Vertrauensfrage
Die Vertrauensfrage ist ein politisches Instrument in vielen Demokratien. Die Regierung kann dem Parlament die Vertrauensfrage stellen, um festzustellen, ob es mit ihrer Haltung grundsätzlich noch übereinstimmt und gravierende Konflikte abklären. Ein negatives Ergebnis führt häufig zum Rücktritt der Regierung oder zu Neuwahlen.
In Deutschland spricht man von einer Vertrauensfrage im Sinne von Artikel 68 des Grundgesetzes, wenn der Bundeskanzler an den Bundestag den Antrag richtet, ihm das Vertrauen auszusprechen.
Der Unterschied zum konstruktiven Misstrauensvotum liegt darin, dass der Bundeskanzler selbst die Initiative ergreift und nicht vom Parlament gegen ihn vorgegangen wird. Er kann mit der Vertrauensfrage oder schon mit ihrer bloßen Androhung die ihn tragende Parlamentsmehrheit disziplinieren. Wird sie nicht positiv beantwortet, kann er dem Bundespräsidenten vorschlagen, den Bundestag aufzulösen.
Die Vertrauensfrage kann nicht beliebig zur Auflösung des Bundestages zum geeignet erscheinenden Zeitpunkt genutzt werden, vielmehr muss eine „echte“ Regierungskrise vorliegen. Das Bundesverfassungsgericht hat anlässlich einer Organklage 1983 dem Bundeskanzler und dem Bundespräsidenten in dieser Frage allerdings einen großen Beurteilungsspielraum zugebilligt. Ob die Auflösung des Bundestages nach der Vertrauensfrage im Jahr 2005 verfassungsgemäß ist, ist unter Verfassungsexperten umstritten. Das inzwischen angerufene Bundesverfassungsgericht wird sich erneut mit den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen befassen müssen.
Verfassungsrechtliche Grundlagen
Wortlaut
Artikel 68 lautet in der seit dem 23. Mai 1949 unveränderten Fassung des Grundgesetzes:
- Artikel 68
- (1) Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen. Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt.
- (2) Zwischen dem Antrag und der Abstimmung müssen achtundvierzig Stunden liegen.
Entstehung
Die Weimarer Verfassung von 1919 kannte weder eine Vertrauensfrage noch das konstruktive Misstrauensvotum. Vielmehr enthielt ihr Artikel 54 die Vorschrift, dass der Reichskanzler und die Reichsminister „zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags“ bedürfen. Sie mussten zurücktreten, wenn der Reichstag ihnen durch „ausdrücklichen Beschluß das Vertrauen entzog“. Darüber hinaus besaß der Reichspräsident bei der Ernennung des Reichskanzlers einen starken Einfluß, da er parallel zum Reichstag auch dessen Vertrauen benötigte. Dieses so genannte destruktive Misstrauensvotum ermöglichte es dem Reichstag, den Reichskanzler (oder einen Reichsminister) zur Amtsaufgabe zu zwingen, selbst wenn die das Mißtrauen aussprechende Parlamentsmehrheit keine gemeinsame Politik verband. Der Reichstag besaß jedoch damit im Gegensatz zum Bundestag ein indirektes Mitspracherecht, was die Zusammensetzung der Reichsregierung betraf. Das System war jedoch auch anfällig für Mißbrauch. Destruktive Mehrheiten konnten die Reichsregierung destabilisieren und ein kontinuierliches Regieren unmöglich machen. Es war eine der Ursachen, dass die Weimarer Koalition langfristig zerbrach und aus hier instabile Präsidialkabinette folgten.
Die Konstruktion der Artikel 67 und 68 des Grundgesetzes, also des konstruktiven Misstrauensvotums und der Vertrauensfrage, stärkt die Position des Regierungschefs und verringert die Möglichkeiten für politisch gegensätzliche Fraktionen, gemeinsam einen missliebigen Bundeskanzler aus dem Amt zu befördern. Gleichzeitig schwächt das Grundgesetz auch die Position des Bundespräsidenten zu Gunsten des Bundeskanzlers. Da die Bundesminister zu ihrer Amtsführung ausschließlich das Vertrauen des Bundeskanzlers bedürfen und weder durch den Bundespräsidenten noch durch den Bundestag ihre Ablösung durchgesetzt werden kann, ist der Bundeskanzler im politischen System der Bundesrepublik das zentrale politische Handlungsorgan. Der Bundeskanzler besitzt somit eine im Gegensatz zum Reichskanzler massiv gestärkte Position. Dennoch bleibt er über die Möglichkeit der Jederzeit möglichen Abwahl durch eine neu formierte Parlamentsmehrheit an das Parlament gebunden. Die Position des Bundespräsidenten ist hier weitaus schwächer, da der Reichspräsident den Reichskanzler und jeden seiner Minister in der Weimarer Republik jederzeit auch ohne Zustimmung des Parlaments entlassen konnte.
siehe auch: Selbstauflösungsrecht
Verfassungsrechtliche Problematik der Vertrauensfrage
Echte Vertrauensfrage
Gegen die Auflösung des Bundestages 1983 durch den Bundespräsidenten Karl Carstens nach der Vertrauensfrage Helmut Kohls hatten vier Mitglieder des Bundestages Organklage eingelegt, weil sie der Ansicht waren, dass Helmut Kohl sehr wohl das Vertrauen einer Mehrheit des Bundestages habe, aber in missbräuchlicher Weise Neuwahlen herbeiführen wolle. In seiner Entscheidung über die Organklage vom 16. Februar 1983 hat das Verfassungsgericht umfassend zum Instrument der Vertrauensfrage Stellung genommen (BVerfGE 62, 1). Es hat festgestellt, dass die Entscheidung des Bundespräsidenten über die Annahme oder Ablehnung des Vorschlages des Bundeskanzlers auf Auflösung des Bundestages „eine politische Leitentscheidung“ sei und seinem pflichtgemäßen Ermessen obliege (Punkt 2 des Tenors der Entscheidung). Dieses Ermessen sei nur dann eröffnet, wenn die übrigen Vorschriften des Grundgesetzes beachtet worden sind.
Im Sinne von Art. 68 GG sei Vertrauen nicht im umgangssprachlichen Sinne definiert, sondern als Zustimmung zu Person und Programm des Bundeskanzlers. Dies bedeute, dass der Bundeskanzler die Vertrauensfrage nur stellen dürfe, wenn er sich tatsächlich nicht mehr sicher sei, dass seine Politik von der Parlamentsmehrheit unterstützt wird. Dadurch muss seine Handlungsfähigkeit so stark beeinträchtigt sein, dass er „eine vom stetigen Vertrauen der Mehrheit getragene Politik nicht sinnvoll zu verfolgen vermag“ (Punkt 6 des Tenors der Entscheidung). Dies sei ein „ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal“ der Vorschrift – echte Vertrauensfrage.
Die Grundhaltung des Bundesverfassungsgerichtes brachte der Verfassungsrichter Rinck in seinem Sondervotum sehr pointiert zum Ausdruck, als er schrieb: „Finden setzt aber Suchen voraus.“ (BVerfGE 62, 1; Absatz 261). Er bezog sich damit auf den Wortlaut des Artikels 68, der mit den Worten „Findet der Antrag des Bundeskanzlers ...“ beginnt. Für das Bundesverfassungsgericht war jedoch entscheidend, dass das ursprüngliche Regierungsprogramm ausdrücklich befristet war und nicht alle Politikbereiche umfaßte. Dies gab letztlich auch den Ausschlag, dass es die Auflösungsentscheidung des Bundespräsidenten tolerierte. Da das Regierungsprogramm Kohls nur ein so genanntes "Notprogramm zu Bewältigung der dringendsten Probleme" war, nahm das Bundesverfassungsgericht an, dass die Gemeinsamkeiten dieser Koalition trotz des Willens zur Neubildung der Koalition nach einer Bundestagswahl am 6. März 1983 verbraucht waren.
Die Entscheidung des Verfassungsgerichts, das im konkreten Fall mehrheitlich das Suchen als gegeben ansah und die Verfassungsmäßigkeit der Auflösung des Bundestags somit im Ergebnis bejahte, war umstritten, auch innerhalb des Gerichtes. Zwei der acht Richter stimmten der Entscheidung im Ergebnis nicht zu. Diese Richter werteten insbesondere die so deutliche negative Beantwortung der Vertrauensfrage (mit 8 zu 489 Stimmen) als Zeichen für die offensichtliche Absprache mit dem Ziel der vorzeitigen Herbeiführung von Neuwahlen. Sie verneinten damit die Ansicht, dass die Enthaltung der Abgeordneten von CDU/CSU und FDP ähnlich wie die Nichtteilnahme der Bundesminister bei der Vertrauensfrage Brandts 1972 nur zur Sicherstellung der nicht positiven Beantwortung diente. Sie untermauerten ihr Sondervotum auch damit, dass noch am Tag vor der Abstimmung über die Vertrauensfrage der Haushalt für das Jahr 1983, die Grundlage für die Politik der Bundesregierung, mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP verabschiedet worden war.
Normative Parlamentsperiode (Art. 39 GG) und unechte Vertrauensfrage
Nach Art. 39 GG beträgt die Parlamentsperiode 4 Jahre. Die Regierung hat hierbei keine Gestaltungsmöglichkeiten.
Der Bundeskanzler darf die Vertrauensfrage also nicht mit dem Ziel stellen, sie negativ beantwortet zu bekommen, damit er zum seiner Ansicht nach geeigneten Zeitpunkt Neuwahlen vorschlagen kann, sofern er insgesamt noch mit der Zustimmung der Mehrheit des Bundestages zu seiner Politik rechnen kann (unechte Vertrauensfrage).
Somit ist - wenn auch in wechselseitigen Grenzen - ein gewisser Vorrang der Parlamentsperiode vor den Regierungsinteressen gegeben. Denn ein tragendes Prinzip der Demokratie ist die Macht auf Zeit. Nach den Wertentscheidungen des Grundgesetzes soll der Bundestag möglichst die gesamte Legislaturperiode über Bestand haben, gleich welche Regierung von ihm getragen wird. Dieses Stabilitäts- und Kontinuitätssystem zwischen Regierung und Parlament legt nahe, dass die politische Krise eines bestimmten Regierungsprogramms oder eines bestimmten Kanzlers nicht das Ende des Parlaments als Regelfall nach sich ziehen soll. Hier besteht ein Wechselverhältnis zwischen unsicheren Parlamentsmehrheiten und Regierung bzw. zwischen der Suche nach einem neuen Kanzler mittels Misstrauensvotums und Parlamentsauflösung über die Vertrauensfrage. Das BVerfG unterstrich in seiner Entscheidung, dass Art. 68 GG nicht nur für den Minderheitskanzler gelte, sondern für jede Regierung. Daher könne es erst nach einer abgestuften Gesamtschau der politischen Situation dazu kommen, dass von den Verfassungsorganen im Sinne der oben genannten Maßstäbe der Zweck der Verfassungsnorm, namentlich die Wiederherstellung und Festigung der hinreichenden parlamentarischena Regierungsunterstützung, nur durch Neuwahlen zu erreichen sei.
