Verlagssystem
Das Verlagssystem ist eine seit 1400 bis ins 18. Jahrhundert vor allem in England und Flandern, aber auch in Schlesien bekannte Organisationsform der Handwerksproduktion aufgrund der Agrarrevolution und des Niedergangs des Zunftwesens in den mittelalterlichen Städten vor und während der Zeit der Manufakturen vor der Industriellen Revolution.
Im Verlagssystem bindet der Verleger, ein in der Regel städtischer Unternehmer, der die Rohstoffe und Werkzeuge beschafft und dem auf dem Lande oder in einer ländlichen Kleinstadt lebenden Nebenerwerbshandwerker zur Heimarbeit gegen Stücklohn zur Verfügung stellt, diesen vollständig an sich, weil er die Technik (z.B. Webstuhl) vorgibt, die Produktionsmethode (z.B. Klöppelmuster) bestimmt, jeden einzelnen Arbeitsvorgang (z.B. Scheren, Spinnen, Weben, Walken, Filzen, Bleichen, Färben) überwacht und den Absatz der halbfertigen und fertigen Produkte übernimmt. Die dezentral für den Verleger arbeitenden Kleinhandwerker gelten formal als selbständige Gewerbebetriebe, sind aber vom Unternehmer völlig abhängig, zumal ihre Entlohnung häufig in Rohstoffen (Trucksystem) erfolgt.
Die häufig bitterarmen Kleinhandwerker waren für den Verleger interessant, weil sie ihm in Konkurrenz zu zünftigen Handwerkern ein zusätzliches Produktionspotential eröffneten, daß durch seine Marktferne selbst den Wert seiner Produkte nur schwer einschätzen, die weitere Vermarktung der Halbfertig- und Fertigprodukte nicht übernehmen konnte und im Unterschied zu echten Selbständigen nicht über das notwendige Umlaufvermögen verfügen (oder verloren hatten), um die Rohstoffe etc. vorzufinanzieren. Oft arbeiten sie unter schlechten Licht- und Raumverhältnissen. Während der Webstuhl den größten Teil eines einzigen Raumes einnimmt, verbleibt der Familie oft nur ein kleiner Rest, in dem sie lebt, ißt und schläft. Kinderarbeit ist unter diesen Verhältnissen nicht selten, zumal der Verleger die "Schulden" seiner Heimarbeiter oft erbarmungslos auch bei seinen Kindern eintreibt, doch erfährt sie unter familiärer Obhut meist nicht die Brutalität des Frühkapitalismus.
Die Agrarrevolution vertreibt immer mehr landloses Proletariat vom Land in die Kleinstädte, wo sie vom Hunger getrieben, vor Steuer- und Pachtforderungen ihrer aristokratischen Herren auf der Flucht, ein reiches "Menschenmaterial" für die Verleger bilden. Diese Produktionsform war in der Textil- und Metallwarenproduktion besonders häufig anzutreffen.
Die Ausbeutung der wirtschaftlichen Abhängigkeit der Heimarbeiter durch den Verleger und die Gefährdung dieses ohnehin bitterarmen Proletariats durch die Produktionsmethoden der Industriellen Revolution, die sie überflüssig machten, führte zu heftigen sozialen Auseinandersetzungen, wie sie Gerhard Hauptmann in seinem Schauspiel "Die Weber" eindrücklich ins Bewußtsein rief.