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Vokativ

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Der Vokativ (auch Anredefall) ist ein spezieller Kasus, der gebraucht wird, wenn jemand mit seinem Namen oder seiner Berufsbezeichnung direkt angesprochen wird. Einen Vokativ gab es sehr wahrscheinlich im Ur-Indogermanischen, es gibt ihn zum Beispiel im Lateinischen, Rumänischen, Alt- und Neugriechischen, im Irischen, im Bretonischen, im Kurdischen, in den baltischen sowie in den meisten slawischen Sprachen (Bosnisch, Bulgarisch, Kroatisch, Polnisch, Serbisch, Sorbisch, Tschechisch, Ukrainisch, Weißrussisch; im Russischen und Slowakischen nur Reste in festen Redewendungen).

Im Deutschen kann man ebenfalls von einem Vokativ sprechen, der zwar in seiner Endung immer gleich dem Nominativ ist, jedoch ohne den Artikel des ersten Falles; als Artikel des Vokativs fungiert „o“, dieser Artikel wird aber in der Regel weggelassen.[1] Ein Beispiel für die Verwendung von o als vokativischem Artikel ist das Weihnachtslied „O Tannenbaum“.

Beispiele

Vokativbildung in den indogermanischen Sprachen

Der indogermanische Vokativ, der sich für gewöhnlich auf den Singular beschränkt, sei am Beispiel des Wortes für „Wolf“ illustriert, einem typischen maskulinen o-Stamm:

Urindogermanisch Sanskrit Altgriechisch Latein Gotisch Urslavisch Litauisch Kurmandschi
Nominativ *wl̥kʷ=o-s vr̥k=a-s lýk=o-s lup=u-s wulf-s vlьk=ъ_ vilk=a-s gur_ (n)
Vokativ *wl̥kʷ=e_ vr̥k=a_ lýk=e_ lup=e_ wulf_ vlьč=e_ vilk=e_ gur-o (m)
gur-ê (f)

Erklärung zur Notation: Die mit Bindestrich getrennten Elemente bezeichnen jeweils den Wortstamm, den sog. Themavokal des Falls und die eigentliche Endung. Das Zeichen „_“ bedeutet, dass keine Endung vorliegt (wo bei anderen Fällen eine Endung steht). Der Stern vor den urindogermanischen Wörtern bedeutet, dass es sich um hypothetische Wortrekonstruktionen handelt, die nicht durch schriftliche Quellen belegt sind.

Wie man erkennen kann, wurde das Wortbildungssuffix -o- vermutlich bereits im Indogermanischen zu -e- abgelautet. Dieser Vokalwechsel hält sich auch in den wichtigsten Nachfolgesprachen, wenngleich -o- teilweise verändert wird.

In einigen indogermanischen Sprachen ist der Vokativ verschwunden, in anderen wiederum ist er erhalten. Eine kleine Übersicht:

(maskuliner) Vokativ erhalten Vokativ verschwunden (femininer) Vokativ neu gebildet
Hindi/Urdu Persisch (Farsi, Dari) Keltische Sprachen
Paschtunisch Südgermanische Sprachen Nordgermanische Sprachen
Griechisch Armenisch Kurdische Sprachen
Baltische Sprachen Romanische Sprachen Rumänisch

Latein

Im Lateinischen ist der Vokativ fast immer mit dem Nominativ identisch. Als Fall mit unterscheidbarer Form erscheint er nur bei den (allerdings recht häufigen) maskulinen Wörtern der o-Deklination, die im Nominativ auf -us enden. In diesem Fall wird aus der Nominativendung (im Singular)-us im Vokativ die Endung -e (z. B. BrutusBrute!, ChristusChriste!). Eine Ausnahme bilden im Nominativ auf -ius endende Wörter sowie bestimmte Formen des Possessivpronomens: erstere enden im Vokativ auf -iØ (z. B.: Claudia clamat: „Consule tibi, mi filie fili!“ – Claudia ruft: „Sorge für dich, mein Sohn!“), letztere haben eigene Formen.