Insofern deutet das Verfassungsgericht an, dass in engen Grenzen auch die unechte Vertrauensfrage zu einer verfassungsgemäßen Parlamentsauflösung führen könnte.
Äquivalenzformel (Legalität ist gleich Legitimität)
In seiner Entscheidung zur Vertrauensfrage konkretisierte das BVerfG einen wichtigen Grundsatz im Zusammenhang mit dem konstruktiven Misstrauensvotum: Legalität ist gleich Legitimität.
Im Falle Helmut Kohls hat das BVerfG am oben angeführten Maßstab die Rechtmäßigkeit der Parlamentsauflösung bejaht, da er wegen des Bruchs der sozial-liberalen Koalition in den Reihen der FDP wechselnde bzw. unsichere Mehrheiten habe befürchten müssen. Damit hing das Argument der Regierung zusammen, ein durch konstruktives Misstrauensvotum neu kreierter Kanzler bedürfe der neuen demokratischen Legitimation durch Wahlen. Das Gericht lehnte diese Ansicht ab mit der Formel parlamentarischer Äquivalenz („Legalität ist gleich Legitimität“) und unterstrich den normativen Wert der vierjährigen Parlamentsperiode (Art. 39 GG), wonach der Bundestag grundsätzlich 4 Jahre lang amtieren soll.
Verknüpfung der Vertrauensfrage mit einer Sachfrage
Der Bundeskanzler kann die Vertrauensfrage nach Artikel 81 Absatz 1 des Grundgesetzes auch mit einem Gesetzentwurf oder wie Gerhard Schröder 2001 mit einem sonstigen Sachantrag bzw. schlichtem Parlamentsbeschluss verbinden.
Notwendig ist dies von Verfassungs wegen nicht. Eine solche Verknüpfung hat dennoch zwei Funktionen:
- Disziplinierungsfunktion: Die Regierung kann die sie stützenden Parlamentsfraktionen in einer wichtigen Sachkontroverse wieder hinter sich vereinen, indem sie durch ein solches Junktim klar stellt, dass sie eine bestimmte Sachposition zum unerlässlichen Kern ihrer Regierungsarbeit macht und nur so den Regierungsauftrag weiter wahrnehmen will.
- Prozessuale Funktion: Im Sinne der genannten Grundsätze kann der Kanzler gegenüber anderen Verfassungsorganen (Bundespräsident und BVerfG) darlegen, dass er in einer Kernfrage seiner Regierungspolitik keine parlamentarische Unterstützung mehr findet und sich im Sinne eben dieses zentralen Regierungsprogramms handlungsunfähig sieht.
Frist
Die vorgeschriebene Frist von 48 Stunden dient dazu, jedem Abgeordneten die Teilnahme an dieser wichtigen Abstimmung zu ermöglichen.
Rechtsfolgen
Mit einer positiven Antwort auf die Vertrauensfrage signalisiert der Bundestag, dass er weiterhin Vertrauen in den Bundeskanzler hat. In diesem Fall treten keine Rechtsfolgen ein.
Bei jeder anderen Beantwortung der Vertrauensfrage hat der Bundeskanzler drei Möglichkeiten:
- Er ist nach der negativen Beantwortung der Vertrauensfrage nicht gezwungen, weitere Schritte zu unternehmen. Er kann beispielsweise versuchen, als Bundeskanzler einer Minderheitsregierung weiterzuarbeiten. Ebenso kann er versuchen, durch Wechsel des Koalitionspartners oder durch Hinzunahme eines weiteren Partners eine neue Regierung mit einer tragfähigen Mehrheit zu bilden. Ferner kann er zurücktreten. Auch wenn die beiden letzten Möglichkeiten eine große verfassungsrechtliche Relevanz haben, so sind sie nicht von einer negativen Beantwortung der Vertrauensfrage abhängig, vielmehr stehen sie ihm zu jedem beliebigen Zeitpunkt offen.
- Die zweite Möglichkeit des Bundeskanzlers ist, den Bundespräsidenten um die Auflösung des Bundestages zu bitten. Dem Bundespräsidenten werden in diesem Falle wichtige politische Rechte übertragen, die er nur in solchen Ausnahmesituationen ausüben kann. Er hat die Möglichkeit, dem Ersuchen des Bundeskanzlers nachzugeben oder das Ersuchen abzulehnen. Die Auflösung des Bundestags muss binnen einundzwanzig Tagen erfolgen. Das Ersuchen des Bundeskanzlers kann bis zur Entscheidung des Bundespräsidenten zurückgezogen werden. Sofern der Bundestag bereits einen neuen Bundeskanzler gewählt hat, ist die Auflösung des Bundestags unzulässig.
- Die dritte Möglichkeit, die sich für den Bundeskanzler ergibt, ist die Beantragung des Gesetzgebungsnotstandes beim Bundespräsidenten. Um den Gesetzgebungsnotstand zu erklären, ist der Bundespräsident auf die Zustimmung eines vierten Verfassungsorgans, des Bundesrats, angewiesen. Zusätzliche Bedingung ist dabei, dass der Bundestag nicht aufgelöst sein darf.
In keinem Fall kann der Bundeskanzler selbstständig eine Entscheidung treffen, die in die Befugnisse anderer Verfassungsorgane als die der Bundesregierung eingreift.
Weitere Formalia
Die Vertrauensfrage ist verfassungsrechtlich ein Instrument, welches einzig dem Bundeskanzler zusteht. Weder kann ein Bundesminister die Vertrauensfrage stellen noch der stellvertretende Bundeskanzler für den Bundeskanzler.
Verfassungsrechtlich ebenfalls nicht verankert ist die Aufforderung des Bundestages an den Bundeskanzler, die Vertrauensfrage zu stellen. Eine solche Aufforderung, wie sie die SPD 1966 nach dem Zerfall der Regierung Erhard, aber noch vor Erhards Rücktritt dem Bundestag vorlegte, war rechtlich nicht bindend und damit verfassungsrechtlich unbeachtlich. Erhard kam diesem „Ersuchen“ tatsächlich nicht nach.
Politische Wirkung
Die starke Position des Bundeskanzlers im politischen System der Bundesrepublik hängt auch damit zusammen, dass es zu seinem Sturz die Bildung einer neuen Koalition bedarf. Dies kann einerseits durch Zusammenarbeit von bisherigen Koalitionären mit (Teilen) der Opposition geschehen oder durch den Übertritt einzelner Koalitionsabgeordneter zur Opposition, wie dies beim Konstruktiven Mißtrauensvotum 1972 die Voraussetzung war.
Der Bundeskanzler kann mit dem Stellen der Vertrauensfrage bzw. sogar schon mit ihrer Androhung politische Abweichler in der ihn tragenden Koalition disziplinieren (vgl. Bundeskanzler Schmidt 1982 und Bundeskanzler Schröder 2001): Er stellt sie ultimativ vor die Frage, ob sie alles in allem doch noch bereit sind, seine Politik mitzutragen, oder aber ob sie – sofern der Bundespräsident im Sinne des Bundeskanzlers entscheidet – für den zumindest vorläufigen Bruch der Regierung und ihrer Mehrheit verantwortlich sein wollen. Sie müssen sich fragen, ob sie bei der im Falle der negativen Beantwortung der Vertrauensfrage drohenden Neuwahl des Bundestages Chancen haben, wiedergewählt zu werden, oder ob die Parteimitglieder, die sie wieder nominieren müssen, beziehungsweise die Wähler ihr Verhalten als „Verrat“ an der Regierungsmacht betrachten und sie übergehen werden. Auch die Möglichkeit, dass ihre Partei bei einer Neuwahl die Regierungsgewalt verliert, muss in die Überlegungen einbezogen werden.
Besondere Brisanz erhält die Vertrauensfrage, wenn sie mit einer Sachentscheidung (Gesetzentwurf oder einem anderen Sachantrag) verbunden ist: Eventuelle Abweichler müssen abwägen, ob sie faktisch die Gesamtpolitik des Bundeskanzlers ablehnen und Neuwahlen oder die Ausrufung des Gesetzgebungsnotstandes und damit die befristete Entmachtung des Bundestages auslösen wollen oder ob sie in Anbetracht dieser Alternativen bereit sind, eine aus ihrer Sicht ablehnungswürdige Sache doch mitzutragen.
Im Vorfeld der ersten tatsächlichen Verbindung der Vertrauensfrage mit einem Sachantrag im November 2001 wurde von publizistischer Seite bezweifelt, dass diese Art der Druckausübung auf Abgeordnete (politisch) zulässig sei. Auf diese Weise würden zwei nicht unmittelbar miteinander zusammenhängende Entscheidungen verknüpft; es entstünde ein Dilemma für diejenigen Abgeordneten, die auf diese Fragen verschiedene Antworten geben wollten. Dem wurde entgegnet, dass zumindest die Verknüpfung der Vertrauensfrage mit einem Gesetzentwurf im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen sei und dass eine Verknüpfung mit einem Sachantrag dann erst recht zulässig sei; der auf die Abgeordneten ausgeübte Druck sei von den Verfassern des Grundgesetzes so gewollt.
Geschichte der Vertrauensfrage in der Bundesrepublik
Übersicht
Überblick über die Vertrauensfragen | |||||||
Datum | Bundeskanzler (Partei) | Ja | Nein | Enthaltung | abwesend/ungültig | Vertrauen ausgesprochen? | Folge |
---|---|---|---|---|---|---|---|
22. September 1972 | Willy Brandt (SPD) | 233 | 248 | 1 | 14 | nein | Auflösung des Bundestages |
5. Februar 1982 | Helmut Schmidt (SPD) | 269 | 225 | 0 | 3 | ja | |
17. Dezember 1982 | Helmut Kohl (CDU) | 8 | 218 | 248 | 23 | nein | Auflösung des Bundestages |
16. November 2001 | Gerhard Schröder (SPD) | 336 | 326 | 0 | 4 | ja | |
1. Juli 2005 | Gerhard Schröder (SPD) | 151 | 296 | 148 | 5 | nein | Auflösung des Bundestages angeordnet |
Willy Brandt 1972
4. Bundeskanzler (1969-1974)
Die von Willy Brandt maßgeblich beförderten Ostverträge, die die Aussöhnung mit Polen und der Sowjetunion enthielten, waren zwischen 1970 und 1972 auf heftige Kritik der Vertriebenenverbände und der CDU/CSU gestoßen. Besonders die faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze verstieß nach Meinung der Kritiker gegen das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes.
