Pietismus
Der Pietismus (von französisch "piété", 'Frömmigkeit') ist nach der Reformation die wichtigste Reformbewegung im deutschen Protestantismus.
Der Pietismus ist eine Bibelbewegung, Laienbewegung und Heiligungsbewegung. Er betont die subjektive Seite des Glaubens, entwickelte aber auch einen starken missionarischen und sozialen Grundzug. In der pietistischen Praxis haben Hauskreise mit gemeinsamem Bibelstudium und Gebet oft grössere Bedeutung als Gottesdienste.
Der Pietismus hat das Priestertum aller Gläubigen betont und deshalb neben Theologen auch Laien ohne akademische Bildung, vorrangig Männer, zum Predigtamt geführt: als Redner, "redende Brüder", in den Hauskreisen ("Stunden", d. h. Erbauungsstunden / Bibelbesprechstunden). Zinzendorf hat gesagt: "Gesegnet sei die Gnadenzeit, / In der auch ungeübte Knaben / Befehl und Macht erhalten haben / Zu werben für die Seligkeit."
"Pietismus" ist eine Sammelbezeichnung für viele unterschiedliche Strömungen. Neben dem lutherischen Pietismus, als dessen "Vater" der Elsässer Philipp Jacob Spener (1635-1705) gilt, entwickelte sich der reformierte Pietismus, zu dessen Vertretern Theodor Undereyck und Gerhard Tersteegen gehören. Bei beiden Prägungen sind jeweils kirchlicher Pietismus und kirchenkritischer, sog. radikaler, Pietismus (vgl. Pietismus, Radikaler) zu unterscheiden.
Der lutherische Pietismus des Barock im 17. Jahrhundert und 18. Jahrhundert war eine Reaktion auf Erstarrungserscheinungen innerhalb der orthodoxen Lutherischen Kirche; der Pietismus konnte allerdings auch an Erneuerungsbestrebungen innerhalb dieser Institution anknüpfen, wie sie zum Beispiel bei Johann Gerhard sichtbar werden.
Als besonders pietistisch geprägt gilt neben Westfalen das Gebiet des einstigen Herzogtums Württemberg, wo es heute noch eine starke pietistische Strömung gibt (repräsentiert im Gesprächskreis "Lebendige Gemeinde" innerhalb der Württembergischen Landessynode) (vgl. Pietismus, Württembergischer). Allerdings ist der Einfluss des Pietismus gerade in diesem Land häufig überschätzt worden, weil man allgemeine Verhaltensweisen ungeprüft pietistischen Einflüssen zuschrieb. Im frühen 19. Jahrhundert kam es zur Gründung der beiden pietistischen Gemeinden Korntal (1819) und Wilhelmsdorf (siehe Wilhelmsdorf (Württemberg)) (1824), die mit religiösen Sonderrechten ausgestattet wurden.
Im 19. Jahrhundert entstanden Erweckungsbewegungen im Siegerland, in Wuppertal, in Minden, im Ravensberger Land, und in Pommern, die als Neupietismus bezeichnet werden.
Heute grenzen sich manche Kirchen und Gruppen in pietistischer Tradition oft speziell von Charismatischen Kirchen und Gruppen ab.
Die heutigen Pietisten werden zu den Evangelikalen gerechnet.
Freikirchen und Gruppen in pietistischer Tradition:
- Herrnhuter Brüdergemeine
- Gnadauer Gemeinschaftsverband
- Evangelische Gemeinschaftsbewegung
- Chrischona
- Altpietistischer Gemeinschaftsverband Stuttgart [1]
Herausragende Gestalten des Pietismus sind
- Philipp Jacob Spener
- August Hermann Francke
- Gottfried Arnold
- Gerhard Tersteegen
- Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf
- Johann Albrecht Bengel
- Friedrich Christoph Oetinger
Vom Pietismus beeinflusste Denker / Theologen
- Immanuel Kant
- Johann Wolfgang von Goethe
- Friedrich Hölderlin
- Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling
- Franz von Baader
Vom Pietismus beeinflusste Politiker
Genannt seien exemplarisch nur
- Bundespräsident D. Dr. h. c. (mult.) Johannes Rau, Sohn eines Wuppertaler Kaufmanns und nebenamtlichen Predigers
- Bundespräsident D. Dr. Dr. Dr. h. c. (mult.) Gustav Heinemann (durch die Pfarrer Friedrich Graeber und Wilhelm Busch in Essen/Ruhr).
- Reichskanzler Dr. Georg Michaelis
Dem raschen, umfassenden Überblick dient:
Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1990.
Einen umfassenden Forschungsbericht gibt:
Dietrich Blaufuß: Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2003.
Ein vierbändiges Werk fasst den neuesten Forschungsstand auf einer breiten, international ausgerichteten Basis zusammen:
Geschichte des Pietismus. 4 Bände. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1993-2003.
Die jeweils neueste Pietismus-Bibliographie, herausgegeben von Udo Sträter, findet sich in der Zeitschrift Pietismus und Neuzeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Zum Verhältnis des Pietismus zur Redekunst (Rhetorik) vgl. neuerdings:
Reinhard Breymayer: Pietismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Herausgegeben von Gert Ueding, Bd. 6. Tübingen: Niemeyer 2003, Sp. 1191-1214.
Weblinks
- http://www.glaubensstimme.de/pietismus - Texte verschiedener Pietisten
- http://www.pietism.de - Homepage des Pietismusforschers Reinhard Breymayer
- http://www.breymayer.freeservers.com/whats_new.html Bibliographie des Pietismusforschers Reinhard Breymayer