Tauben im Gras
Tauben im Gras ist der erste Roman aus Wolfgang Koeppens Trilogie des Scheiterns. Marcel Reich-Ranicki nahm ihn in den 20 Bände umfassenden Kanon deutschsprachiger Romane auf. Tauben im Gras erschien 1951 und schildert einzelne, miteinander zunächst scheinbar nicht verwobene, auf 92 Blöcke aufgeteilte Episoden in einer nicht eindeutig erkennbaren Stadt der Nachkriegszeit. Im Verlauf des Romans wird jedoch deutlich, auf welche Weise die verschiedenen Blöcke und Handlungsstränge miteinander verknüpft sind.
Der Autor hatte eigentlich vor, den ganzen Roman ohne Punkte zu schreiben, um ihn noch mehr wie einen einzigen Gedanken erscheinen zu lassen. Doch dieses Stilmittel wurde ihm nicht gestattet. Dafür rang er dem Verlag eine Kompromiss-Interpunktion ab. Auch die Kompromiss-Fassung des Textes stellt ein Beispiel für den modernen Roman dar.
Die Lektüre fordert dem Leser einiges an Aufmerksamkeit ab, da in dem Text (typisch für die Montagetechnik) mit harten Schnitten gearbeitet wird, nach denen regelmäßig ein anderer Strang der Geschichte weitererzählt wird. Dem Ende eines Blocks folgt meistens eine Leerzeile. Außerdem erleichtert zumeist die schnelle Erwähnung von Signalwörtern, vor allem in Gestalt der handelnden Personen, aber auch von Gegenständen (zum Beispiel der „grünen Ampel“ an einer Kreuzung) die Orientierung. Zeitungsmeldungen, die in die Blöcke hineinmontiert sind, werden durchweg in Blockschrift gedruckt, „Blitzlichter“ wie die Nennung des im Hintergrund im Radio laufenden Musiktitels (zum Beispiel „Night and Day“) sind kursiv gedruckt.
Häufig wird der Roman München zugeschrieben, tatsächlich jedoch vermied es Koeppen absichtlich, einen Namen zu nennen oder die Stadt eindeutig zu beschreiben, um zu verdeutlichen, dass seine Geschichte in jeder Nachkriegsstadt mit dort stationierten Soldaten der US Army hätte stattfinden können. Klar identifizierbar hingegen ist der Zeitpunkt der Handlung: Diese muss sich vom Morgen bis zum Abend des 20. Februar 1951 abspielen; denn eine Zeitungsschlagzeile, die zitiert wird, lautet: „André Gide gestern verschieden!“.
Personen
Ein auffallendes Merkmal dieses Romans ist, dass es keinen dominierenden Protagonisten gibt. Stattdessen treten mehr als dreißig Personen in der Geschichte auf (Deutsche und US-Amerikaner; Männer, Frauen und Kinder; Hochgebildete und „Pöbel“). Nur wenige von ihnen sind aber tief entwickelte Charaktere.
Sieben Figuren spielen für die Handlung wichtige Rollen:
- Philipp, der frustrierte Schriftsteller, der sich nicht mehr ausdrücken kann. Er ist isoliert, wird als Außenseiter der Gesellschaft dargestellt und findet am Leben keine Freude mehr. Philipp kann sich nur schwer zum Handeln aufraffen, da er, ein moderner Hamlet, durch seinen Hang zur Grübelei daran gehindert wird. Philipp wird von vielen Kritikern als ein Selbstbildnis Koeppens betrachtet.
- Emilia, Philipps Ehefrau, war vor dem Krieg eine reiche Erbin; sie hat aber ihr ganzes mobiles Vermögen im Krieg verloren. Sie trinkt viel und gerät im Zustand der Alkoholisierung außer Kontrolle.