Seit 1970 waren Abgeordnete aus den Regierungsfraktionen von SPD und FDP zur Union gestoßen (beispielsweise der Vertriebenenfunktionär Herbert Hupka, vorher SPD). Schließlich glaubte der Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion, Rainer Barzel, eine Mehrheit für ein konstruktives Misstrauensvotum zu haben. Der von seiner Fraktion als neuer Bundeskanzler vorgeschlagene Barzel erhielt aber nur 247 Stimmen von 496 Abgeordneten, zwei Stimmen weniger als notwendig, und scheiterte. Nach dem Zerfall der DDR 1990 stellte sich heraus, dass die Gerüchte, die Staatssicherheit der DDR (Stasi) habe zwei Abgeordnete bestochen, um Barzels Wahl zum Bundeskanzler zu verhindern, stimmten. Andererseits gab es auch Gerüchte, dass die Abweichler der FDP vor der Abstimmung mit Geld zu Barzel gezogen worden seien. Insgesamt gab es nach der Abstimmung über das konstruktive Misstrauensvotum auf beiden Seiten Zweifel an der Loyalität einiger Abgeordneter zu ihren jeweiligen Lagern.
Somit bestand weiterhin ein parlamentarisches Patt zwischen den verbliebenen Brandt-Unterstützern in SPD und FDP einerseits und der CDU/CSU mit den Überläufern andererseits. Da eine Selbstauflösung des Bundestages verfassungsrechtlich nicht vorgesehen war und ist, stellte Brandt am 20. September 1972 die Vertrauensfrage.
In der Abstimmung am 22. September 1972 wurde Brandt das Vertrauen nicht ausgesprochen, da die Mitglieder der Bundesregierung nicht daran teilnahmen. Es handelte sich wegen der bewussten Herbeiführung der Niederlage um eine „unechte Vertrauensfrage“ (s.o.). Dennoch entsprach die Situation recht genau derjenigen, die vom Bundesverfassungsgericht zehneinhalb Jahre später dargestellt wurde: Brandt konnte sich seiner Mehrheit nicht mehr sicher sein. Es hatte vorher eine Niederlage bei der Verabschiedung des Bundeshaushaltes gegeben. Das Fernbleiben der Bundesminister bei der Vertrauensfrage war nur als Sicherstellung der Abstimmungsniederlage zu verstehen.
Bereits einen Tag später, am 23. September 1972, löste Bundespräsident Gustav Heinemann den Bundestag auf. Die Bundestagswahl 1972 am 19. November bestätigte Brandts Koalition aus SPD und FDP deutlich: Erstmals wurde die SPD stärkste Fraktion im Bundestag. Es kann mit unterschiedlichem Ausgang darüber diskutiert werden, ob die Vorgänge im Bundestag mit dem Wahlausgang zu tun haben; in Betracht zu ziehen ist auch der damalige gesellschaftlich-kulturelle Trend und Brandts Versprechen von Reformen.
Helmut Schmidt 1982

5. Bundeskanzler (1974-1982)
Nachdem es in der seit 1969 regierenden Koalition aus SPD und FDP große Spannungen über den Bundeshaushalt 1982 gab, entschied sich Bundeskanzler Helmut Schmidt am 3. Februar 1982, die Vertrauensfrage zu stellen. Ihren Kristallisationspunkt fanden die Diskussion in der Sozialpolitik, und besonders innerhalb der SPD-Fraktion herrschten Diskussionen über den NATO-Doppelbeschluss vor.
In der Abstimmung am 5. Februar 1982 erhielt Schmidt ein positives Vertrauensvotum vom Parlament. Dennoch verschärften sich in der Folgezeit die innerparteilichen Streitigkeiten und auch die Unterschiede zur FDP. Trotz einer Kabinettsumbildung führte der Konflikt über den Bundeshaushalt 1983 schließlich zum Bruch der Koalition: Am 17. September 1982 erklärten die FDP-Minister ihren Rücktritt, am 1. Oktober wurde Bundeskanzler Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum von CDU/CSU und FDP gestürzt und Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt.
Helmut Kohl 1982
6. Bundeskanzler (1982-1998)
Bereits während der Koalitionsverhandlungen mit der FDP hatte Helmut Kohl den 6. März 1983 als Neuwahltermin in Aussicht gestellt. Da der Wiedereinzug der FDP in den Bundestag aufgrund interner Querelen und einer massiven Wahlniederlage in Hessen am 26. September 1982 gefährdet gewesen wäre, musste eine gewisse Zeitspanne zwischen Misstrauensvotum und Neuwahlen eintreten.
Dies wäre möglich gewesen, indem Kohl als Bundeskanzler zurückgetreten wäre; anschließend hätten Bundeskanzlerneuwahlen nach Artikel 63 des Grundgesetzes stattfinden müssen. Wären diese (absichtlich oder nicht) gescheitert, hätte Bundespräsident Karl Carstens den Bundestag ebenfalls auflösen können. Da Helmut Kohl aber mutmaßlich den Amtsbonus des Bundeskanzlers in den Bundestagswahlkampf mitnehmen wollte, kam für ihn diese Lösung nicht in Frage.
Über die Vertrauensfrage stimmte das Parlament am 17. Dezember 1982 ab. Obwohl erst am Tag zuvor der gemeinsame Bundeshaushalt für 1983 beschlossen worden war, sprach das Parlament dem Kanzler das Vertrauen nicht aus. Der Kabarettist Dieter Hildebrandt sprach damals bitter von einer „bemerkenswerten schauspielerischen Leistung des Parlaments“.
