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Raum (Philosophie)

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Der Raum ist eine grundlegende Komponente der Wirklichkeit. Philosophisch strittig ist, ob der Raum „an sich“, unabhängig von Wahrnehmung und Vorstellung, existiert oder lediglich eine Anschauungsform des wahrnehmenden Subjekts ist.

Allgemein

Die Raum-Vorstellung beruhte seit der griechischen Antike auf der Geometrie Euklids. Erst durch die Entwicklung von nicht-euklidischen Geometrien durch Gauß und Riemann wurde die ausschließliche Gültigkeit der euklidischen Geometrie überwunden. Auf diesen nicht-euklidischen Geometrien baute die Relativitätstheorie Einsteins auf, die unsere Vorstellung vom Raum grundlegend veränderte. Sie fügt den drei Raum-Dimensionen als vierte Dimension die Zeit hinzu und lässt so ein vierdimensionales Raum-Zeit-Kontinuum entstehen.

Bei allem Einfluss unterschiedlicher Geometrien lassen sich grundlegend drei verschiedene philosophische Raummodelle unterscheiden:

  • Absoluter Raum,
  • relationaler Raum und
  • topischer Raum.

Wird der Ort als ein Behälter gedacht, in den man etwas hineintun kann, dann spricht man von einer absoluten Raumauffassung. Zur absolutistischen Tradition des philosophischen Raumverständnisses zählt man solche Namen wie Ptolemäus, Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton u.a. Ein absolutistisches Raumverständnis geht also davon aus, dass der Raum nur eine Randbedingung des Inhaltes ist, und basiert daher auf dem Dualismus von Raum und Körper. In Absetzung zu dem absoluten Raumverständnis entwickelt sich ein relationales Raumverständnis insbesondere durch Cusanus, Bellarmin, Leibniz, Mach u.a. Einem relationalen Verständnis von Raum zufolge, ergibt sich der Raum aus der Struktur der relativen Lage der Körper. Neben diesem relationalen Raumverständnis, wie es für die westliche Moderne kennzeichnend ist, hat sich in Ostasien und insbesondere in Japan ein topisches Raumverständnis entwickelt (Nishida Kitarō 1945). Im Unterschied zum rein relationalen Raumverständnis wird der Raum nicht primär als ein Relationsgefüge verstanden, sondern vor allem als ein durch die Raumpunkte aufgespanntes Feld, dem Topos (jap. basho). Im Rahmen der „topologische Wende“ erlangt diese topische Raumaufassung zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine zunehmende Rezeption auch in der westlichen Philosophie.

Etymologie

Das Wort nhd. „Raum“ (mhd. rûm) bedeutete ursprünglich „das nicht Ausgefüllte“, „freier Platz“ (vgl. das Wort „räumen“).

Raum bei Kant

Kant vertritt in der Kritik der reinen Vernunft die Auffassung: "Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden. Er wird also als die Bedingung der Möglichkeit der Erscheinungen, und nicht als eine von ihnen abhängende Bestimmung angesehen, und ist eine Vorstellung a priori, die notwendigerweise äußeren Erscheinungen zum Grunde liegt." Der Raum wie auch die Zeit seien lediglich als "Formen der Sinnlichkeit" anzusehen und können weder durch die Erfahrung noch durch die Wahrnehmung gegeben werden. Kant umgeht mit seinem a priori-Status, den er sowohl für Raum und Zeit als auch für die Kategorien behauptet, eine wissenschaftliche Herleitung, woher wir als Menschen denn eine Vorstellung vom Raum haben.

Raum als sinnlich Gegebenes

Eine empiristische und damit zu Kants Verständnis gegenteilige Auffassung lässt sich der Medizin entnehmen. Das Gleichgewichtsorgan des Menschen, das wichtigste Organ des Lagesinns und des Gleichgewichtssinns, besteht aus einem Zentrum, um das herum sich drei mit Flüssigkeit gefüllte Ringe (Bogengänge) anordnen, die jeweils genau eine Ebene unserer Vorstellung vom Raum abdecken. Dass wir als Menschen nur den 3-dimensionalen Raum denken können, ergibt sich so aus der Anatomie dieses Organs. Diese sinnliche Wahrnehmung ist nach empiristischer Auffassung die Grundlage unserer komplexen objektiven Vorstellungen. Man kann dies auch leicht im Versuch nachvollziehen, in dem man sich für einen kurzen Moment der Schwerelosigkeit hingibt (z.B. durch Springen vom 5-Meter-Brett in einem Schwimmbad) und kurzzeitig tatsächlich den Sinn für den Raum verliert.