- Odysseus Cotton ist ein schwarzhäutiger Amerikaner, wohl ein Soldat, der als Tourist die Stadt besichtigen will. Er ist das Gegenbild zu Philipp: Er handelt, er bewegt sich und ist aktiv, und die wichtigsten Ereignisse im Roman haben mit ihm zu tun. Philipp und Odysseus treffen sich nie, weil sie verschiedenen Gesellschaftsschichten angehören. Odysseus verbringt die meiste Zeit mit
- Josef, dem Gepäckträger vom Bahnhof. Josef ist der einzige stabile Charakter im Buch: Er macht sich zwar noch Gedanken über seine Vergangenheit als Mitläufer während der NS-Zeit, aber das scheint ihn, den eher schlichten Dienstmann, in seinem praktischen Leben nur wenig zu beeinträchtigen. Am Ende wird er getötet, nachdem es zu einem Missverständnis zwischen ihm und Odysseus gekommen ist.
- Washington Price ist, wie Odysseus, schwarzhäutig, ein amerikanischer Soldat, der in der Stadt stationiert ist. Washington ist die einzige positiv geschilderte Figur in der Erzählung: Er ist ein Strahl der Hoffnung, der fest an die Verwirklichbarkeit seiner Träume von einer Welt ohne Rassendiskriminierung glaubt, in der „niemand unerwünscht“ ist.
- Carla, Washingtons deutsche Geliebte, wird, wie die meisten weiblichen Figuren in dem Roman, eher negativ beschrieben. Sie ist eine schwache Frau, die sich von Washington abhängig macht. Als sie Washingtons Kind abtreiben will, gelingt es Washington noch, die Abtreibung zu verhindern. Durch die bedingungslose Liebe von Seiten Washingtons kann Carla zunächst ihr Leben wieder in Ordnung bringen, bevor sie am Schluss zusammen mit Washington zum Opfer rassistischer Ausschreitungen wird.
- Mr. Edwin ist ein philosophisch veranlagter Dichter, der in die Stadt reist, um eine Rede zu halten. Mit seiner Rede möchte Edwin den europäischen Geist auf die Höhe der Zeit bringen; für sein Publikum ist sein Vortrag aber nur ein gesellschaftliches Ereignis. Edwin erkennt im Verlauf seiner Rede verbittert, dass sein Einfluss auf das Publikum eher gering ist. Einige Kritiker weisen darauf hin, dass das Vorbild für die Edwin-Figur T. S. Eliot sei.
All diese Figuren sind mit „Tauben im Gras“ vergleichbar: „Die Vögel sind zufällig hier, wir sind zufällig hier, und vielleicht waren auch die Nazis nur zufällig hier [...] vielleicht ist die Welt ein grausamer und dummer Zufall Gottes, keiner weiß warum wir hier sind.“ [1]
Inhalt
Der Filmschauspieler Alexander wird für die Produktion der Fernsehserie "Erzherzogliebe" angezogen, die den Zuschauern unter Leiden des Krieges Flucht bieten soll. Derweil wird seine Tochter Hillegonda von der Kinderfrau Emmi in die Kirche gebracht, um das Kind von den Sünden der Eltern zu befreien. Philipp, der zur Enttäuschung seiner Frau Emilia trotz des Auftrags von Alexander, ein Drehbuch zu schreiben, sich nicht schriftstellerisch tätig werden kann, hält mehrere Nächte in einem Hotel in der Fuchsstraße, wo sich auch sein Haus befindet. Die Kommerzienratserbin Emilia versorgt das Paar durch den Verkauf wertvoller Antiquitäten, die im zerstörten Haus übrig geblieben sind.
In der gleichen Straße befindet sich das Café Schön, der Treffpunkt US-amerikanischer schwarzer Soldaten wie Odysseus und Washington. Der Baseballspieler Washington hält eine treue Liebesbeziehung mit Carla, der Tochter der dazu kritisch äußernden Lebensmittelladenbesitzerin und Gattin des Obermusikmeisters Behrend. Unter den Kriegsgtrümmern spielen die Freunde des Sohnes der Witwe Carla - Bene, Kare, Schorschi, Sepp und Wiggerl - indem sie Soldaten der NS-Zeit nachspielen.