Nach heftigen Diskussionen über die Verfassungsmäßigkeit des Vorganges entschied sich der Bundespräsident am 7. Januar 1983 dafür, die Auflösung des Bundestages anzuordnen und Neuwahlen für den 6. März 1983 auszuschreiben. Das im Zuge dieser Diskussion angerufene Bundesverfassungsgericht konkretisierte in der Entscheidung BVerfGE 62, 1 die oben erwähnten Grundsätze, entschied sich dennoch dagegen, die Anordnung des Bundespräsidenten aufzuheben. Bundespräsident Carstens hatte offen erklärt, er werde zurücktreten, wenn das Verfassungsgericht die Parlamentsauflösung aufhebt. In der ebenfalls umstrittenen Urteilsbegründung führten die Verfassungsrichter aus, dass aufgrund der Absprache mit der FDP über die Herbeiführung einer baldigen Neuwahl Bundeskanzler Kohl tatsächlich nicht mehr auf das Vertrauen der FDP-Bundestagsabgeordneten zählen konnte und das Verhalten daher verfassungsgemäß gewesen sei.
Die Bundestagswahlen vom 6. März 1983 konnte die CDU/CSU klar für sich entscheiden, die FDP blieb trotz innerparteilicher Auseinandersetzungen und schwerer Verluste Koalitionspartner.
Gerhard Schröder 2001

7. Bundeskanzler (seit 1998 im Amt)
Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder den angegriffenen Vereinigten Staaten noch am selben Tag „bedingungslose Solidarität“ versichert. Da die Ausbildung der Terroristen nach Angaben der USA maßgeblich im von den Taliban beherrschten Afghanistan stattgefunden hatte, forderte der UN-Sicherheitsrat die Auslieferung der al quida-Terroristen und autorisierte, nachdem die Taliban dieser Forderung nicht nachgekommen waren, militärische Zwangsmaßnahmen gegen das Regime. Diese fanden schließlich im November 2001 unter Führung der USA statt und führten zum Sturz der Taliban. Da auch die NATO den Bündnisfall festgestellt hatte, sollte sich die Bundesrepublik mit der Bundeswehr an diesem Krieg beteiligen. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1994 ("AWACS I") bedarf jeder Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes der Zustimmung des Bundestages. Innerhalb der Koalition aus SPD und Bündnis '90/DIE GRÜNEN kündigten einige Abgeordnete an, ihre Zustimmung zu verweigern. Obwohl durch die Unterstützung von CDU/CSU und FDP eine breite parlamentarische Mehrheit des Bundestages für den Einsatz der Bundeswehr sicher gewesen wäre, entschied sich Bundeskanzler Schröder, am 16. November 2001 die Vertrauensfrage mit der Abstimmung über die Beteiligung der Bundeswehr am Krieg in Afghanistan zu verbinden (sog. verbundener Vertrauensantrag). In seiner Erklärung machte er deutlich, dass zwar einerseits eine breite parlamentarische Mehrheit wichtig ist und auch international wahrgenommen wird, er es jedoch als unerlässlich ansieht, dass er sich in einer so essentiellen politischen Entscheidung auf eine Mehrheit der ihn tragenden Koalition stützen müsse.
CDU/CSU und FDP lehnten es ab, dem Bundeskanzler das Vertrauen auszusprechen und votierten daher gegen den verbundenen Antrag. Die Abgeordneten von SPD und Grünen stimmten mehrheitlich für den Antrag. Acht Grüne, die ursprünglich gegen den Einsatz der Bundeswehr stimmen wollten, teilten ihre Stimmen in vier Ja- und vier Nein-Stimmen auf. Damit wollten sie die Ambivalenz ihrer Stimmabgabe ausdrücken: Einerseits unterstützten sie die Gesamtpolitik der Koalition, andererseits waren sie gegen den Bundeswehreinsatz. Außerdem wäre wegen der Abwesenheit einiger CDU/CSU-Abgeordneter eine einfache Mehrheit für den Sachantrag ohnehin gesichert gewesen: Die acht Abgeordneten hätten bei gemeinsamer Ablehnung zwar die Bundesregierung gestürzt, den von ihnen abgelehnten Einsatz der Bundeswehr aber nicht verhindert. Aufgrund dieser Aufteilung erhielt der Antrag des Bundeskanzlers insgesamt 336 bei 334 benötigten Stimmen und 326 Gegenstimmen. Dem Bundeskanzler war damit knapp das Vertrauen ausgesprochen worden. Es entwickelten sich bei den Grünen eine heftige Diskussionen innerhalb der Partei, die relativ schnell abebbte.
Im Vorfeld dieser Vertrauensfrage beschäftigte sich der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages mit dem Problem der gespaltenen Mehrheit: Während zur positiven Beantwortung der Vertrauensfrage nur eine absolute Mehrheit der Mitglieder des Bundestages ausreicht, genügt zur Annahme einer Sachentscheidung bereits die einfache Mehrheit. Es hätte also dazu kommen können, dass zwar dem Bundeskanzler das Vertrauen nicht positiv ausgesprochen wird, aber gleichzeitig eine Sachentscheidung in seinem Sinne getroffen wird. Bundestagspräsident Thierse hat sich offenbar in Übereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages zu Gunsten dieser unterschiedlichen Zählung der Mehrheit entschieden.
Gerhard Schröder 2005
Nachdem am 22. Mai 2005 bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2005 die letzte rot-grüne Koalition auf Landesebene abgewählt worden war, kündigte Bundeskanzler Gerhard Schröder noch am Wahlabend an, die Vertrauensfrage zu stellen, um die vorzeitige Auflösung des Bundestages und im Herbst 2005 vorgezogene Bundestagswahlen zu erreichen. Am 27. Juni 2005 übermittelte der Bundeskanzler dem Bundestag seinen Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen (BT-Drs. 15/5825).
Der Abstimmung ging eine Debatte voraus, in der der Kanzler seinen Antrag mit mangelnder Handlungsfähigkeit seiner Regierung und dem SPD-internen Konflikt rund um die Reformagenda 2010 begründete. Er könne sich einer "stabilen Mehrheit des Bundestages" nicht mehr sicher sein. Die Oppositionspolitiker Angela Merkel (CDU) und Guido Westerwelle (FDP) beglückwünschten den Kanzler zu seiner Entscheidung und bekundeten ihren Respekt. In der bereits stark vom beginnenden Wahlkampf geprägten Sitzung setzte der Grünen-Politiker Werner Schulz den Schlusspunkt, als er ankündigte, bei einer Auflösung des Bundestages vor dem Bundesverfassungsgericht zu klagen. Er bezeichnete die Vertrauensfrage als "inszeniertes, absurdes Geschehen" und sah den Bundestag durch die Bundesregierung ähnlich instrumentalisiert wie die Volkskammer der DDR durch die SED-Führung.
Der Bundeskanzler suchte am selben Tag Bundespräsident Horst Köhler auf und schlug die Auflösung des Bundestages vor. Dem kam der Bundespräsident am 21. Juli 2005 nach: Er löste den 15. Deutschen Bundestag auf und ordnete Neuwahlen für den 18. September 2005 an. Er begründete seine Entscheidung in einer Fernsehansprache: Der Bundeskanzler habe ihm dargelegt, dass er sich nicht mehr auf die stetige Unterstützung des Bundestages für seine Reformpolitik verlassen könne. Der Bundespräsident erklärte - eine Formulierung des Bundesverfassungsgerichts aufgreifend - hierzu, dass er nicht erkennen könne, dass eine andere Einschätzung der Lage der des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen sei. Er müsse die Beurteilung des Bundeskanzlers daher seiner Entscheidung zugrunde legen. Seine Ermessensentscheidung für eine Auflösung des Bundestages begründete Köhler damit, dass Deutschland angesichts der großen Herausforderungen, vor denen das Land stehe, Neuwahlen brauche.
Im Fernsehen und in Zeitungen haben viele Staatsrechtswissenschaftler zur Frage Stellung genommen, ob die Entscheidung des Bundespräsidenten verfassungsgemäß ist. Eine knappe Mehrheit hält die Auflösung für verfassungskonform, doch wird auch in diesem Lager das Vorgehen des Bundeskanzlers und des Bundespräsidenten häufig sehr kritisch beurteilt.
Gegen die Auflösungsanordnung hat die SPD-Abgeordnete Jelena Hoffmann am 29. Juli 2005 ein Organstreitverfahren beim Bundesverfassungsgericht gegen den Bundespräsidenten eingeleitet (Aktenzeichen: 2 BvE 4/05). Der Abgeordnete Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) hat ebenfalls ein solches Verfahren angekündigt. Sein Antrag soll dem Bundesverfassungsgericht am 1. August 2005 zugeleitet werden. Am 29. Juli 2005 teilte das Bundesverfassungsgericht mit, dass der zuständige Zweite Senat in diesen Verfahren am 9. August 2005 ab 10.00 Uhr eine mündliche Verhandlung durchführen wird. Berichterstatter in dem Verfahren ist der als sehr konservativ geltende Richter Udo Di Fabio. Die Antragsteller halten die von Schröder gestellte Vertrauensfrage für "unecht", so dass die Voraussetzungen zur Auflösung des Bundestages ihrer Ansicht nach nicht gegeben sind. Bundespräsident Horst Köhler hat erklärt, dass er - anders als Karl Carstens im Jahr 1983 - nicht zurücktreten werde, falls das Bundesverfassungsgericht seine Auflösungsentscheidung für verfassungswidrig erklären sollte.
Auch einige Kleinstparteien haben Organstreitverfahren eingeleitet; ihr Ziel ist aber in erster Linie, die Zulassungsvoraussetzung für die Wahlen (insbesondere die Unterschriftenquoren) zu reduzieren und so trotz der drastisch verkürzten Fristen für die Erbringung der Zulassungsvoraussetzungen an den Bundestagswahlen teilnehmen zu können. Soweit sich die Kleinstparteien gegen die Auflösung des Bundestages als solche wenden sollten, wären die Anträge nach Ansicht von Verfassungsexperten völlig chancenlos.
Nationaler und internationaler Vergleich
Länder der Bundesrepublik Deutschland
Das Misstrauensvotum ist in nahezu allen Landesverfassungen verankert, nur Bayern kennt es nicht: Hier muss der Ministerpräsident zurücktreten, „wenn die politischen Verhältnisse ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen ihm und dem Landtag unmöglich machen“ (Artikel 44 Absatz 3 der Bayerischen Verfassung). Ein konstruktives Misstrauensvotum ähnlich dem des Grundgesetzes ist üblich, es gibt aber in einigen Ländern die zeitliche Trennung zwischen Abwahl und Neuwahl (Berlin 21 Tage, Bremen, Hessen 12 Tage, Rheinland-Pfalz vier Wochen, Saarland vier Wochen). Findet nach der Abwahl innerhalb der Frist keine Neuwahl statt, wird in einigen Fällen der Landtag aufgelöst, in den anderen (Berlin und Bremen) wird das Misstrauensvotum ungültig.
Dem gegenüber ist die Vertrauensfrage als formales Instrument nicht so weit verbreitet: Brandenburg, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, das Saarland, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben sie im Verfassungstext erwähnt. Allen gemeinsam ist, dass die verfassungsrechtlichen Konsequenzen seitens des Ministerpräsidenten oder der Landesregierung enden, sobald der Landtag eine neue Regierung gewählt hat.
