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Ferdinand Tönnies

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Ferdinand Tönnies

Ferdinand Tönnies (* 26. Juli 1855 bei Oldenswort; † 9. April 1936 in Kiel, Jugend-Pseudonym: Normannus) war Soziologe, Nationalökonom und Philosoph.

Arbeitsgebiete

Ferdinand Tönnies hat 1887 mit "Gemeinschaft und Gesellschaft" als erster deutscher Wissenschaftler ein Grundlagenwerk ausdrücklich zur Soziologie vorgelegt und ist daher der Begründer (bzw. mit den jüngeren und später als er soziologisch hervor getretenen Autoren Georg Simmel und Max Weber ein Mitbegründer) der deutschen Soziologie. Erkenntnistheoretisch der Vertreter einer Einheitswissenschaft ("Monist"), trug er bedeutend zur soziologischen Theorie und Feldforschung bei. Am geläufigsten ist seine Einführung der zwei Begriffe „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ geworden. Seine publizistische Aktivität war thematisch weit gespannt und großen Umfangs, sowohl in den Bereichen der Soziologie, der Statistik und der Forschung zu Thomas Hobbes, als auch – mit republikanischer Grundüberzeugung – zu aktuellen politischen Themen (so zur Schuldfrage beim Ersten Weltkrieg und scharf gegen den Nationalsozialismus).

Hervor zu heben sind seine Studien zum Voluntarismus (er prägte diesen Begriff), zur Typologie, zum sozialen Wandel, zur öffentlichen Meinung, zu den Themen der Sitte, der Kriminalität und des Suizids, zur Methodologie der Statistik (Tönnies’ Korrelationskoëffizient), sowie seine Neubelebung der internationalen Hobbes-Diskussion (mit Herausgabe von dessen ungedruckten Manuskripten).

Leben

Ferdinand Tönnies ist der einzige Klassiker der deutschen Soziologie, der nicht aus großstädtischem Milieu, sondern aus einer (groß)bäuerlichen Familie kommt - daher auch sein realistisches Verhältnis zur "Gemeinschaft". Er wurde auf dem Haubarg Die Riep bei Oldenswort (auf Eiderstedt im damals dänischen Herzogtum Schleswig) als Sohn des Marschbauern August Tönnies und der Pastorentochter Ida Mau geboren. Die Familie verzog dann ins nahe Husum. Damit kommt ein zweites Element seiner sozialen Herkunft hinein: Nordfriesland (auch die Reederstadt Husum) war damals durch Walfang und Überseehandel stärker als heute der Seefahrt zugewandt, also keinesfalls bäuerlich oder kleinstädtisch 'eng'.

In Husum freundete sich der hochbegabte Gymnasiast mit der späteren Schwabinger Malerin und Autorin Franziska zu Reventlow an und arbeitete als Korrekturgehilfe von Theodor Storm, mit dem ihn später Verehrung und Freundschaft verbanden. Storms Einfluss ("auch bleib' der Priester meinem Grabe fern") begünstigte sein lebenslang distanziertes Verhältnis zur Religion, das sich annäherungsweise als monistisch und spinozistisch kennzeichnen lässt - ein Frühaufklärer in der Spätaufklärung, der kundig auf die Antike zurückzugreifen wusste.