Den Vortrag Edwins, des bekannten US-amerikanischen Schriftstellers, wollen Dr. Behude, der Psychiater Philipps und Emiliae, Schauspielergattin Messalina mit Alexander aber auch Germanistikstudenten aus Boston hören. Philipp, der auf Empfehlung der geschäftstüchtigen Anne verschiedene Verdienstmöglichkeiten probiert, scheitert beim Verkauf von Patentklebern und übernimmt bei der Zeitung "Neues Blatt" den Auftrag, Edwin zu befragen.
Heinz, der Sohn Carlas, dessen Stolz auf den Reichtum und sportliche Begabung Washingtons regelmäßig von rassistischen Kommentaren Erwachsener zerstört wird, begegnet vor dem Bräuhaus gegenüber dem Café Schön Ezra, der Heinz mit der Eingeständnis seiner jüdischen Identität irritiert.
Beim Baseballspiel mit Washington, den Christopher mit Ezra besucht, beobachten auch Heinz mit seinen Freunden sowie Odysseus mit dem Dienstmann Josef. Um Carla vom gesellschaftlichen Druck zu entlasten, der sie zur Abtreibung des gemeinsamen Kindes treibt, macht Washington Gedanken über einen Umzug nach Paris, der ihr auch gut ankommt.
Einflüsse
Literarische Vorbilder, die Koeppen zu seinem Roman inspiriert haben, sind
- William Faulkner, Als ich im Sterben lag (Aufbau in Szenen und Abschnitten)
- James Joyce, Ulysses (Idee, einen einzigen Tag ausführlich zu beschreiben)
- John Dos Passos, Manhattan Transfer sowie Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz (Großstadtroman),
- Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz („Odysseus“-Motiv - der isolierte Einzelne irrt durch die Großstadt)
Einzelnachweise
- ↑ Wolfgang Koeppen, Tauben im Gras, Suhrkamp, ISBN 3-518-37101-0, Seite 171
Literatur
- Georg Bungter: Über Wolfgang Koeppens ‚Tauben im Gras‘. In: Zeitschrift für deutsche Philologie. 87 (1968), S. 535–545
- Irmgard Egger: Perspektive – Abgrund – Hintergrund: Giovanni Battista Piranesis ‚Carceri‘ bei Wolfgang Koeppen. In: Günter Häntzschel, Ulrike Leuschner (Hg.), Jahrbuch der Internationalen Koeppen-Gesellschaft 2. München 2003, ISSN 1617-7010, S. 29–50
- Albert Meier: Pessimismus von links. Wolfgang Koeppens ‚Tauben im Gras‘ im Kontext des bundesrepublikanischen und italienischen Nachkriegsromans. In: Günter Häntzschel, Ulrike Leuschner (Hg.), Jahrbuch der Internationalen Koeppen-Gesellschaft 2. München 2003, ISSN 1617-7010, S. 135–150
- Wolfgang Pütz: Wolfgang Koeppen: "Tauben im Gras". Lektüreschlüssel für Schülerinnen und Schüler. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2010, ISBN 978-3-15-015429-8
- Friedbert Stühler: Wolfgang Koeppen: „Tauben im Gras“. Der moderne deutsche Großstadtroman. Beyer Verlag, Hollfeld 2005, ISBN 3-88805-501-6
- Horst Grobe: Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras. Königs Erläuterungen und Materialien (Bd. 472). Hollfeld: Bange Verlag, 2010. ISBN 978-3-8044-1875-2
Weblinks
- Albert Meier: Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras (pdf), Zusammenfassung zur Vorlesung vom 18. Mai 2004, Quelle: Vorlesung Literatur des 20. Jahrhunderts, Universität Kiel, Sommersemester 2004 (118 kB)
- Nancy Thuleen: Sprache, Stil, und Thematik in Wolfgang Koeppens Tauben im Gras
- Robert Spielmann: Ausgewählte Sekundärliteratur zur Unterrichtsvorbereitung. Wolfgang Koeppen: Tauben im Gras