Fegefeuer (Sofi Oksanen, Roman)
Fegefeuer (Originaltitel: Puhdistus, 2008) ist der dritte Roman der finnischen Autorin Sofi Oksanen. Er basiert auf ihrem gleichnamigen Theaterstück (Uraufführung in Helsinki 2007), spielt 1992 in einem Dorf West-Estlands und schildert die außergewöhnliche Begegnung zweier Frauen, durch die nach und nach die leidvolle Geschichte ihrer Familie – verwoben mit der des ganzen Landes – offengelegt wird.
Aliide Truu, eine allein lebende ältere Frau, erspäht eines Morgens auf dem Hof ihrer Hauses ein menschengroßes Bündel. Es entpuppt sich als ein ihr völlig unbekanntes Mädchen – verdreckt, zerlumpt und ungepflegt. Vorsicht ist geboten, noch dazu in dieser Zeit, da die neue Freiheit – ein Jahr nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit Estlands – für Aliide vor allem bedeutet, dass Drohungen gegen sie täglich zunehmen: Schimpfwörter an ihrer Tür, Steine gegen ihr Haus, ihre Sauna abgebrannt, Hund und Hühner tot. Das Mädchen könnte eine Diebin, noch wahrscheinlicher ein Lockvogel sein. Dennoch lenkt Aliide Schritt für Schritt ein: spricht mit ihr, gibt ihr zu trinken und zu essen, lässt sie ins Haus, baden, sich kleiden, sogar übernachten. Die Gewissheit, dass das Mädchen – Zara – Hilfe braucht, ist stärker als ihr Misstrauen, das nicht zuletzt dadurch geschürt wird, dass sie offenbar lügt, die Wahrheit nur stückweise preisgibt. Doch auch Aliide hat etwas zu verbergen; das wird spätestens klar, als Zara sie mit einem Jugendfoto ihrer Schwester konfrontiert und Aliide spontan leugnet, überhaupt eine Schwester zu haben... – In Rückblenden, die immer größeren Raum einnehmen, gewinnen so die Vorgeschichten beider Frauen allmählich Kontur.
Aus Wladiwostok stammend, hat Zara sich etwa ein Jahr zuvor durch den Besuch einer Ex-Freundin animieren lassen, wie diese in der westlichen Welt schnell viel Geld verdienen zu wollen. Zara hat Ideale: Sie will damit ihr Medizinstudium finanzieren und die Lebensverhältnisse ihrer Familie verbessern. In Berlin gerät sie jedoch in die Fänge eines russischen Zuhälterduos, die ihr zu der Zeit größtes Kapital – ihre östliche Herkunft – gnadenlos ausbeuten und denen es durch die üblichen Mittel – Gewalt, erpresserische Drohungen, falsche Schuldzuweisungen, vage Hoffnungen – gelingt, Zara gefügig zu machen. Einen Rest von Widerstandskraft und Freiheitswillen bewahrt sie sich allerdings. Genährt oder zum Leben erweckt wird er durch das, was sich als die „Mitgift“ ihrer Großmutter erweist: Es ist die estnische Sprache, die sie – mit der Liebe zu diesem Land – an die Enkelin weitergegeben hat; und als diese sich entschließt, nach Deutschland zu gehen, bekommt sie von der Großmutter außerdem jenes Jugendfoto samt einer Widmung an ihre jüngere Schwester mit auf den Weg und eine genaue Beschreibung des Ortes und Hauses, aus dem sie stammen. Als Zara davon hört, dass die beiden Zuhälter eine Reise nach Estland planen, bietet sie sich daher als Begleiterin an. Tatsächlich gelingt ihr dort die Flucht (wenngleich nicht ohne Gewalttat: den Mord an einem Freier), und tatsächlich gelangt sie bis zu dem von ihrer Großmutter beschriebenen Ort, wo Aliide sie dann findet.
Deren Vorgeschichte ist naturgemäß umfangreicher als die von Zara, andererseits auch stringenter, ist es doch die einer Frau, die sich als Ewig-zu-kurz-Gekommene, als notorische Verliererin fühlt, und die, als dies scheinbar unabänderlich feststeht, de facto zu „leben“ aufhört. Die Ur-Szene, die alle Weichen vermeintlich in diese Richtung stellt, ist die, als die jugendliche Aliide den „Mann ihres Lebens“ erblickt, der seinerseits aber nicht auf sie, sondern auf die sie begleitende Schwester aufmerksam wird – ihre ältere Schwester Ingel, die ohnehin von der Natur schon in jeder Hinsicht bevorteilt und die alles besser zu können scheint. Auf diesen Mann – Hans Pekk, Ingels künftigen Gatten – bleibt sie fixiert und trifft Entscheidungen, die unter dem Einfluss der historischen Verwerfungen (Zweiter Weltkrieg und wechselnde Besatzungsmächte) schließlich in eine Familientragödie münden. Aliide lebt zunächst, ohne sich abnabeln zu wollen, mit der Familie ihrer Schwester im elterlichen Haus und hält erst nach einem Mann für sich Ausschau, nachdem sie zwei Mal die Schrecken eines Verhörs durch den KGB erfahren muss, der nach dem Verbleib des im Widerstand befindlichen Hans forscht (die Schwestern halten ihn im Haus versteckt und haben ihn offiziell für tot erklärt). Vom Schock der erlittenen Vergewaltigungen und Erniedrigungen gezeichnet – die nicht einmal vor ihrer Nichte, der erst 7-jährigen Linda, Halt machen –, sucht Aliide folgerichtig einen Mann, bei dem sie sich kraft seiner Machtposition künftig davor geschützt fühlt. Sie findet ihn in dem Agitator Martin. Dass sie sich im Grunde vor ihm ekelt, berührt sie kaum; was sie schmerzt, ist der mit Heirat und Auszug verbundene Verlust des Hauses und – mehr noch – der Nähe zu Hans. Daher ist es nur folgerichtig, dass sie die Chance, beides zurückzugewinnen, nicht ungenutzt lässt, auch wenn sie dadurch schwere Schuld auf sich lädt: Martin macht sie zur Mitwisserin der geplanten Deportation von Ingel und Linda; Aliide hat mehrere Wochen Zeit, sich zu bedenken und sie zu warnen, weiß jedoch, dass sie sie dadurch nicht mit Sicherheit rettet und sich selbst praktisch ausliefert; kurz vor dem Vollzug lässt Martin sie sogar so stark belastende Aussagen unterschreiben, dass eine Rückkehr der beiden praktisch auszuschließen ist; für Hans wiederum wird sein Versteck zum Gefängnis, als Frau und Kind geholt werden. – Mit zwei Männern unter einem Dach lebend, spielt Aliide nun über mehrere Jahre ein hoch riskantes Spiel. Den Ehemann erträgt sie, um den Schwager für sich zu gewinnen. Bis zur Selbstaufgabe buhlt sie um dessen Gunst – vergeblich. Als ihr dies endgültig klar wird, indem ihre letzte Illusion zerbricht (mit einem gestohlenen Pass will sie Hans in Tallinn untertauchen zu lassen, um sich dann dort mit ihm von Zeit zu Zeit treffen zu können), sorgt sie dafür, dass er in seinem Versteck umkommt. – Von den nachfolgenden 40 Jahren ihres Lebens wird nur noch wenig erzählt: Aliide bekommt eine Tochter, mit der sie kaum etwas verbindet und die sich noch in den 80-ern nach Finnland absetzt; Martin stirbt unmittelbar nach (und durch?) Tschernobyl.
Während die Rückblenden dem Leser die Vorgeschichte allmählich enthüllen, bleibt als wichtigstes Spannungsmoment die Frage, ob es dem Zuhälterduo gelingt, Zara aufzuspüren. Schon nach wenigen Tagen tritt das Befürchtete ein. In Hans’ einstigem Versteck verborgen, hört Zara mit an, wie die beiden sie – sehr geschickt und juristisch ja nicht zu Unrecht – schwer belasten; wie einst ihr Großvater ist auch sie jetzt Aliide ausgeliefert; und für Aliide ist die Versuchung groß, mit ihr das Gleiche zu tun wie mit ihm. Sie entscheidet sich jedoch anders. Zwar fällt auch jetzt kein offenes Wort noch werden gemeinsam Vorkehrungen getroffen, sodass Zara Hals über Kopf flieht beim erneuten Auftauchen ihrer Peiniger; doch als sie sich wieder in die Nähe des Hauses wagt, beobachtet sie, wie Aliide die beiden – mit Hans’ Waffe – erschießt. Aliide sorgt dafür, dass Zara auf schnellstem Wege das Land verlässt; ihrer Schwester legt sie brieflich nahe, zurückzukehren und das ihr gehörende Land wieder zu übernehmen; zuletzt trifft sie Vorkehrungen für einen Brand, um in ihrem eigenen Haus mit ihrem eigenen Hans zu sterben.