Erdbeben von Lissabon 1755

Das Erdbeben von Lissabon war eines der zerstörerischsten Erdbeben, über das Aufzeichnungen existieren, und forderte nach heutigen Schätzungen mehr als 100.000 Tote (c.a 33.000 davon in Lissabon und Umgebung) Am 1. November 1755 erschütterten schwere Erdstöße die Stadt, und zerstörten zusammen mit einem Tsunami die Stadt fast vollständig. Das Beben hatte schwerwiegende, auch mittel- und langfristige Folgen.
Das Beben und seine Folgen
Chronologie der Ereignisse in Lissabon

Am Morgen gegen halb zehn des Allerheiligentages erschütterte das Erdbeben Lissabon nach Augenzeugenberichten zwischen drei und sechs Minuten lang und riss dabei meterbreite Spalten in den Boden der Stadt. Das Beben löste Brände aus, die noch tagelang anhielten und die Verwüstung noch steigerten. Nach einer kurzen Ruhephase nach dem eigentlichen Beben brach von der See her ein großer Tsunami über Teile der Stadt ein. Er löschte dort zwar die Feuer, riss aber mit seiner Wucht die noch stehenden Gebäude mit sich. Der Katastrophe fielen nicht nur ca. 33.000 Menschen in Lissabon selbst und weitere 10.000 im Rest Portugals und Nordafrika zum Opfer, sondern auch große Kulturschätze der portugiesischen Hauptstadt, unter anderem die königlichen Paläste, ein erst kurz zuvor eröffnetes großes Opernhaus und die riesige Staatsbibliothek mit über 70.000 Büchern und unwiederbringlichen Dokumenten, z.B. Aufzeichnungen von Expeditionen Vasco da Gamas. Auch viele Kirchen und das größte Krankenhaus der damaligen Zeit, das Hospital Real de Todos os Santos (königliches Allerheiligenhospital), wurden von Erdbeben, der Flutwelle oder den nachfolgenden Bränden zerstört. Bis heute stehen im Zentrum Lissabons die Ruinen des Convento do Carmo, die als Erinnerung an das Beben beim Wiederaufbau der Stadt in ihrem Zustand belassen wurden. Nur durch Zufall überlebten der König und seine Familie die Katastrophe, da sie nach der Morgenmesse des Allerheiligentages die Stadt verlassen hatten, um den Feiertag außerhalb zu verbringen.
Europäische Solidarität und Hilfe
Die Solidarität mit der Stadt am westlichen Rand Europas war groß, denn nahezu an jedem der großen europäischen Handelsplätze gab es Kaufleute, die eigene Filialen oder Geschäftspartner in Lissabon hatten. In England, das mit Portugal in einem engen Handelsverhältnis stand, gewährte das Parlament eine Soforthilfe von 100.000 Pfund.
Der Wiederaufbau
Nach dem Erdbeben wurde die Stadt in hohem Tempo wieder aufgebaut, wobei sich der königliche Minister Sebastião José de Carvalho e Mello, Marquês de Pombal große Verdienste erwarb. Beim Wiederaufbau wurde die Gelegenheit genutzt, die Stadt großzügig und durchdacht zu planen, mit schachbrettartigem Grundriss, breiten Straßen und großen Plätzen. Beim Wiederaufbau wurde versucht, die Gebäude erdbebensicher zu errichten. Dazu wurden Holzmodelle der Häuser gebaut und man ließ Soldaten um sie marschieren, um Erschütterungen zu erzeugen.
Rezeptionsgeschichte
Das Erdbeben als Auslöser einer aufgeklärten Theodizeedebatte
Das Erdbeben warf für die damaligen Philosophen und Theologen eine schwierige Frage auf: Warum war Lissabon von dem Erdbeben getroffen worden, die Hauptstadt eines des katholischsten Länder überhaupt, das sich auch für die Mission neuer Christen in der ganzen Welt eingesetzt hatte, und warum ausgerechnet am Festtag Allerheiligen? An diesem Diskurs beteiligten sich Gelehrte wie Voltaire, Kant und Lessing.
Literarische Verarbeitungen
In der Literatur wurde die Theodizeeproblematik bis heute immer wieder mit den Geschehnissen vom 1. November 1755 verknüpft. Von Voltaires philosophischem Roman Candide oder Der Optimismus (1759) und Kleists Erzählung Das Erdbeben von Chili (1807) über Reinhold Schneiders Erzählung Das Erdbeben (1932) bis zur Verwendung in Peter Sloterdijks Roman Der Zauberbaum (1985) und einem Radioessay für Kinder aus der Feder Walter Benjamins wurde das Erdbeben von Lissabon zum Sinnbild für die Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt. In Goethes Dichtung und Wahrheit im ersten Teil 1. Buch gibt es folgende Schilderung des Ereignisses:
Durch ein außerordentliches Weltereignis wurde jedoch die Gemütsruhe des Knaben zum erstenmal im tiefsten erschüttert. Am ersten November 1755 ereignete sich das Erdbeben von Lissabon, und verbreitete über die in Frieden und Ruhe schon eingewohnte Welt einen ungeheuren Schrecken. Eine große prächtige Residenz, zugleich Handels- und Hafenstadt, wird ungewarnt von dem furchtbarsten Unglück betroffen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schiffe schlagen zusammen, die Häuser stürzen ein, Kirchen und Türme darüber her, der königliche Palast zum Teil wird vom Meere verschlungen, die geborstene Erde scheint Flammen zu speien: denn überall meldet sich Rauch und Brand in den Ruinen. Sechzigtausend Menschen, einen Augenblick zuvor noch ruhig und behaglich, gehen mit einander zugrunde, und der Glücklichste darunter ist der zu nennen, dem keine Empfindung, keine Besinnung über das Unglück mehr gestattet ist. Die Flammen wüten fort, und mit ihnen wütet eine Schar sonst verborgner, oder durch dieses Ereignis in Freiheit gesetzter Verbrecher. Die unglücklichen Übriggebliebenen sind dem Raube, dem Morde, allen Mißhandlungen bloßgestellt; und so behauptet von allen Seiten die Natur ihre schrankenlose Willkür. Schneller als die Nachrichten hatten schon Andeutungen von diesem Vorfall sich durch große Landstrecken verbreitet; an vielen Orten waren schwächere Erschütterungen zu verspüren, an manchen Quellen, besonders den heilsamen, ein ungewöhnliches Innehalten zu bemerken gewesen: um desto größer war die Wirkung der Nachrichten selbst, welche erst im allgemeinen, dann aber mit schrecklichen Einzelheiten sich rasch verbreiteten. Hierauf ließen es die Gottesfürchtigen nicht an Betrachtungen, die Philosophen nicht an Trostgründen, an Strafpredigten die Geistlichkeit nicht fehlen. So vieles zusammen richtete die Aufmerksamkeit der Welt eine Zeitlang auf diesen Punkt, und die durch fremdes Unglück aufgeregten Gemüter wurden durch Sorgen für sich selbst und die Ihrigen um so mehr geängstigt, als über die weitverbreitete Wirkung dieser Explosion von allen Orten und Enden immer mehrere und umständlichere Nachrichten einliefen. Ja vielleicht hat der Dämon des Schreckens zu keiner Zeit so schnell und so mächtig seine Schauer über die Erde verbreitet. Der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte, war nicht wenig betroffen. Gott, der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den Ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen. Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen, welches überhaupt um so weniger möglich war, als die Weisen und Schriftgelehrten selbst sich über die Art, wie man ein solches Phänomen anzusehen habe, nicht vereinigen konnten. Welche Quellen Goethe hier zur Verfügung standen, ist geklärt. Laut Hamburger Ausgabe orientierte sich Goethes Beschreibung an einer Broschüre, die er im Mai 1811 aus der Weimarer Bibliothek entliehen hatte: Beschreibung des Erdbebens, welches die Hauptstadt Lissabon und viele andere Städte in Spanien und Portugal ganz umgeworfen, teils sehr beschädigt hat (1756) (HA Bd. 5, Anm. 29, S.734f.) Sicher ist wohl, daß er nicht aus eigener Anschauung dieses Ereignis verfolgt haben wird, da er zum Zeitpunkt des Ereignisses erst sechs Jahre alt war.
Quellen
- Umständliche und zuverläßige Nachricht von dem entsetzlichen und unerhörten Erdbeben, welches den 1sten Novembris dieses 1755sten Jahrs die welt-berühmte Stadt Lissabon und andere vornehme Orte betroffen : in sicheren Briefen, welche Tit. Herr Rathherr Ruffier, vornehmer Handelsmann alhier, von daher erhalten ; zur Erweckung einer wahren Furcht Gottes und christlichen Mitleidens mitgetheilet, Straßburg 1755.
- Hermann Gottlob: Lissabon, wie es ohnlängst noch im schönsten Flor gestanden, am 1. Novembr. des 1755sten Jahres aber durch ein entsetzliches Erdbeben in einen Stein-Hauffen verwandelt worden : Nebst Geographischer Beschreibung von Belem, Setubal, Coimbra, Braga, Cadix und Conil, Und einigen Betrachtungen vom Erdbeben, ingleichen auch accurater Bestimmung aller von Anfange der Welt biß auf unsere Zeiten entstandenen Erdbeben. ... Mit D. J. Olearii Gebet bey entstehenden Erdbeben ... / entworffen von M. G. H. Arch. B., Stolpen o.J. [1755?]
- Die traurige Verwandlung von Lissabon in Schutt und Asche : nachdem es den 1. November 1755 durch ein gewaltiges Erdbeben und eine darauf entstandene hefftige Feuersbrunst heimgesuchet worden / ... eine unpartheyische Feder, Frankfurt am Main o.J. [1755?]
- British Historical Society of Portugal (Hrsg.): O terramoto de 1755: testemunhos britânicos = The Lisbon earthquake of 1755: British accounts, Lisboa 1990, ISBN 972-939403-2
Literatur
- Christiane Eifert: Das Erdbeben von Lissabon 1755. Zur Historizität einer Naturkatastrophe, in: Historische Zeitschrift 274,3 (2002), S. 633–664
- Ulrich Löffler: Lissabons Fall – Europas Schrecken: Die Deutung des Erdbebens von Lissabon im deutschsprachigen Protestantismus des 18. Jahrhunderts, Berlin [u.a.] 1999, ISBN 3-11-015816-7
- Wolfgang Breidert (Hrsg.): Die Erschütterung der vollkommenen Welt. Die Wirkung des Erdbebens von Lissabon im Spiegel europäischer Zeitgenossen, Darmstadt 1994, ISBN 3-534-12079-5
Weblinks
- Kozak Collection: Lisbon, Portugal earthquake, Nov. 1, 1755 – Zahlreiche Abbildungen zum Erdbeben von Lissabon aus der Privatsammlung des tschechischen Geowissenschaftlers Jan T. Kozaks
- „Der Umsturz aller Verhältnisse“? Kleists Das Erdbeben in Chili als Beitrag zur Theodizeediskussion nach dem Erdbeben von Lissabon – Abschlußarbeit Lehramt an Gymnasien von Thomas Bott (PDF-Text)
- Das Erdbeben von Lissabon und der Katastrophendiskurs im 18. Jahrhundert (Göttingen, 6. bis 8. Oktober 2005) – Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts e.V.