Bereits mit 16 Jahren bestand Tönnies die Abiturprüfung (mit den Fremdsprachen Griechisch, Latein und Dänisch). 1872 begann er ein Studiums der Philologie und Geschichte in Jena, Leipzig, Bonn, Berlin und Tübingen und promovierte 1877 (noch auf Latein) über das Orakel des Zeus Ammon in der ägyptischen Oase Siwa zum Dr. phil. Die (bis zur Inflation 1923) wohlhabenden Vermögensverhältnisse seiner Familie erlaubtem ihm ein privates Studium der Philosophie und Staatswissenschaften; auf Anregung seines älteren Freundes Friedrich Paulsen wandte er sich Thomas Hobbes zu und machte 1878 in England wichtige Archiventdeckungen zu dessen Leben und Werk; er kann als Hobbes' europäischer Wiederbeleber beurteilt werden. 1878 bis 1879 war er eifriges Mitglied des Statistischen Bureau in Berlin und Schüler von Ernst Engel, Richard Böckh und Adolph Wagner. 1881 habilitierte er sich an der Universität Kiel. Nach 1883 reiste er viel. 1887 brachte er sein - für die Soziologie nicht nur in Deutschland - fundamentales Werk "Gemeinschaft und Gesellschaft" (GuG) heraus. Seine Studien das Hamburger Hafenarbeiterstreiks von 1897 trugen ihm das dauernde Misstrauen der preußischen Hochschulaufsicht ein. 1904 bereiste er anlässlich der Weltausstellung die USA. 1909 wurde die Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) von ihm mit begründet. Die zweite Auflage von GuG von 1912 wurde ein bedeutender Erfolg.

Erst 1909 wurde er a.o. Professor der Universität Kiel, 1913 dann Ordinarus, 1916 auf eigenen Wunsch emeritiert (entpflichtet). Ab 1920 nahm er einen Lehrauftrag für Soziologie in Kiel wahr. 1922 Neuerrichtung der DGS, deren einziger Präsident er bis zu seinem Sturz 1933 blieb. Er war inzwischen in Europa und Nordamerika in seinem Fach, der Soziologie, hoch angesehen und wurde Mitglied und Ehrenmitglied vieler ausländischer soziologischer Gesellschaften und Institute. Am schärfsten unter den etablierten deutschen Soziologen kritisierte er öffentlich ab 1930 die 'Bewegung' Hitlers. 1933 vom nationalsozialistischen Regime aus dem Beamtenstand unter Streichung seiner Emeritenbezüge entlassen, verarmte er rasch und musste seine Bibliothek großenteils verkaufen. Seine wichtigsten Schüler emigrierten. Er lebte in all diesen Jahren in Hamburg, dann im damals preußischen Altona, im damals oldenburgischen Eutin und zuletzt in Kiel, wo er am 9. April 1936 starb. (Zahlreiche Lexika geben den falschen Todestag "11.4." an.)

Dort auf dem Friedhof "Eichhof" steht sein Grabstein und in Oldenswort sein Denkmal (bis 2005 das einzige für einen deutschen Soziologen). Sein umfangreicher Nachlass wird von der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel betreut.

Zur Wirkung

Tönnies wirkte ab etwa 1900 auf die Intelligenz des späten Kaiserreiches und der Weimarer Republik stark, vor allem, weil mit der Jugendbewegung der Begriff "Gemeinschaft" Viele zu beschäftigen begann. Unmittelbar war er auf Soziologen wie z.B. Herman Schmalenbach, Max Graf Solms und Rudolf Heberle einflussreich. Insgesamt lebte er jedoch in der englischsprachigen (USA, Australien, Neuseeland) und der japanischen Soziologie auffälliger als in der deutschen weiter.

In den USA hat namentlich Talcott Parsons die normaltypischen Eigenschaften von "Gemeinschaft" bzw. "Gesellschaft" idealtypisch für seine fünf pattern variables benutzt. Rudolf Heberle hat Tönnies' Ansatz für seine Studien über Massenbewegungen verwandt, Werner J. Cahnman ihn mit dem von George Herbert Mead verbunden. In Japan ist Shoji Kato zu nennen, in Russland jüngst Rimma Shpakova, in Spanien Ana Isabel Erdozain.

Anders in Deutschland: Max Webers Ruhm begann schon in der Weimarer Republik, den seinen zu überstrahlen. Im 'Dritten Reich' war Tönnies als Gegner selbstverständlich persona non grata, sein "Geist der Neuzeit" erschien 1935 fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit, und er wich mit Publikationen u.a. nach Frankreich und in die Niederlande aus. Seine Rezeption in der deutschen Soziologie riss Jahre lang ab (ähnlich wie die Georg Simmels).

In der Bundesrepublik Deutschland griff nach dem Zweiten Weltkrieg (nach dem Missbrauch des "Gemeinschafts"-Begriffs im Nationalsozialismus alarmiert) der zunächst einflussreiche René König den tönniesianischen Ansatz früh, energisch, mit Verzeichnungen, aber erfolgreich an, während der ebenfalls wirkungsstarke Helmut Schelsky ihn überging. Die Frankfurter Schule würdigte Bewunderer von Karl Marx nicht, die keine Marxisten waren; so auch die Soziologie in der DDR (Ausnahme: Günther Rudolph). Erst 1980 brach das (erste) "Tönnies-Symposion" in Kiel wieder das Eis, so dass er in die deutsche soziologische Theoriedebatte zurückkehrte (vgl. neben den Herausgebern der TG - s. u. - zumal (alphabetisch) Arno Bammé, Stefan Breuer, Dieter Haselbach, Michael Günther, Klaus Lichtblau, Peter-Ulrich Merz-Benz, Arno Mohr, Frank Osterkamp, Rainer Waßner, Jürgen Zander). Der Forschungsfortgang wird von der Zeitschrift "Tönnies-Forum" begleitet.

Werk

Tönnies war ein ungemein fleißiger Autor, seine theoretischen und empirischen Schriften, seine Rezensionen, seine vielfältigen Stellungnahmen zu Zeitproblemen - stets deutlich wissenschaftlich fundiert, obgleich er auch eine gute Klinge zu schlagen wusste - füllen die im Erscheinen begriffenen 24 Bände der Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe (TG, im Auftrag der Ferdinand-Tönnies-Gesellschaft (FTG) kritisch ediert von Lars Clausen, Alexander Deichsel, Cornelius Bickel, Rolf Fechner und Carsten Schlüter-Knauer, Berlin/New York (Walter de Gruyter) 1998 ff.).

Im Einzelnen seien genannt:

Sekundärliteratur

Generell

  • Als Bibliografie unverzichtbar ist: Rolf Fechner, Ferdinand Tönnies. Werkverzeichnis, in: [Tönnies im Gespräch 1], Berlin/New York: Walter de Gruyter 1992.
  • Einführend siehe z.B.: Dirk Kaesler (Hg.), Klassiker der Soziologie, München 2000.
  • Zweimal jährlich erscheint das Tönnies-Forum.

Untersuchungen

  • E. G. Jacoby, Die moderne Gesellschaft im sozialwissenschaftlichen Denken von Ferdinand Tönnies, Stuttgart: Enke 1971
  • Cornelius Bickel, Ferdinand Tönnies. Soziologie als skeptische Aufklärung zwischen Historismus und Rationalismus, Opladen: Westdt. Verlag 1991
  • Lars Clausen / Carsten Schlüter (Hg.), Hundert Jahre "Gemeinschaft und Gesellschaft". Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion, Opladen: Leske + Budrich 1991
  • Günther Rudolph, Die philosophisch-soziologischen Grundpositionen von Ferdinand Tönnies, Hamburg: Fechner 1995
  • Peter Ulrich Merz-Benz, Tiefsinn und Scharfsinn. Ferdinand Tönnies' begriffliche Konstitution der Sozialwelt, Frankfurt am Main 1995. Der Band erhielt den Amalfi-Preis
  • Rolf Fechner / Lars Clausen / Arno Bammé (Hg.), Öffentliche Meinung zwischen neuer Religion und neuer Wissenschaft. Ferdinand Tönnies' "Kritik der öffentlichen Meinung" in der internationalen Diskussion, in: [Tönnies im Gespräch 3], München/Wien: Profil 2005, 303 S. ISBN 3-98019-590-3

Biografie