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Scham- und Schuldkultur

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
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Die Gegenüberstellung der Begriffe Schamkultur, die vornehmlich dem nahen und fernen Osten zugeschrieben wird, und Schuldkultur, die dem westlichen Abendland zugeschrieben wird, wurde durch die US-amerikanische Kulturanthropologin Ruth Benedict etabliert. In ihrer 1946 erschienenen Studie über die Kultur Japans, Chrysantheme und Schwert, ordnet sie die japanische Kultur den Schamkulturen zu.

Schamkultur

In einer Schamkultur muss sich der Geschädigte selber um Wiedergutmachung kümmern. Scham hat zu empfinden, dessen Normverstöße auffallen, und, wem man ungeahndet öffentlich Unrecht antun kann.

In einer schamorientierten Kultur gilt nicht ein ruhiges Gewissen, sondern die öffentliche Wertschätzung als höchstes Gut. Demzufolge sind Vergehen, die niemand bemerkt, kein Grund, sich zu schämen. Bereits im China des 13. Jahrhunderts soll laut dem Asienreisenden Marco Polo eine öffentliche Beleidigung einen Betroffenen dazu gebracht haben, sich der Scham wegen vor dem Haus seines Gegners zu erhängen. Damit wolle er seine Verachtung diesem gegenüber ausdrücken und seinen eigenen Gesichtsverlust in der Gesellschaft verhindern.

Beispiele

Japanische Eltern erziehen ihre Kinder dahingehend, das Auffallen zu vermeiden. Wer auffällt, isoliert sich. Die Ermahnung lautet deshalb oft: „Tu das nicht, sonst lachen dich die anderen aus!“

Ein Beispiel für diese Einstellung ist der Aufwand, der um einen japanischen Touristen betrieben wurde, der in Rothenburg ob der Tauber ein Graffito hinterließ. Da er seinen Namen und seine Adresse aufgeschrieben hatte, war er von anderen japanischen Touristen leicht zu identifizieren und wurde in den japanischen Medien massiv gedrängt, sich bei Rothenburgs Bürgermeister zu entschuldigen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als auf eigene Kosten noch einmal nach Deutschland zu fliegen und sich bei dem (erstaunten) Bürgermeister zu entschuldigen.

Katherine Mangu-Ward sieht eine "Lob-/Scham-Ökonomie" als grundlegend für die soziale Funktionsweise der Wikipedia an.[1]

Nach den Mechanismen von Schamkulturen funktionierten viele Gruppierungen, auch Verbrecherbanden. So auch der Nationalsozialismus, wie im Forschungsprojekt „Geschichte und Erinnerung“ durch die Analyse von Interviews mit NS-Anhängern deutlich wurde.[2]

Schuldkultur

In einer Schuldkultur soll Schuld empfinden, wer Unrecht begangen hat. Das eigene Verhalten wird durch das Gewissen als moralisches Korrektiv kontrolliert, dabei ist es nicht von Belang, ob Andere das eigene Vergehen bemerkt haben oder nicht. Als höchstes Gut wird das ruhige Gewissen betrachtet.

In der jüdisch-christlich geprägten Gesellschaft kommt der Buße eine Bedeutung zu. Die römisch-katholische Kirche kennt hier das Sakrament der Beichte.

Scham- und Schuldkultur

Nach T. P. Schirrmacher herrscht folgendes Grundprinzip:

  • In der Schamkultur gilt die öffentliche Wertschätzung als höchstes Gut
  • In der Schuldkultur gilt die Sorge des Menschen der Sühnung seiner Schuld


Schuld- und Schamorientierung nach Klaus W. Müller

schuldorientiert schamorientiert
Ausgangspunkt der Prägung
Kleine Zahl von prägenden Personen, genau definiert: Eltern (Basisfamilie) Große Zahl von prägenden Personen (Großfamilie), ungenau definiert: Eltern, Verwandte, Fremde, Geistwesen
Strukturbildung der Verhaltensmaßstäbe
Verhaltensmaßstäbe werden von den prägenden Personen übernommen, das Gewissen bildet sich heraus Verhaltensmaßstäbe werden von den prägenden Personen übernommen, das Gewissen bildet sich heraus
Manifestierung der Normenvorstellungen
In sich selbst, das eigene Gewissen ist (intrinsische) Normüberwachung Andere Personen oder Geister/Götter sind Autoritäten zur (Fremd-) Überwachung der Normen
Reaktion bei geplanter Normverletzung
Signal des Gewissens, dass die geplante Tat eine Normverletzung darstellen wird, worauf ein Abwehrmechanismus aktiviert wird Signal des Gewissens, dass die geplante Tat eine Normverletzung darstellen wird, worauf ein Abwehrmechanismus aktiviert wird
Reaktion bei tatsächlicher Normverletzung
Störung des inneren Gleichgewichtes von innen heraus, es wird sofort ein Schuldgefühl erlebt, das zugleich als Bestrafung empfunden wird. Im Bewusstsein dessen wird ein Entlastungsmechanismus gestartet. Störung des inneren Gleichgewichtes von außen im Falle, dass die Tat anderen als nicht normativ richtig bewusst wird, es wird sofort nach Bewusstwerden dieses externen Bewusstwerdens der Normverletzung ein Schamgefühl erlebt, das als Bestrafung empfunden wird. Das wiederum aktiviert einen Abwehrmechanismus, der sich hauptsächlich gegen die externe Wertung richtet, worauf ein Entlastungsmechanismus folgt.
Ergebnis der Schuld- und Schamerlebnisse
Ein funktionsfähiges Gewissen (Superego) führt zum inneren Gleichgewicht zurück. Ein funktionsfähiges Gewissen (Superego) führt zum inneren Gleichgewicht zurück.

Schuld- und Schamorientierung, modifiziert nach Müller

Einzelnachweise

  1. Katherine Mangu-Ward: Wikipedia and Beyond. Jimmy Wales´ sprawling vision. Juni 2007, abgerufen am 22. Mai 2008 (englisch).
  2. Stephan Marks: Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus. Patmos Verlag, Düsseldorf.

Literatur

  • Ruth Benedict: Chrysantheme und Schwert. Formen der japanischen Kultur. Suhrkamp, Frankfurt am Main, ISBN 978-3-518-12014-9.
  • T. P. Schirrmacher, Kolumne: Scham- und Schuldkultur, Professorenforum – Journal 2002, Vol. 3, No. 3
  • Stephan Marks (2006). Zur Funktion von Scham und Schamabwehr im Nationalsozialismus. In: Georg Schönbächler (Hg.): Die Scham in Philosophie, Kulturanthropologie und Psychoanalyse. Zürich: Collegium Helveticum Heft 2, S. 51-56.
  • Stephan Marks (2007). Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus. Patmos Verlag, Düsseldorf.