Felicie Affolter, eine Schülerin Piagets, hat argumentiert, dass zu den ersten Wahrnehmungen eines Menschen die der "stabilen Unterlage" gehört, die dem Ziehen der Schwerkraft einen Widerstand entgegensetzt. Dann folgen die Erfahrungen mit dem Widerstand der seitlichen Begrenzungen. Ebenfalls grundlegend sind die Erfahrungen des Umfassens und des Umfasstwerdens. Mit wachsender Reife werden diese propriozeptiven Wahrnehmungen mit den visuellen Wahrnehmungen in Verbindung gebracht. Im tausendfachen Spüren des Zusammenspiels von Körper, Schwerkraft und Gegenständen entsteht so, beim Wahrnehmungsgesunden, ein mentales Modell vom Raum.[1]

In seiner klassischen, empiristischen Behandlung des Raum-Problems in "Philosophie der Raum-Zeit-Lehre" verteidigt Reichenbach eine Auffassung vom Raum, die vor allem der Relativitätstheorie und der Entdeckung nicht-euklidischer Geometrien Rechnung trägt. Die Form und Art des Raums müssen demnach erst durch Messungen bestimmt werden. Diesen Bestimmungen wohnt aber nach Reichenbach ein nicht vermeidbares, konventionelles Element inne. Wollen wir etwa bestimmen, ob wir in einem euklidischen oder nicht-euklidischen Raum leben, so können wir diese Frage nur dann beantworten, wenn wir vorher eine so genannte Kongruenzdefinition willkürlich festgelegt haben. Erst dadurch erhält die Frage nach der Form des Raumes eine definitive Antwort. In der Folge ist es auch eine Frage der Konvention, was die Wissenschaft als "unseren" physikalischen Raum auszeichnet: eine Kongruenzdefinition mag etwa die Antwort liefern, dass wir in einem nicht-euklidischen (d.h. gekrümmten) Raum leben, eine andere liefert den euklidischen Raum unter der Annahme, dass unsere Maßstäbe an manchen Stellen des Raums schrumpfen. Nach Reichenbach ist unentscheidbar, welche der Kongruenzdefinition die "wahre" Antwort liefert, weil sie nur eine Definition ist. Diese Theorie führt auf das Problem der äquivalenten empirischen Beschreibungen. Reichenbachs Haltung ist Poincares Konventionalismus verwandt.

Literatur

  • Otto Friedrich Bollnow: Mensch und Raum. Kohlhammer, Stuttgart 1990. ISBN 3-17-018471-7
  • Jörg Dünne et al (Hgg.): Raumtheorie : Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, ISBN 9783518294000. (Inhaltsverzeichnis)
  • Alexander Gosztonyi: Der Raum. Geschichte seiner Probleme in Philosophie und Wissenschaften. 2 Bände (Orbis academicus I/14, 1 u. 2). Alber, Freiburg / München 1976 ISBN 3-495-47202-9
  • Ulf Heuner (Hg.): Klassische Texte zum Raum. Parodos, Berlin 2006 ISBN 3-938880-05-8
  • Christian Hoffstadt: Denkräume und Denkbewegungen. Untersuchungen zum metaphorischen Gebrauch der Sprache der Räumlichkeit. (Dissertation). Europäische Kultur und Ideengeschichte Bd. 3, hrsg. von Bernd Thum u. Hans-Peter Schütt. Universitätsverlag, Karlsruhe 2009. Online-Version [1] (PDF 1,3 MB).
  • Max Jammer: Das Problem des Raumes. Die Entwicklung der Raumtheorien. Übersetzt von Paul Wilpert. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1960
  • Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. 1. Auflage, "Der transzendentalen Ästhetik, Erster Abschnitt, Von dem Raume", "Der Transzendentalen Analytik, Zweites Hauptstück, Von der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe"
  • Hans Reichenbach, Philosophie der Raum-Zeit-Lehre. Englischer Originaltitel: The philosophy of space and time. Dover Publications, New York 1958.
  • Elisabeth Ströker: Philosophische Untersuchungen zum Raum. Klostermann, Frankfurt a.M. 1965 ISBN 3-465-01249-6
  • Margaret Wertheim: Die Himmelstür zum Cyberspace. Eine Geschichte des Raumes von Dante zum Internet. Übersetzt von Ilse Strasmann. Piper, München 2002. ISBN 3-250-10417-5

Siehe auch

  • Eislers Wörterbuch: Raum [2]
  • Ebenda: Realität des Raumbegriffs [3]
  • Ebenda: Kant und Raum [4]
  • Topologischer Wende [5]
  • Space and Place in Philosophy and the Humanities [6]

Quellen

  1. Félicie Affolter: Wahrnehmung, Wirklichkeit und Sprache. Neckar-Verlag, 8. Auflage 1997, ISBN 3-7883-0255-0