Brandenburg kennt ein ähnliches Verfahren wie das Grundgesetz: Binnen 20 Tagen nach der negativen Beantwortung kann sich der Landtag selbst auflösen, danach hat der Ministerpräsident weitere 20 Tage zur Auflösung.
Für Hamburg gilt, dass die Bürgerschaft sich binnen drei Monaten selbst auflösen kann oder nachträglich das Vertrauen aussprechen kann. Gibt es auch keine Neuwahl eines Senates, so kann der Senat innerhalb von zwei Wochen seinerseits die Bürgerschaft auflösen.
In Hessen endet die Regierung mit der negativen Beantwortung der Vertrauensfrage. Der Landtag wird nach 12 Tagen aufgelöst, wenn keine Neuwahl stattfindet. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch stellte am 12. September 2000 im Zusammenhang mit der CDU-Spendenaffäre die Vertrauensfrage. In namentlicher, also nichtgeheimer Abstimmung erhielt er alle 56 Stimmen seiner Koalition aus CDU und FDP. Ein ähnliches Verfahren wie in Hessen gilt auch im Saarland; hier beträgt die Frist drei Monate.
In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt kann das Parlament binnen zwei Wochen nach der negativen Beantwortung der Vertrauensfrage auf Antrag des Ministerpräsidenten vom Landtagspräsidenten aufgelöst werden, während in Schleswig-Holstein der Ministerpräsident dies selbst binnen zehn Tagen tun kann.
In Thüringen gilt der Landtag drei Wochen nach der negativen Beantwortung automatisch als aufgelöst, wenn bis dahin keine Neuwahl stattgefunden hat.
Mitgliedstaaten der Europäischen Union
Ein Misstrauensvotum zur Ablösung der Regierung ist in nahezu allen parlamentarischen Systemen üblich; Zypern als Präsidialsystem kennt es jedoch nicht. Eine Vertrauensfrage ist nicht ganz so häufig; oft sind die Auswirkungen einer negativ beantworteten Vertrauensfrage identisch oder ähnlich mit den Auswirkungen eines erfolgreichen Misstrauensvotums, so zum Beispiel in Dänemark, Lettland, Polen, Portugal, der Slowakei, Spanien und Tschechien, wo in beiden Fällen der Rücktritt der Regierung zu erfolgen hat. Oft wird nicht genau unterschieden zwischen einer Vertrauensfrage und einem Misstrauensvotum: Es gibt nur eine gemeinsame Regelung, so in Österreich, wo die Versagung des Vertrauens ebenfalls den Rücktritt des betreffenden Ministers oder der gesamten Bundesregierung zur Folge hat (Artikel 74 des Bundesverfassungsgesetzes), oder in Schweden, wo es nur ein entsprechendes Misstrauensvotum gibt.
Ebenfalls üblich (in Italien sogar vorgeschrieben) ist, dass eine neu gebildete Regierung in den Ländern, in denen sie vom Staatsoberhaupt ernannt und nicht vom Parlament gewählt wird, nach ihrer Ernennung die Vertrauensfrage stellt, so in Griechenland, in Italien oder in Polen.
In Finnland und Irland erfolgt das Amtsende der Regierung bei fehlendem Vertrauen des Parlaments; dieses muss dem Verfassungstext zufolge nicht unbedingt formal ausgedrückt worden sein. Insofern erscheint diese Regelung ähnlich der bayerischen Verfassung.
In Belgien gibt es eine Vertrauensfrage. Wird sie negativ beantwortet, so muss das Parlament binnen drei Tagen einen neuen Regierungschef wählen. Anderenfalls kann der König das Parlament auflösen. Das Misstrauensvotum muss entweder konstruktiv sein oder der König kann das Parlament auflösen.
In Frankreich gilt jede Regierungserklärung faktisch als Vertrauensfrage. Der Regierungschef kann hier die Vertrauensfrage mit einem Gesetzentwurf verbinden. Die Vertrauensfrage und auch der Gesetzentwurf gelten dann als angenommen, wenn nicht innerhalb der folgenden 24 Stunden ein Misstrauensantrag erfolgt.
In Slowenien folgt auf die negative Beantwortung der Vertrauensfrage entweder eine Neuwahl der Regierung oder die Auflösung des Parlamentes. Das Misstrauensvotum ist konstruktiv.
Literatur
- Klaus Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Band 2: Staatsorgane, Staatsfunktionen, Finanz- und Haushaltsverfassung, Notstandsverfassung. Beck, München 1980, ISBN 3-406-07018-3
- Wolfgang Rudzio: Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. 6. Auflage. UTB, Stuttgart 2003, ISBN 3-825-21280-7
- Wolfgang Heyde, Gotthard Wöhrmann: Die Auflösung und Neuwahl des Bundestages 1983 vor dem Bundesverfassungsgericht. C.F. Müller, Heidelberg 1984, ISBN 3-8114-8983-6
- Wolf-Rüdiger Schenke; Peter Baumeister: "Vorgezogene Neuwahlen: Überraschungscoup ohne Verfassungsbruch?", Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2005, S. 1844 - 1846
Weblinks
- Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vertrauensfrage (BVerfGE 62, 1)
- Information der Bundesregierung zur Vertrauensfrage
- PDF-Datei des stenografischen Protokolls der Debatte am 16.November 2001 über die Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder
- PDF-Datei des stenografischen Protokolls der Debatte am 01.Juli 2005 über die Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder