhard, M.J. (2003): Development Plastizity and Evolution. Oxford University Press S. 500ff
  18. Müller, Gerd B. u. Newman, Stuart A. (2005) S. 492
  19. West-Eberhard, M.J. (2003): Development Plastizity and Evolution. Oxford University Press S. 501
  20. Pigliucci, Massimo & Müller, Gerd B. (Ed.) (2010): Ecolution - The Extended Synthesis u. dort: Müller, G.B.: Epiegentic Innovation. MIT Press S.307
  21. Sentker, Andreas & Wigger, Frank (Hg.) (2008): Triebkraft Evolution - Vielfalt, Wandel und Menschwerdung. u. dort: Reichholf, Josef H.: Die Erfindung der Feder S.99ff
  22. Müller, Gerd B. u. Newman, Stuart A. (2005) S. 492
  23. Müller, Gerd B. u. Newman, Stuart A. (2005) S. 493
  24. Müller, Gerd B. u. Newman, Stuart A. (2005) S. 494
  25. Müller, Gerd B. u. Newman, Stuart A. (2005) S. 494
  26. West-Eberhard, M.J. (2003): Development Plastizity and Evolution. Oxford University Press S. 157
  27. Müller, Gerd B. u. Newman, Stuart A. (2005): S. 494
  28. Pigliucci, Massimo & Müller, Gerd B. (Hg.) (2010) Evolution - The Extended Synthesis u. dort: Müller, G. B.: Epigenetic Innovation S. 307-332 MIT Press
  29. Pigliucci, Massimo u. Müller, Gerd B. (Hg.) (2010): Evolution – The Extended Synthesis u. dort: Müller, G. B.: Epigenetic Innovation MIT Press S. 323
  30. Waddington, Conrad Hal (1942): Canalisation of development and the inheritance of acquired characters. In: Nature. Band 150, 1942, S. 563-56
  31. Müller, Gerd B. & Newman, Stuart A. (2005): Innovation Triad. An EvoDevo Agenda. Journal of Experimental Zoology 304B S. 493
  32. Müller, Gerd B. & Newman, Stuart A. (2005): Innovation Triad. An EvoDevo Agenda. Journal of Experimental Zoology 304B S. 494 mit Bez. auf Averof & Cohen 1997 u. Marden & Kramer 1994
  33. Gould, Stephen J. (1980, dt. 1987): Der Daumen des Panda – Betrachtungen zur Naturgeschichte. Suhrkamp TB Wissenschaft
  34. Müller, Gerd B. u. Newman, Stuart A. (2005) S. 497
  35. Vollmer, Gerhard: Wieso können wir die Welt erkennen? in Fischer, Peter & Wiegandt, Klaus (Hg.) (2003): Evolution. Geschichte und ZUkunft des Lebens. Fischer Taschenbuch S. 286.
  36. Jablonka, Eva & Avital, Eytan (2006): Animal Innovation: The Origins and Effects of New Learned Behaviours. Biology and Philosophy (2006) 21, S. 135; book review of: Animal Innovation (2003): Reader, S.M. & Laland, K.N. (eds.) (2003), Oxford University Press
  37. Reader, S.M. & Laland, K.N. (eds.) (2003): Reader, S.M. & Laland, K.N. (eds.) (2003): Animal Innovation (2003): Oxford University Press, zit. n: Jablonka, Eva & Avital, Eytan (2006) a.a.O. S. 136
  38. Jablonka, Eva & Avital, Eytan (2006): a.a O. S. 135
  39. Jablonka, Eva & Avital, Eytan (2006): a.a O. S. 138 mit Bezug auf Raeder/Laland Kap.2-4
  40. Jablonka, Eva & Avital, Eytan (2006): a.a O. S. 137
  41. Jablonka, Eva & Avital, Eytan (2006): a.a O. S. 139
  42. a b Jablonka, Eva & Lamb, Marion (2006): Evolution in Four Dimesions. Genetic, Epigenetic, Behavioral, and Symbolic Variation in the History of Life. MIT-Press S. 169
  43. Jablonka, Eva & Lamb, Marion (2006): Evolution in Four Dimesions. Genetic, Epigenetic, Behavioral, and Symbolic Variation in the History of Life. MIT-Press Kap. 5: The Behavioral Inheritance System, S. 155-191
  44. Tomasello, Michael (2007): The Chimpanzee Culture
  45. Eibl, Karl (2009) Kultur als Zwischenwelt. Eine evolutionsbiologische Perspektive. Suhrkamp. S. 99
  46. Richerson, J.R. & Boyd, R. (2005): Not by Genes Alone. How Culture Tranformed Human Evolution. University of Chicago Press. S. 109