Chicago Boys
Die Chicago Boys sind eine Gruppe von chilenischen Wirtschaftswissenschaftlern, die von 1956 bis 1970 an der University of Chicago studiert haben, insbesondere bei Arnold Harberger und Milton Friedman. Sie wurden dafür bekannt, dass sie unter der Herrschaft Augusto Pinochets neoliberale Konzepte der Chicagoer Schule umsetzten.[1] Das ökonomische Programm der Chicago Boys unterschied sich in einigen Punkten allerdings deutlich von den Empfehlungen Milton Friedmans.[2]
Grundlage war ein Studienprogramm auf der Basis von Verträgen zwischen der University of Chicago, der Universidad Católica de Chile und der staatlichen Entwicklungshilfeorganisation International Cooperation Administration (heute: USAID) mit Unterstützung der Ford Foundation.[3] In den ersten Jahren zwischen 1956 und 1964 wurden 26 chilenische Ökonomen in Chicago ausgebildet, insgesamt über 100.[4][5] Einige von ihnen wurden Professoren an der Universidad Católica, wo sie unter der Anleitung von Chicago-Professoren die Fakultät grundlegend neu ausrichteten.[6]
Sie wurden in Chile unter der Herrschaft des Diktators Augusto Pinochet auch wirtschafts- und sozialpolitisch sehr einflussreich. Nach dem Putsch im September 1973 wurden alle wichtigen Ministerien zunächst von Militärs geleitet. Diesen gelang es nicht, das Problem der galoppierenden Inflation zu lösen, die Inflationsrate verharrte im dreistelligen Bereich. Die nationalistisch-populistischen Tendenzen der Wirtschaftspolitik des Regimes gerieten daher zunehmend in die Defensive, bis Ende 1974 wurden die wichtigsten Ministerien mit Chicago Boys besetzt. Diese waren von der Überlegenheit freier Märkte überzeugt und begannen, die Wirtschaft Chiles mit weitreichenden Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen grundlegend umzugestalten.
Das Wirken der Chicago Boys wird mitunter als eine Art technokratischer Revolution "von oben" (oder: "neoliberale Konterrevolution"[7]) beschrieben, die sich nicht auf wirtschaftspolitische Fragen beschränkte.[8] Pinochet und die Chicago Boys wollten demnach, dass der Marktansatz (market approach) und damit der Glauben in individuelles Handeln statt Verantwortung des Staates die ganze Gesellschaft durchdringe.[9]
Sebastián Edwards, ehemaliger Chefökonom der Weltbank für die Region Lateinamerika und Karibik, der zu Pinochets Zeiten an der Universidad Católica und in Chicago ausgebildet worden war, urteilt: „Die Chicago Boys waren nicht Teil der Pinochet-Verschwörung [..] Entgegen der Behauptungen mancher Kritiker war die Politik der Chicago Boys nicht dogmatisch, rigide durchgeführt, und von der Beölkerung insgesamt abgelehnt. Ebenso falsch ist die Behauptung, dass die Chicago Boys natürliche Verbündete der Militärregierung gewesen seien, die 1973 die Macht ergriff.“[10]
Anfang der 1980er Jahre wurde das Chilenische Experiment nach einer anfänglich guten wirtschaftlichen Entwicklung ("Wunder von Chile") neben den Reformen von Margaret Thatcher zu einer wichtigen Referenz für Anhänger des Monetarismus und der Marktliberalisierung. Allerdings kam es bereit 1982 zu einer schweren Rezession, bei der es zu einem drastischen Einbruch des Realeinkommens, einem Anstieg der Arbeitslosigkeit auf nahezu 30 % und zu einem Zusammenbruch des Finanzmarktes kam.[11]
Der Politologe Ralf Ptak sieht in den Chicago Boys eine „Gruppe radikaler neoliberaler Wirtschaftswissenschaftler“, die „Chile unter diktatorischen Bedingungen zum ersten realen Großversuch des Neoliberalismus werden ließen“.[12]
Folgende chilenische Regierungsmitglieder oder Berater werden zu den Chicago Boys gezählt:
- Sergio de Castro (Finanzminister 1974–1982)
- Pablo Baraona (Wirtschaftsminister 1976–1979)
- Alvaro Bardón (Wirtschaftsminister 1982–1983)
- Miguel Kast (Planungsminister 1978-1980)
- Robert Kelly (Wirtschaftsminister 1978–1979)
- Fernando Léniz (Wirtschaftsminister 1973–1975)
- Emilio Sanfuentes (Berater der Zentralbank)
- Juan Villarzú (verantwortlich für den Haushalt)
- Jorge Cauas (Minister für Grundbesitz 1976–1982)
- José Piñera (Minister für Arbeit 1979–1980, Minister für Bergbau 1980–1981)
- Francisco Soza
- Juan Carlos Méndez (verantwortlich für den Haushalt 1975–1981)
- Rolf Lüders (Wirtschaftsminister 1982)
Literatur
- Sebastian Edwards: Chile, Latin America's Brightest Star. In Left Behind: Latin America and the False Promise of Populism. University of Chicago Press, 2010, ISBN 0226184781
- Juan Gabriel Valdés: Pinochet's Economists: The Chicago School of Economics in Chile, Cambridge University Press, 1995.
- Robert G. Wesson: Politics, policies, and economic development in Latin America. Hoover Press, 1984, ISBN 0817980628
Belege
- ↑ Patricio Silva: In the name of reason: technocrats and politics in Chile, Penn State Press, 2008, ISBN 027103453X, 9780271034539, S. 143.
- ↑ Sebastian Edwards: Left Behind: Latin America and the False Promise of Populism. University of Chicago Press, 2010, ISBN 0226184781, S.102
- ↑ Juan Gabriel Valdés (1995): Pinochet's Economists: The Chicago School of Economics in Chile, Cambridge, Cambridge University Press. ISBN 0-521-45146-9, S. 127.
- ↑ Juan Gabriel Valdés (1995): Pinochet's Economists: The Chicago School of Economics in Chile, Cambridge, Cambridge University Press. ISBN 0-521-45146-9, S. 13, 127.
- ↑ Yves Dezalay, Bryant G. Garth: The internationalization of palace wars: lawyers, economists, and the contest to transform Latin American states, University of Chicago Press, 2002, ISBN 0226144267, 9780226144269, S. 114
- ↑ Juan Gabriel Valdés (1995): Pinochet's Economists: The Chicago School of Economics in Chile, Cambridge, Cambridge University Press. ISBN 0-521-45146-9, S. 127.
- ↑ Martínez/Díaz 1996, zitiert nach Karin Fischer: "Chile: Vom neoliberalen Pionier zum Vorzeigemodell für Wachstum mit sozialem Ausgleich?" Lateinamerika Analysen 17, 2/2007, S. 157-175, 159.
- ↑ Patricio Silva: In the name of reason: technocrats and politics in Chile, Penn State Press, 2008, ISBN 027103453X, 9780271034539, S. 143.
- ↑ Oppenheim, Lois Hecht (1999): Politics in Chile. Democracy, Authoritarianism, and the Search for Development. Boulder: Westview, zitiert nach Karin Fischer: "Chile: Vom neoliberalen Pionier zum Vorzeigemodell für Wachstum mit sozialem Ausgleich?" Lateinamerika Analysen 17, 2/2007, S. 157-175, 159.
- ↑ Sebastian Edwards: Left Behind: Latin America and the False Promise of Populism. University of Chicago Press, 2010, ISBN 0226184781, S.105, im Original: „In fact, the Chicago Boys were not part of the Pinochet conspiracy [..] Contrary to what some critics have argued, the Chicago Boys' policies were not dogmatic, rigidly implemented, and ultimately rejected by the population at large. It is also incorrect to claim that the Chicago Boys were the natural allies of the military government that seized power in 1973.“
- ↑ Sebastián Edwards, Alejandra Cox Edwards: Monetarism and liberalization: the Chilean experiment, University of Chicago Press, 1991, S. xvii.
- ↑ Ralf Ptak: Grundlagen des Neoliberalismus. In: Butterwegge/Lösch/Ptak (Hrsg.): Kritik des Neoliberalismus, VS-Verlag, 2. verb. Aufl., 2008, S. 13