Griechisch

Im Griechischen ist der Vokativ Singular häufiger vom Nominativ verschieden, der Vokativ Plural ist aber immer identisch mit dem Nominativ Plural.

  • Altgriechisch: Bei Maskulina der a-Deklination fällt das End-s (-ς) der Endungen -ēs (-ης) bzw. -as (-ας) weg; wenn der Endung -ēs (-ης) ein t (τ) vorangeht (-tēs, -της), ist die Endung -tă (-τᾰ). Beispiele: Nom. tamias (ταμίας), „Verwalter, Schatzmeister“ > Vok. tamia (ταμία); Nom. bouleutēs (βουλευτής), „Ratsmitglied“ > Vok. bouleuta (βουλευτά). In der o-Deklination wird - ähnlich dem Lateinischen - die Endung -os (-ος) zu -e (-ε): Nom. anthrōpos (Vorlage:Polytonisch) „Mensch“ > Vok. anthrōpe (Vorlage:Polytonisch). In der 3. Deklination entspricht der Vokativ fast immer dem Nominativ, es können aber Akzentverschiebungen oder Quantitätswechsel auftreten.
  • Neugriechisch: Für das Neugriechische können die obigen Regeln für das Altgriechische ungeachtet der unterschiedlichen Aussprache fast unverändert übernommen werden. Bei Nomina auf -tis (-της) endet der Vokativ aber auf -ti (-τη). Die archaische Form mit der Endung -ta (-τα) kann im gehobenen Sprachniveau sowie unter älteren oder konservativen Sprechern auch benutzt werden (siehe Katharevousa) oder zur scherzhaften Parodie dieser Sprachform dienen.

Irisch

Wie im Lateinischen betrifft die Vokativbildung nur Substantive, die der 1. Deklination angehören, welche etymologisch der lat. o-Deklination entspricht. Im Irischen ist die Nominativendung der o-Deklination (-os) seit langem geschwunden. auch die Vokativ-Endung -e ist nicht mehr vorhanden, jedoch kam es durch die Vokativendung zur Palatalisierung des Stammauslauts, welche jetzt die Vokativform anzeigt.
Im Plural der 1. Deklination tritt zudem die Endung -a im Vokativ auf.
Zusätzlich wird bei allen Substantiven der Vokativ durch eine vorgesetzte Vokativpartikel (a) angezeigt, welche den Anlaut des Substantivs verändert.
Beispiel:
Nominativ: Brian (ein Name), fear (Mann), fir (Männer)
Vokativ: a Bhriain! (Brian!), a fhir! (Mann!), a fheara! (Männer!)

Slawische Sprachen

Die nicht belegte urslawische Sprache und das seit dem Mittelalter belegte Altkirchenslawische haben den indogermanischen Vokativ fortgeführt und formenreich ausgebaut; viele dieser Formen leben in den heutigen slawischen Sprachen fort, darunter im Tschechischen, Polnischen, Obersorbischen, Bulgarischen, Makedonischen, Ukrainischen, im serbokroatischen Sprachraum und in den Dialekten des Slowakischen.

Vokativ in der Standardsprache Vokativ im Substandard (Dialekte) Vokativ verschwunden
Bulgarisch Slowakisch Niedersorbisch
Makedonisch Weißrussisch Russisch
Obersorbisch Slowenisch
Polnisch
Serbokroatisch
Tschechisch
Ukrainisch

Polnisch

Anders als im Lateinischen ist der Vokativ in den betreffenden slawischen Sprachen nahezu immer vom Nominativ verschieden. Hier einige Beispiele für die Bildung des Vokativ (poln. wołacz) im Polnischen:

Nominativ Vokativ
Pani Ewa (Frau Eva) Pani Ewo! (Frau Eva!)
Pan profesor (Herr Professor) Panie profesorze! (Herr Professor!)
Krzysztof (Christoph) Krzysztofie! (Christoph!)
Krzyś (Koseform von Krzysztof) Krzysiu!
Ewusia (Koseform von Ewa) Ewusiu!
Marek (Markus) Marku!
Bóg (Gott) Boże! (Mein Gott!)

