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Hochtemperaturreaktor

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Moderatorkugel aus Graphit für Kugelhaufenreaktoren

Als Hochtemperaturreaktoren werden Kernreaktoren bezeichnet, die wesentlich höhere Arbeitstemperaturen ermöglichen als andere bekannte Reaktortypen. Erreicht wird dies durch ein gasförmiges Kühlmittel, Graphit als Moderator und Verwendung keramischer statt metallischer Werkstoffe im Reaktorkern.

Die Bezeichnung Hochtemperaturreaktor (im Folgenden abgekürzt HTR) wird im Deutschen oft gleichbedeutend mit Kugelhaufenreaktor benutzt. Dieser ist jedoch nur eine von verschiedenen möglichen Bauformen des HTR (siehe unten). Das Kugelhaufen-Reaktorkonzept wird international mit PBMR (Pebble Bed Modular Reactor) bezeichnet.

Verschiedene HTR sind als Prototyp-Kernkraftwerke jahrelang in Betrieb gewesen. Jedoch hat sich das Konzept bis heute (2009) wegen verschiedener Schwierigkeiten und Pannen im praktischen Betrieb nicht durchgesetzt.

Zweck der höheren Temperatur

Eine möglichst hohe Kühlmittelaustrittstemperatur (also die Temperatur, mit der das Kühlmittel den Reaktorkern verlässt) ist aus zwei Gründen erwünscht:

  • Falls der Reaktor zur Stromerzeugung dient, macht eine höhere Kühlmittelaustrittstemperatur – wie bei jedem anderen Wärmekraftwerk – die Energiegewinnung wirtschaftlicher, da sie bei der Umwandlung der Wärmeleistung in mechanische Leistung einen höheren thermischen Wirkungsgrad ermöglicht.
  • Reaktoren mit genügend hoher Kühlmittelaustrittstemperatur können nicht nur zur Stromerzeugung, sondern auch zur Lieferung von Prozesswärme genutzt werden.

Die in der Tabelle genannten Wirkungsgrade sind die theoretischen Maxima. Die technisch erreichten Wirkungsgrade liegen stets tiefer. Der THTR-300 (siehe unten) erreichte knapp 40 %. Reale Wirkungsgrade von Leichtwasserreaktorkraftwerken liegen bei 33 %.

Maximale Kühlmitteltemperaturen[1] und damit theoretisch erreichbarer Wirkungsgrad (bei 25°C Umgebungstemperatur)
Reaktortyp Temperatur (°C) Carnot-Wirkungsgrad
Siedewasserreaktor 285 47 %
RBMK 285 47 %
CANDU-Reaktor 300 48 %
Druckwasserreaktor 320 50 %
Brutreaktor, natriumgekühlt 550 64 %
Advanced Gas-cooled Reactor 650 68 %
Hochtemperaturreaktor 750 71 %

Ausführung

Kühlmittel

Gas statt einer Flüssigkeit als Kühlmittel verringert sehr wirksam die mechanische Abnutzung und die Korrosion der umströmten Teile. Die bisher bekannt gewordenen HTR-Konstruktionen verwenden das Edelgas Helium.

Helium bietet im Vergleich zu Kohlendioxid (CO2), das in anderen gasgekühlten Reaktoren verwendet wird, die zusätzlichen Vorteile, dass es nicht chemisch verändert oder zersetzt werden kann und durch Neutronenbestrahlung praktisch nicht aktiviert wird (nur aus dem sehr kleinen Helium-3-Anteil, 0,00014 %, entsteht Tritium). Dem stehen als Nachteile gegenüber, dass in reinem Helium die Oxid-Schutzschichten auf Metallen zerstört werden – geringe Mengen an Korrosionsmittel wie Wasserdampf im Helium können dies beheben – und dass Helium als einatomiges Gas sehr leicht durch feste Materialien diffundiert, so dass Dichtigkeit gegen Helium schwer erreichbar ist. Der AVR-Reaktor (siehe unten) verlor 1 % seines Kühlmittels pro Tag, für neuere Reaktoren rechnet man mit 0,3 % pro Tag.

Brennstoff, Moderator und Strukturmaterial

Der Kernbrennstoff wird in Form von coated particles (siehe Pac-Kügelchen) verwendet, deren Graphit- und Siliziumcarbid-Hüllen den Austritt von Spaltprodukten verhindern und so die sonst üblichen Brennstabhüllen ersetzen. Die Kügelchen werden mit weiterem Graphit als Strukturmaterial umhüllt. Mit derartigem Brennstoff sind höhere Abbrände als bei anderen Reaktortypen erreichbar[2]. Der Wegfall der metallischen Hüllrohre verbessert die Neutronenbilanz im Reaktor, denn die Neutronenabsorption in Graphit ist geringer als in den Hüllrohrwerkstoffen[3].

In manchen Prototyp-HTR enthielten die Brennstoffkügelchen außer Uran auch Thorium. Aus dem Thorium wird durch Neutroneneinfang und anschließende Betazerfälle Uran-233 erbrütet. Das Uran-233 wird zusätzlich zum Uran-235 gespalten und so direkt zur Energiegewinnung mit ausgenutzt; es muss nicht erst, wie das Plutonium bei den Uran-Plutonium-Brutreaktoren, durch eine Wiederaufarbeitung aus dem gebrauchten Brennstoff abgetrennt und in neue Brennelemente eingebracht werden.

Als Moderator und zugleich als Strukturmaterial im Reaktorkern dient Graphit, also reiner Kohlenstoff. Zur Brennelementherstellung werden die Brennstoffkügelchen in eine Masse aus Graphitpulver und Kunstharz eingebracht. Diese wird dann in der gewünschten Form des Brennelements durch Druck verfestigt und das Harz bei hoher Temperatur unter Luftabschluss ebenfalls in Kohlenstoff umgewandelt.

Zwei verschiedene geometrische Formen der Brennelemente sind erprobt worden:

  • in Großbritannien und USA prismatische Blöcke,
  • in Deutschland tennisballgroße Kugeln, die im Reaktorbehälter eine lose Schüttung bilden (Kugelhaufenreaktor).

Die kleinen Kugel-Brennelemente können während des laufenden Betriebes von oben nachgefüllt und im verbrauchten Zustand unten entnommen werden. Der Kugelhaufenreaktor hat dadurch den Sicherheitsvorteil, dass er nicht wie andere Reaktoren mit einem größeren Brennstoffvorrat für z. B. ein ganzes Betriebsjahr beladen werden muss. Wird diese Möglichkeit ausgenutzt, müssen allerdings Zufuhr und Entnahme der Brennelemente ständig funktionieren, damit der Reaktor nicht unterkritisch wird. Ein Nachteil liegt darin, dass Reaktoren mit einer solchen Betriebsweise (ähnlich auch CANDU und RBMK) grundsätzlich zur Erzeugung von waffengeeignetem Plutonium zugleich mit der Stromerzeugung genutzt werden können (siehe unten, Proliferationsgefahr).

Im Betrieb der bisherigen Kugelhaufenreaktoren hat sich die Kugelentnahme als Schwachstelle herausgestellt, da sich häufig Kugeln verklemmten.

Leistungsdichte und Sicherheitseigenschaften

Die Wärmeleistungsdichte im HTR-Kern ist sehr viel geringer als bei herkömmlichen Reaktoren, max.etwa 6 MW/m³ gegenüber beispielsweise 100 MW/m³ bei Druckwasserreaktoren. Dies bedeutet einerseits, dass ein HTR-Kern für eine vorgegebene Reaktorleistung größer ist als ein vergleichbarer Reaktor anderen Typs, so dass die Baukosten entsprechend höher liegen. Andererseits liegt in der geringen Leistungsdichte ein erheblicher Sicherheitsvorteil. Die Wärmekapazität der großen Graphitmasse zusammen mit der Temperaturbeständigkeit von Graphit bewirkt, dass ein HTR sich bei Kühlungsverluststörfällen und Reaktivitätsstörfällen ("Leistungsexkursionen") sehr unempfindlich verhält[4]. Ein zu schneller Reaktivitätseintrag – z.B. durch sehr schnelles Ausfahren der Steuerstäbe, das sich aber konstruktiv ausschließen lässt – hätte aber auch beim HTR gravierende Folgen wie etwa ein Platzen der Brennelemente durch thermische Spannungen.

Erhebliche Unfallrisiken bestehen durch Lufteinbrüche und Wassereinbrüche (siehe Störfall im AVR Jülich). Ein bei Luftzutritt denkbarer Brand der großen Graphitmenge könnte ähnlich wie bei der Katastrophe von Tschernobyl zur weiträumigen Verteilung gefährlicher Radioaktivitätsmengen führen. Wassereinbrüche können unter Umständen zur Überkritikalität führen, ähnlich wie ein positiver Kühlmittelverlustkoeffizient in Reaktoren mit flüssigem Kühlmittel. [5] [6]

Verbleib des abgebrannten Brennstoffs

Die mechanische, thermische und chemische Beständigkeit der Brennstoffkügelchen und die Dichtheit gegen Austritt von Spaltprodukten hat eine Kehrseite: eine Wiederaufarbeitung der gebrauchten HTR-Brennelemente ist sehr kostspielig. Eine wirtschaftliche Energieversorgung mit HTR setzt also die Entscheidung für die direkte Endlagerung des Atommülls voraus.

Proliferationsgefahr

Speziell beim Kugelhaufenreaktor kann durch geringe Verweildauer des einzelnen Brennelements erreicht werden, dass relativ reines Plutonium-239, also für Kernwaffen geeigneter Brennstoff entsteht. Wird der erhöhte Aufwand der Aufarbeitung in Kauf genommen, kann dieser Reaktortyp also ähnlich den CANDU- und RBMK-Reaktoren ein Proliferationsrisiko darstellen.[7].

Versuchs- und Prototypanlagen in Europa und USA

Hochtemperaturreaktor AVR im Forschungszentrum Jülich

In den 1960er Jahren ging der Versuchs-HTR DRAGON in Winfrith, Großbritannien, in Betrieb. Er hatte prismatische Brennelemente und 20 MW Wärmeleistung.

Es folgten vier HTR-Prototypkraftwerke:

  • Kernkraftwerk Peach Bottom in USA (prismatische Brennelemente, elektrische Leistung 42 MW),
  • AVR in Jülich, Deutschland (Kugelbrennelemente, elektrische Leistung 15 MW)

und in den 1970er Jahren

Weitere Entwicklung des Kugelhaufenkonzepts

Am Kugelhaufen-HTR-Konzept wird in Deutschland nur noch in kleinem Umfang geforscht: So wird am Forschungszentrum Jülich der Großversuchsstand NACOK zur Untersuchung von Kugelhaufenreaktor-Problemen betrieben [8]. Es gibt aber in Deutschland eine HTR-Gemeinschaft, die für Kugelhaufenreaktoren national und international wirbt. Außerdem sind oder waren deutsche Forschungszentren und Unternehmen an Projekten in der Volksrepublik China, Südafrika und Indonesien beteiligt, wo die Technik unter dem internationalen Namen PBMR (Pebble Bed Modular Reactor) bekannt ist. Die Entwicklung geht in Richtung kleinerer, dezentral untergebrachter und angeblich inhärent sicherer Reaktoren. Durch besonders geringe Leistungsdichte sollen Gefahren vermieden werden, und durch die Modularität und den gleichen Aufbau der Kleinreaktoren sollen diese billig in größeren Mengen herstellbar werden. Geringe Leistungsdichte vergrößert jedoch die Entsorgungsprobleme durch das zwangsläufig größere Abfallvolumen.

Die südafrikanische Regierung stellte Anfang 2010 die Förderung des PBMR ein, da sich weder Investoren noch Kunden für dieses Kugelhaufenreaktorprojekt finden ließen. Internationale Banken verweigerten Kredite für die Weiterführung des Projektes. Ungelöste technische Probleme und ein gravierender Kostenanstieg hatten mögliche Investoren abgeschreckt. Die Firma PBMR kündigte daraufhin an, 600 der noch 800 Mitarbeiter entlassen zu wollen und der Vorstandsvorsitzende trat am 8. März 2010 zurück. Im Juli 2010 erklärte PBMR Ltd sogar, die technischen Arbeiten vollständig einstellen zu wollen und die Belegschaft auf 25 Personen zu reduzieren. Dieses wird notwendig, weil Finanzierungsverhandlungen weiterhin erfolglos blieben und weil sich die Marktchancen für Kugelhaufenreaktoren in den USA, auf die sich PBMR Ltd konzentrieren wollte, verschlechtert haben. Südafrika hat mindestens etwa 1 Mrd € in die PBMR-Entwicklung investiert. Südafrika will zukünftig auf konventionelle Leichtwasserreaktoren setzen.

Heute werden Hochtemperaturreaktoren am MIT, der General Atomics (USA) (kein Kugelhaufenreaktor sondern HTR mit Block-Brennelementen), der Adams Atomic Engines (USA) und der Romaha B. V. (Niederlande) aktiv weiterentwickelt.

2003 gab die chinesische Regierung bekannt, bis zum Jahr 2020 dreißig Kernreaktoren dieses Typs errichten zu wollen. Der Baubeginn verzögert sich jedoch von Jahr zu Jahr. Betriebsergebnisse des kleinen Kugelhaufenreaktors HTR10 nahe Peking, der seit 2003 in Betrieb ist, werden nicht bekanntgegeben. Es gibt jedoch Gerüchte über massive technische Probleme (Kugelfließen und Graphitstaub), welche die Verfügbarkeit des HTR10 auf weniger als 10 % begrenzen.

Einzelnachweise

  1. Kugeler u. Schulten (s. Literaturliste) S. 2
  2. Massimo (s. Literaturliste) S. x
  3. Massimo (s. Literaturliste) S. x
  4. Massimo (s. Literaturliste) S. x
  5. R.Moormann http://www.neimagazine.com/story.asp?storyCode=2052589
  6. R.Moormann http://www.nuclear-engineering-journal.com/web/amf.asp?url=get_doc_free.asp&bin_id=29317133728-1303&o_id=200804221619-119
  7. Armin Tenner, Development of Nuclear Energy (2007) http://www.inesglobal.com/_Conferences/2007/Moscow/Moscow.htm
  8. s.S. 19 in https://services.nordrheinwestfalendirekt.de/broschuerenservice/download/70495/rz_cef_internet_final.pdf

Literatur

  • Luigi Massimo, Physics of High-Temperature Reactors. Oxford usw.: Pergamon, 1976
  • Kurt Kugeler und Rudolf Schulten, Hochtemperaturreaktortechnik. Berlin usw: Springer, 1989
Wiktionary: Hochtemperaturreaktor – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen