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Gräberfeldanalyse

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Die Analyse von Gräberfeldern ist ein wichtiger Zweig der archäologischen „Schreibtisch“-Forschung.

Gräber und Gräberfelder bilden die Hauptquelle unserer Kenntnisse über vor und frühgeschichtliche Zeiten. Die nähere Betrachtung einzelner Gräber gibt Aufschluss über individuelle Besonderheiten und bildet gleichzeitig die Grundlage für die Gräberfeldanalyse, d. h. die Erforschung der Beziehungen zwischen allen Befunden eines Gräberfeldes. Ein Verständnis des einzelnen Grabes ist nur über das Begreifen des Gräberfeldes möglich, genauso wie ein Verständnis des Gräberfeldes nur durch das Begreifen seiner Gräber erreicht werden kann (s. Hermeneutischer Zirkel).


Methoden und Werkzeuge

Die Untersuchung von Gräberfeldern erfolgt heutzutage mit Hilfe von Datenbanken, in denen die Merkmale (d. h. beobachtete Eigenschaften) der einzelnen Gräber gesammelt und anschließend mittels statistischer Verfahren geordnet und verglichen werden. Häufig verwendete Verfahren sind neben der deskriptiven Statistik z. B.: Korrespondenzanalyse (Seriation), Hauptkomponentenanalyse. Neben der reinen Statistik ist die räumliche Verbreitung der Merkmale die ergiebigste Erkenntnisquelle. Als Werkzeug für diese speziellen Kartierungen der Gräberfelder dienen GIS-Programme (Geoinformationssysteme).

Erkenntnismöglichkeiten

Geistige Welt – Totenritual

Gemeinsamkeiten zwischen den Bestattungen (z. B. im Grabbau, in der Ausrichtung der Skelette oder den Grabbeigaben) lassen auf kulturspezifische Elemente und Regeln im Totenritual schließen, die wiederum Einblicke in die geistige Welt der bestattenden Gruppe geben können. Erst mit Kenntnis dieser Regeln ist es dem Archäologen möglich, abweichende Bestattungen zu erkennen und diese zu hinterfragen. Aspekte des Totenrituals, und darüber hinaus mitunter auch der geistigen der Welt, können somit rekonstruiert werden, dabei sind allerdings die im Abschnitt „Einschränkungen“ (s. u.) genannten Argumente zu beachten.

Da es sich bei Gräbern – insofern sie nicht wiedergeöffnet wurden – um geschlossene Funde handelt, eignen sie sich hervorragend zur Erforschung des zeitlichen Wandels im Totenritual und der materiellen Kultur. Die überwiegende Mehrheit der typologisch erarbeiteten Chronologien beruht auf Gräberfeldanalysen. Kartiert man die einmal erkannte zeitliche Abfolge, lassen sich überdies Aussagen zur Entwicklung des Gräberfeldes treffen, ob z. B. von einem Kern ausgehend – was für eine bestattende Gruppe spräche, oder von mehreren, sich gleichzeitig erweiternden Zentren – was wiederum auf mehrere Gruppen (evtl. Siedlungsgemeinschaften, Sippen o. Ä.) hindeutet. Lässt sich eine solche Dynamik erkennen, spricht man von Horizontalstratigraphie – das ist ein Kunstbegriff, der das räumliche nebeneinander (=horizontal) in zeitlicher Abfolge (=Stratigraphie) beschreibt.

Die Gräberfeldanalyse kann einen Teil zur Analyse der Gesellschaftsstruktur der bestattenden Gemeinschaft beitragen, grundsätzliche Aussagen darüber sind jedoch erst nach durch Hinzuziehung anderer Befundgattungen möglich – s. dazu den Abschnitt „Einschränkungen“ (s. u.). Insofern die ungefähre Gleichzeitigkeit mehrerer Bestattungen gegeben ist, werden die zwischen ihnen beobachteten Unterschiede – und im weitesten Sinne – als sozial interpretiert. Treten diese Unterschiede innerhalb von Alters- und Geschlechtsgruppen auf, sind also z. B. die Bestattungen weiblicher Erwachsener sowohl in Grabkammern mit reicher Ausstattung als auch in einfachen Erdgräbern ohne Beigaben vorgenommen worden, dann lassen sich Rückschlüsse auf die sogenannte vertikale Gesellschaftsstruktur ziehen. Im genannten Beispiel sprächen materielle Unterschiede (Beigaben arm – reich) und der verschieden große Arbeitsaufwand, der zum Anlegen des Grabes nötig war (Grabkammer – einfaches Erdgrab) für die hierarchische Gliederung der Gesellschaft in zwei Schichten, grob gesagt z. B. in „reiche“ und „arme“ oder, weiterführend, in „Oberschicht“ und „Unterschicht“.

Lassen sich zwischen den Geschlechtern und evtl. auch den Altersklassen (z. B. Kinder – Jugendliche – Erwachsene – Greise) Unterschiede feststellen, sind Rückschlüsse auf die sogenannte horizontale Gesellschaftsstruktur möglich. Darunter wird die Gliederung einer Gemeinschaft innerhalb der hierarchischen Schichten verstanden. U.U. sind so z. B. Einblicke in die Strukturen auf familiärer Ebene möglich.

Die räumliche Verteilung von Geschlechtern, Alters- oder auch „materiellen“ Klassen auf dem Gräberfeld lässt u.U. weitere Aussagen über die Selbstsicht der bestattenden Gemeinschaft zu.

Einschränkungen

Die so gewonnenen Erkenntnisse sind allerdings kein direkter Spiegel des Lebens, sondern lediglich das Resultat eines bestimmten Lebensbereiches – des Totenrituals – der durch gruppeneigene Vorschriften geregelt wurde. Die Grabbeigaben und die Tracht des Leichnams, ja die Leichname selbst wurden im Rahmen dieser Vorschriften ausgewählt und zeigen damit, wenn überhaupt, nur einen Ausschnitt aus der Lebenswelt. Im Extremfall können sich Totentracht und -ausstattung vollkommen von der „Kultur der Lebenden“ unterscheiden – für weiterreichende Interpretationen müssen also stets Siedlungs- und gegebenenfalls Depotfunde hinzugezogen werden.