Wenn die Person mit ihrem Namen angesprochen wird, benutzt man oft einfach den Nominativ. Grammatikalisch ist es falsch. Wenn man hier den Vokativ benutzt, kann es als gehoben klingen; es kann aber auch als sehr höflich und aufmerksam klingen, da man dem Sprecher anmerkt, dass er extra den gehobenen Ton wählte. Beispiel: „Paweł, …“ („Paul, …“) wäre die normale Alltagsanrede, während „Pawle, …“ höflich bzw. respektvoll klingt.

Weißrussisch

Im Weißrussischen wird der Vokativ überwiegend in den südlichen und westlichen Dialekten verwendet. Üblicherweise enden Wörter im Vokativ auf -o, oder seltener auf -u. Z.B.: Oma баба (Nom.) – бабо (Vok.), Mutti мама (Nom.) – мамо (Vok.), Opa дзед (Nom.) – дзеду (Vok.).

Serbokroatisch

Auch das Serbische, das Kroatische und das Bosnische besitzt den Vokativ, zum Beispiel: Frau žena (Nom.) – ženo (Vok.), Opa djed (Nom.) – djede (Vok.), Petar (Nom.) - Petre (Vok.), Aleksandar (Nom.)- Aleksandre (Vok.)

Sorbisch

Das in der Lausitz gesprochene (Ober-)Sorbisch besitzt ebenfalls einen Vokativ. Dieser tritt paradigmatisch nur bei männlichen Substantiven auf. Meistfrequentiert ist hierbei die Endung -o, doch tritt bisweilen auch -´e auf: Mann muž (Nom.) – mužo (Vok.), Opa dźěd (Nom.) – dźědo (Vok.), Peter Pětr (Nom.) – Pětrje (Vok.).

Von den Feminina hat nur ein Wort einen echten Vokativ: Mutter mać (Nom.) – maći (Vok.).

Bulgarisch

Auch im Bulgarischen existiert ein Vokativ. Er wird üblicherweise nur bei einer gewissen Vertrautheit der Gesprächspartner, also im Freundes- und Familienkreis verwendet. Obwohl es völlig üblich ist, auch weibliche, Personen bezeichnende Nomina wie z. B. Mama (мама (Nom.) – мамо (Vok.)) in den Vokativ zu setzen, wird hingegen das Setzen weiblicher Vornamen in den Vokativ als grob und unhöflich bzw. sehr ordinär angesehen (z. B. Daniela Даниела (Nom.) – Даниело* (Vok.; Achtung – beleidigend![2])).

Kurdisch

Auch im Kurmandschi-Dialekt des Kurdischen existiert ein Vokativ. Er wird mit der Endung -o bei Maskulina und -ê bei Feminina markiert. Da das Kurdische viele arabische Namen übernommen hat, werden die häufigen arabischen abgekürzt und kurdisch artikularisiert.

Beispiele:

Arabischer Name Kurdischer Vokativ
Mostafa (m) Misto
Mahmud (m) Maho
Sayyid (m) Saydo
Zaynab (f) Zaynê
Fatima (f) Fattê

Darüber hinaus kann der Vokativ ohne Vokativ-Endung, sondern mit Hilfe eigenständiger Wörter gebildet werden. Hierfür werden die Vokativ-Wörter Lo (m) und (f) benutzt.

Beispiele:

Name Vokativ
Azad (m) Lo Azad!
Diyar (m) Lo Diyar!

Im Allgemeinen enden kurdische Frauennamen ohnehin auf -ê und die Männernamen auf -o. Beispiele: Nazê, Gulê, Derdo, Şemo, Aso, Memo.

Bemerkungen

  1. Johann Christian August Heyse: Dr. Joh. Christ. Aug. Heyses Deutsche Grammatik. Oder Lehrbuch Der Deutschen Sprache. S. 586.
  2. Der Beleidigungsgrad lässt sich am Vergleich folgender Sätze ablesen: Даниела, какво зяпаш бе? (Hi Daniela, warum guckst du denn?) vs. Даниело, какво зяпаш бе? (Daniela, was glotzt du so?)

Siehe auch

Wiktionary: Vokativ – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen