Benutzer:Wiesenthal/Germanische Schicksalsvorstellungen
Über die germanischen Schicksalsvorstellungen lässt sich kein klares Bild mehr gewinnen. Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft ist es nicht möglich, aus den vorhandenen Quellen die christlichen und heidnisch-antiken Einflüsse so herauszufiltern, dass die heidnisch-germanische Schicksalsidee greifbar wird. Zweifellos gab es germanische Schicksalsvorstellungen, wie eine Vielzahl germanischer Schicksalsbegriffe eindrucksvoll belegt. Doch offensichtlich waren die damit verbundenen Schicksalsvorstellungen nicht so ausgeformt, dass sie eine konkrete religiöse Bedeutung hatten. Denn diese Begriffe wurden von christlichen Autoren in der Missionierungszeit weiterverwendet und im Laufe der Zeit christlich ausgestaltet. Fatalistische Überzeugungen wird man den Germanen demnach unterstellen können, jedoch keinen religiösen Glauben an eine Schicksalsmacht. Der germanische Schicksalsglaube ist ein Phantom des 20-sten Jahrhunderts. Quellen ab dem Hochmittelalter lassen tiefere Einblicke in damalige Schicksalsvorstellungen zu, ohne dass genau bestimmt werden kann, was daran christlich und was daran heidnisch ist. Dazu gehören Vorstellungen, dass alles so kommt, wie es kommen muss, und dass jeder Mensch von Geburt an sein Schicksal zugemessen bekommt. Unklar ist dabei auch die tatsächliche Bedeutung der Schicksalsfrauen, die man bei den Nordgermanen Nornen nannte und die bei den Westgermanen auf rätselhafte Weise mit den Matronen verknüpft sind.
Forschungslage
Nach heutigem Stand der Wissenschaft ist es unmöglich, ein Schicksalskonzept zu ermitteln, das eindeutig germanischen Ursprungs ist. Schuld daran hat die Quellenlage. Die ältesten Beschreibungen über heidnische Schicksalsauffassungen stammen von missionierenden Christen, die noch lebendigem germanischem Heidentum begegneten. Naturgemäß hatten sie aber kein Interesse, unchristliche Inhalte zu verbreiten. Die heidnischen Vorstellungen dienten den Autoren lediglich als Sparringpartner der christlichen Wahrheiten, zur Demonstration der Überlegenheit des Christentums. Darüber hinaus übernahmen die Christen heidnische Schicksalsbegriffe, gossen aber antiken oder christlichen Geist in sie hinein. Vielschichtigere Einblicke gewähren zwar die nordischen Texte der Eddas, die isländische Sagaliteratur und mittelalterliche Heldenlieder, doch ist es auch hier der Forschung nicht mehr möglich, die christlichen oder antiken Einflüsse auf die überlieferten Texte herauszufiltern.[1]
Verworfen wurden deswegen eine Reihe von wissenschaftlichen Aussagen zu den germanischen Schicksalsvorstellungen, insbesondere zum germanischen Schicksalsglauben, die jahrzehntelang die wissenschaftlichen Grundfesten bildeten. Die Durchdringung des Themengebiets rechnet man zu den schwierigsten Aufgabenstellungen der germanischen Altertumskunde.
Schicksalsvorstellungen
germanische Vorstellungen
Altnordisch | Althochdeutsch | Angelsächsisch | Altsächsisch | Germanisch | Bedeutung | Bedeutung idg. Wurzel |
---|---|---|---|---|---|---|
mjǫtuðr M „Schicksalsbeherrscher, Schicksal, Tod“ | metod | metod, meotod, metud, meotud „Schicksal, Schöpfer, Gott“ | metod, metud „Gott, Schicksal“[2] | *metoduz „Maß, Schicksal“ | Schicksal + Maß | *med- „messen“ |
ørlǫg PL-Neu „Schicksal, Tod, Kampf“ | urlag „Schicksal, Bestimmung, Schicksalsordnung, Schicksalsgöttin, Los“ | orlæg, orleg „Schicksal“, orlege „Kampf, Krieg“ | (orlag) „Krieg“[3] | *uzlagaz, uzlagam „Schicksal, Geschick“[4] | Schicksal + Krieg[5] | *legh- „sich legen, liegen“ |
rǫk PL „Darlegung, Grund, Verlauf, Schicksal“ | - | - | - | *rako „Auswicklung, Erzählung“ | Schicksal + (Auswicklung, Erzählung)[6] | *reg- „richten, lenken, recken, strecken, Richtung, Linie“ |
skǫp „männliches Glied“, skap „Gestalt, Beschaffenheit, Sinn, Laune“ | giscap, giscaf „Beschaffenheit, Erschaffung, Hervorbringung“ | gesceap, gesceaf „Schöpfung, Geschöpf, Beschaffenheit, Dasein, Schicksal“ | (gi)skap „Geschick, Schöpfung, Aussehen“, giskaft „Bestimmung“ | *(ga)skapam „Beschaffenheit, Ordnung“ | Schicksal + Beschaffenheit, Ordnung[7] | *skap- „schneiden, spalten“ |
urðr „Schicksal, Schicksalsgöttin; Unglück, Ereignis, Tod“ | wurt „Geschick, Zufall, Glück, Schicksal, Los“ | wyrd „Schicksal, Bestimmung, Geschick, Vorsehung, Ereignis, Tatsache, Bedingung“ | wurd „Schicksal, Tod“ | *wurdiz „Schicksal, Geschick“ | Schicksal, gewendet + Tod | *uert- „(um)drehen, wenden“ |
durchwegs negativ besetzte schicksalsbegriffe (sim 9)
*metoduz bildet sich aus indogermanisch *med- „messen“ und einem Suffix -tu-, das eine Macht anzeigt, der der Mensch ausgesetzt ist. Da es aktiv und männlich ist, bezeichnet es die Macht, die das Schicksal zumisst.
mjǫtuðr zwar älter, aber noch nicht in skaldik belegt, erst in edd texten: das schicksal zumessende macht. hoch-ma-licher tendenzen einer entpersonalisierung der heidn schicksalsbegrffe, => keine quellen für unpersönl schicksalsmacht. (sim 9-10)
METUD: die zumessende, zuteilende Kraft. Abstraktbildung mit Suffix idg. -tu-, die in germ Zeit nicht mehr produktiv war (subj. Bezug, etw. Daseiendes, etw. sich potentiell Manifestierendes => Potenzen und Mächte, denen der Mensch unterworfen ist. Vgl. got dauþus "Tod", lustus "Lust", ahd. durst "Durst".[8]
mjǫtuðr, männlich "Schicksalsbeherrscher; Schicksal, Tod" got. mitaþs "maß", ae meotod "schicksal, gott", as metod "messer, ordner, schicksal", eigentlich "der Zumessende"[9]
WURD 1) das ewige Werden 2) die Werdung (im konkreten Fall): wurdiz = Verbalabstraktum mit Suffix germ/idg. -i- von "werden", vgl. lat. vetere "wenden, rollen" => zklischer Ablauf des Geschehens (Drehung des Schicksalsrads)[10]
*Wurdiz ist ein weibliches Abstraktum, das aus dem indogermanischen Verb *uert- „(um)drehen, wenden“ und Suffix -i- bildete.
Die Weiterverwendung der von wyrd durch christliche Autoren beweist, dass wyrd keine heidnische Schicksalsmacht bezeichnete, sondern ein Begriff ohne konkrete heidnisch-religiöse Vorbelastung war. wyrd bezeichnete demnach in heidnischer Zeit nur unbestimmt mit Schicksal die Erfahrung eines selbst nicht bewirkten Geschehens, aber auch noch ein Geschehen ganz allgemein (Weber: 132 f.) In christlicher Zeit bezeichnete ist überwiegend das Geschehen als Ausdruck des ununterbrochenen Wandlungsprozesses der Schöpfung nach dem göttl Heilsplan (Weber 146).
In der gesamten westgerm Überlieferung steht keine Norne hinter wurd/wyrd/wurt (Weber 145)
christl konzept dagegen ist göttl vorhersehung (prädestination) (uns verbietet die hl. schrift an zufall oder ein schicksal zu glauben) (sim 8)
Die breite Bezeugung dieser Schicksalsbegriffe belegt, dass die dahinter stehenden Schicksalsvorstellungen noch aus urgermanischer Zeit stammen müssen, ohne dass sich aus den Begriffen ergibt, ob sich dahinter eine Schicksalsmacht oder sogar ein Glaube an sie verbirgt.
Immerhin haben andere indogermanische Völker eine Macht angenommen, die über dem Wirken der Götter steht.
Indiens Götterwelt ist apersonalen Mächten untergeordnet,
- nämlich dem rtam (‚der rechten Ordnung‘),
- dem karma (‚Wirken, Tat‘, jede Handlung hat eine Folge, universales Prinzip der Tatvergeltung)
- und samsara; (‚beständiges Wandern‘ Kreislauf der Wiedergeburten)
- im alten Iran ist es Zurvan, der Gott der Zeit, der alles bestimmt (alles verordnend, alles vor-ordnend); (Zurvan ist der Schöpfergott in der zurvanistischen Sonderform des Zoroastrismus. Als Personifikation von Zeit und Ewigkeit galt er dort als Vater des Ahura Mazda und seines Widersachers Angra Mainyu.)
- die Griechen personifizierten die Schicksalsmacht durch die Göttin Moira (Moira = Anteil, das, was jedem zugeteilt ist), der sich auch Zeus beugen musste, (Bei Homer sind sogar die Götter gegenüber den Moiren ohnmächtig. Darin zeigt sich ein voll ausgebildeter Fatalismus. Allerdings wird diese Position in den homerischen Epen nicht konsequent vertreten.)
- während die Römer das alles regierende und unausweichliche Fatum (‚den Spruch des Schicksals‘, unausweichlich, alles regierend) kannten.
- => höherrangige Position der Schicksalsmacht allen anderen Mächten gegenüber
(vgl. Attraktivität des Christengottes: Herr über das Schicksal, in seiner Hand steht jd Menchen Geschick)
- Schicksal = Meotod => Gott => Gottes Macht = Schicksals Macht metudaes maecti (altenglischer Hymnus um 670)
[Verbindung zu Zeit = Leben, Lebensverlauf und Tod, Verbindung zu Wiederkehr]
[11] Eine gemeinsame Idee lässt sich dahinter nicht ohne Weiteres finden, doch das Bestreben, eine Macht über den Göttern zu denken, scheinen schon die Indogermanen unternommen zu haben. Dafür gibt es auch in anderen Kulturen viele Beispiele.

Spätere Vorstellungen
a) Was geschehen soll, geschieht. (St249)
Was diese Schicksalsvorstellung kennzeichnet, lässt sich mit einem Satz ausdrücken: Es kommt so, wie es kommen muss. Was geschehen soll, wird geschehen.
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Schicksal steht über Zufall.(St250) Man soll das tun und kann das nicht vermeiden, was bestimmt ist. (St250) Der Held hat die Aufgabe ganz in Übereinstimmung mit dem Verhängnis zu handeln. (St255) Wille und Schicksal können aber gegeneinanderstehen. (St251)
b) Jeder hat sein eigenes Schicksal von Geburt an (St251)
c) Man soll sein Schicksal nur durch rechte Mittel erkennen wollen. (St253) => Opfer, Seherinnen (St258 f.)
Die Schicksalsmacht
Macht | Verhalten | Angelsächsisch |
---|---|---|
Schicksal | Unterwerfung | Das Schicksal kann durch Zauber zwar erfahren werden, aber nicht abgeändert werden. |
Götter | kultische Verehrung | - |
übermenschliche Wesen, Menschen | ritueller Aufwand | Unklar ob auch kultische Verehrung im Rahmen von Ahnenkult |
Personifizierte Schicksalsmächte in der westnordischen Überlieferung
Nornen
Walküren
Personifizierte Schicksalsmächte in der westgermanischen Überlieferung
Drei Frauen/Matronen
Vielleicht zwei verschiedene Themenkreise, die Schicksalsfrauen und die guten Göttinnen... => Simek
Disen?
Schicksalsglaube oder Weltanschauung
Die große Verbreitung der drei Schicksalsfrauen in der germanischen Welt und die Vielzahl an Begriffen, die in den germanischen Sprachen für Schicksal stehen konnten, führt zu der schwer zu beantwortenden Frage, ob die Germanen tatsächlich religiös an eine Schicksalsmacht geglaubt haben.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren sie ein beliebter Forschungsgegenstand. Überwiegend in der Zeit des Dritten Reichs. Die zahlreichen Publikationen zum Thema in der Zeit des Dritten Reiches[13] gingen überwiegend von einem germanischen Schicksalsglauben aus. Sie gipfelten in den Ausführungen Hans Naumanns zum heroischen Pessimismus: Der Germane ergibt sich wie die nordischen Götter nicht tatenlos dem übermächtigen Schicksal, sondern er handelt und geht heldenhaft in dem ihn vorbestimmten Tod.[14] Doch spiegelte Hans Naumann eher den Geist seiner Zeit, als die Vorstellungen seiner Vorfahren. Die Ideen fanden großen Anklang unter Nationalsozialisten und wurden für ihre Zwecke missbraucht.
Nach heutigem Forschungsstand lässt sich ein echter germanischer Glaube an eine Schicksalmacht nicht belegen.
Altenglische Beschreibungen über wyrd wurden beispielsweise vom Verständnis der antiken Fortuna bestimmt (Gerd Wolfgang Weber, siehe oben).[15] Auch die Vorbestimmungslehre von Gottschalk von Orbais, der man längere Zeit ein hohes Maß an heidnischem Gedankengut zubilligte, fußt auf christlichen Ideen, nämlich auf der augustinischen Prädestinationslehre.[16] Erst in späterer, aber schon gutchristlicher Zeit lassen mittelalterliche Heldenlieder und isländische Sagas tiefere Einblicke in die Vorstellungswelt des Schicksals zu, ohne dass man auch hier in der Lage wäre, den christlich-mittelalterlichen Einfluss genau einschätzen zu können.[1] Immerhin deutet die Edda-Literatur, insbesondere die Vǫluspá, und der Sagaliteratur darauf hin, dass die Germanen tatsächlich an ein Schicksal oder eine Schicksalsmacht glaubten.[16]
Umgang mit dem Schicksal
Fatalismus
Glaube an die eigene Macht und Stärke
Schicksal in der Vǫluspá
Quelle

Die Vǫluspá lässt an mehreren Stellen durchscheinen, dass neben den Göttern noch eine weitere Macht ihr Wirken aufnimmt, nämlich die Schicksalsmacht. Als Askr und Embla noch Holz und noch nicht Mensch waren, waren sie noch schicksalslos (ørlǫglausa).[17]Die Götter schufen zwar aus den beiden Hölzern die ersten Menschen, aber ihr Schicksal teilten ihnen die Nornen zu. Ihre Aufgabe bestand darin, darüber zu bestimmen, welches Leben ein Mensch führen wird und welches Schicksal (ørlǫg) ihn ereilt.[18] Beschrieben werden sie als drei Mädchen (meyjar), also Jungfrauen, deren Heimat die Quelle der Urðr am Weltenbaum Yggdrasil ist. Ihre Namen lauten Urðr ‚Schicksal, Tod‘, wörtlich ‚das Gewordene‘, Verðandi ‚das Werdende‘ und Skuld ‚das Gesollte‘. Außerhalb der Schöpfungsgeschichte verwendet der Dichter der Vǫluspá den Begriff ragnarǫk für das Endzeitgeschehen, in dem die alten Götter im Kampf untergehen.[19] Ragnarǫk bedeutet wörtlich übersetzt ‚Schicksal der Götter‘. Als diese Zeit anbricht, heißt es mjǫtuðr kyndisk ‚das Schicksal entflammt‘.[20] Damit bindet die Vǫluspá wesentliche nordische Schicksalsbegriffe wie mjǫtuðr, ørlǫg und urðr in den von ihr erzählten Lauf des Weltgeschehens ein.
Die Schicksalsmacht
Die Vǫluspá geht anscheinend von einer Schicksalsmacht aus, die über allem steht und einer höheren Ordnung angehört. Nicht nur den Menschen wird eine Bestimmung und ein Schicksal gegeben, sondern auch die Götter haben eine schicksalshafte Vorbestimmung, die sie nicht ändern können und die sich schlussendlich erfüllt. Im Rückschluss ergibt sich daraus, dass die Schicksalsmacht mächtiger als ihre eigene Macht ist und sie ihr unterworfen sind.[21] Diese Schicksalsmacht wird in der Vǫluspá personifiziert durch die drei Nornen Urðr, Verðandi und Skuld.
Die Namen der drei Nornen stammen wohl erst aus mittelalterlicher Zeit. Verðandi ist in der westnordischen Literatur sonst nicht belegt, Skuld nur noch als Name einer Walküre. Auch der Nornenname Urðr, der in der Wissenschaft zum Teil bis heute als alter Name gilt, ist nicht älter als die Namen der anderen zwei Nornen. Forscher des 20. Jahrhunderts führten Urðr auf einen urgermanischen Namen zurück, da der altenglische Schicksalsbegriff wyrd, der altnordisch urðr entspricht, zum Teil in der altenglischen Literatur als Person gebraucht wurde. Gerd Wolfgang Weber zeigte jedoch, dass man zu diesem Ergebnis nur kommen konnte, in dem man sich allein auf Wortetymologien stützte, ohne Berücksichtigung der Textzusammenhänge in denen wyrd verwendet wurde. Wyrd ist demnach ein altenglischer Begriff, der zwar ‚schicksalshaftes Geschehen, Schicksal‘ bedeuten konnte, aber nicht religiös von den Heiden vorbelegt war, so dass ihn die Christen übernehmen konnten und mit den christlichen Vorstellungen des aus der Antike übernommenen Schicksalskonzepts der fortuna fatalis neu ausfüllten.[22] Das als Person gedachte Wyrd ist demzufolge eine christliche Schöpfung, die nicht auf eine heidnische mythische Gestalt zurückgeht. Der Nornenname Urðr hingegen taucht meist im Zusammenhang mit der Quelle Urðrbrunnr auf und dieser wird häufiger als die Norne genannt, so dass anscheinend der Brunnenname auf die Norne überging. Demnach wäre der Name des Brunnens als urðrbrunnr ‚Quelle des Schicksals‘ zu übersetzen.[23] Das Namenskonzept der drei Nornen stammt vermutlich aus vergleichbaren mittelalterlichen Vergangenheit-Gegenwart-Zukunfts-Konzepten der drei Moiren beziehungsweise Parzen.[24]
Gleichwohl scheinen die drei Jungfrauen an der Quelle des Schicksals wohl aus alter Zeit zu stammen, da der Vorstellungskomplex dreier Schicksalsfrauen nicht nur in der westnordischen Volksüberlieferung sehr verbreitet ist.[25] Im Ergebnis sind somit die Namen der Nornen sehr jung, aber ihre Dreiheit und ihre Aufgaben können auf älteren Vorstellungen beruhen.
Zur Schicksalsmacht in Gestalt der drei Nornen gehört in der Vǫluspá neben dem mythischen Bild der Schicksalsquelle am Weltenbaum, auch der Weltenbaum selbst, da er ebenso wie die Nornen zu einer Ordnung gehört, die dem Wirken der Götter entzogen ist, und demnach der Sphäre der Schicksalsmacht zugeordnet werden kann.[26] Denn der Weltenbaum keimt schon vor der Schöpfung unter der Erde[27] und er überlebt das Endzeitgeschehen der Ragnarǫk. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Vǫluspá den Weltenbaum in ihrer Einleitung (mjǫtvið), den ‚Maßbaum‘ nennt.[27] Mit mjǫt ‚Maß‘ beginnt auch der nordische Schicksalsbegriff mjǫtuðr, der eigentlich ‚der Schicksalszumessende‘ bedeutet.[28]
Verwunderlich ist, dass die Vǫluspá keine unmittelbare Begegnung zwischen den Göttern, die die Welt erschaffen, und den Nornen, die ihr Schicksal bestimmen und ihnen ihren Willen aufzwingen, beschreibt und nichts näher darüber sagt, wie sich die beiden Mächte zueinander verhalten. Die einzige Stelle in der Schöpfungsgeschichte der Vǫluspá, die darauf anspielen könnte, sind jene dunklen Verse, in denen drei Thursinnen aus Riesenheim das Ende des goldenen Zeitalters heraufbeschwören.[29] Auch diese werden wie die Nornen als Jungfrauen bezeichnet, auch sie bilden eine Dreiheit und auch sie bestimmen den Lauf der Dinge und dennoch befremdet, dass sie die Vǫluspá als Thursen, als böse übelwollende Riesinnen bezeichnet. Das religiöse Konzept dreier heiliger Frauen, das nicht nur auf die nordische Welt beschränkt ist, weist sie überwiegend als beschützend, wohltätig und mütterlich aus. Aber vielleicht haben sie eine helle und eine dunkle Seite,[30] so wie das Leben aus der Erde kommt und schlussendlich wieder in sie zurückgeht.
Fragmente
umfassen Anschauungen und Umgang der Germanen hinsichtlich der Schicksalsidee. Schicksal meint dabei sowohl das Geschehen, das in des Menschen Leben entscheidend eingreift, ohne dass er es beeinflussen könnte (Verhängnis), als auch die Macht, die dieses Verhängnis verantwortet (Schicksalsmacht). Für die Forschung ist der gesamte Themenkreis jedoch auf Grund der schlechten Quellenlage dunkel und fragwürdig. Das beinhaltet schon die Inhalte der germanischen Schicksalsvorstellungen, als auch das Verhältnis zwischen Mensch und Schicksalsmacht (religiöser Glaube oder Weltanschauung) und darüber hinaus die menschlichen Strategien gegenüber dem Schicksal (Fatalismus, Auflehnung, Glauben an die eigene Macht und Stärke).
In den vorhandenen Quellen sind heidnische und christliche Schicksalsvorstellungen untrennbar miteinander
Literatur
In der Reihenfolge des Erscheinungsjahrs.
- Gerd Wolfgang Weber: Wyrd – Studien zum Schicksalsbegriff der altenglischen und altnordischen Literatur. Verlag Gehlen, Bad Homburg – Berlin – Zürich 1969.
- Åke Viktor Ström, Haralds Biezais: Germanische und Baltische Religion. Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1975, ISBN 978-3-170-01157-1.
- Hilda Roderick Ellis-Davidson: Pagan Europe – Early Scandinavian and Celtic Religions. Manchester University Press, 1988, ISBN 978-0-7190-2579-2. In Auszügen Online
- Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6. Online
Einzelnachweise
- ↑ a b Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6, S. 8 f. – Heinrich Reichert: Held, Heldendichtung und Heldensage, § 2-6. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 14. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-11-016423-7, S. 269
- ↑ metod bedeutete im Altsächsischen Schicksal und Gott
- ↑ orlag bedeutete im Altsächsischen nicht mehr Schicksal, sondern nur noch Krieg.
- ↑ *uzlagam enthält germanisch lagam ‚Gesetz‘
- ↑ *uzlagaz, uzlagam bedeutete im Germanischen nur ‚Schicksal‘.
- ↑ Altnordisch ‚Schicksal‘, germanisch ‚Auswicklung, Erzählung‘
- ↑ *skapam bedeutete im Germanischen noch nicht ‚Schicksal‘, sondern ‚Beschaffenheit, Gestalt‘, ‚Ordnung‘ geht zurück auf *skapiz.
- ↑ Wolfgang Meid: Die germanische Religion im Zeugnis der Sprache. In: Heinrich Beck, Detlev Ellmers, Kurt Schier (Hrsg.): Germanische Religionsgeschichte – Quellen und Quellenprobleme – Ergänzungsband Nr. 5 zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-110-12872-7, S. 491
- ↑ Jan de Vries: Altnordisches Etymologisches Wörterbuch. 2. Auflage. Brill Archive, Bd. 1, S. 390
- ↑ Wolfgang Meid: Die germanische Religion im Zeugnis der Sprache. In: Heinrich Beck, Detlev Ellmers, Kurt Schier (Hrsg.): Germanische Religionsgeschichte – Quellen und Quellenprobleme – Ergänzungsband Nr. 5 zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 1999, ISBN 978-3-110-12872-7, S. 490 f.
- ↑ Hans-Peter Hasenfratz: Die religiöse Welt der Germanen – Ritual, Magie, Kult, Mythus. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1992, ISBN 3-451-04145-6, S. 112. Vergleiche auch Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 251
- ↑ Hans-Peter Hasenfratz: Die religiöse Welt der Germanen – Ritual, Magie, Kult, Mythus. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1992, ISBN 3-451-04145-6, S. 113.
- ↑ Übersicht bei Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 249
- ↑ Bernhard Maier: Die Religion der Germanen – Götter, Mythen, Weltbild. Verlag Beck, München 2003, ISBN 978-3-406-50280-4, S. 149. Hans Naumann: Germanischer Schicksalsglaube. Jena 1934.
- ↑ Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin, New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6, S. 9. Gerd Wolfgang Weber: Wyrd. Studien zum Schicksalsbegriff der altenglischen und altnordischen Literatur. 1969.
- ↑ a b Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6, S. 9
- ↑ Lieder-Edda: Vǫluspá 17
- ↑ Lieder-Edda: Vǫluspá 20
- ↑ Lieder-Edda: Vǫluspá 44
- ↑ Lieder-Edda: Vǫluspá 46
- ↑ Vergleiche: Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6, S. 9 – Bernhard Maier: Die Religion der Germanen – Götter, Mythen, Weltbild. Verlag Beck, München 2003, ISBN 978-3-406-50280-4, S. 62 f. – Hans-Peter Hasenfratz: Die religiöse Welt der Germanen – Ritual, Magie, Kult, Mythus. Verlag Herder, Freiburg i. Br. 1992, ISBN 3-451-04145-6, S. 113 f. – Hilda Roderick Ellis-Davidson: Pagan Europe, 1988, S. 163 ff.
- ↑ Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 65 f., 126, 132, 148, 155
- ↑ Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 151 f.
- ↑ Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 150
- ↑ Vergleiche: Rudolf Simek: Schicksalsglaube. In: Heinrich Beck, Dieter Geuenich und Heiko Steuer (Hrsg.): Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 27. 2. Auflage. Verlag Walter de Gruyter, Berlin – New York 2004, ISBN 978-3-110-18116-6, S. 9 der es als möglich ansieht, dass die drei Schicksalsgöttinnen älteren Datums sind. − Gerd Wolfgang Weber: Wyrd, 1969, S. 153 spricht sich wegen nordischer? Volkssagen und -glauben eindeutig dafür aus, dass die drei Schicksalsfrauen auf alten Vorstellungen beruhen.
- ↑ Vergleiche Hilda Roderick Ellis-Davidson: Pagan Europe, 1988, S. 165
- ↑ a b Lieder-Edda: Vǫluspá 2
- ↑ Vergleiche Åke Viktor Ström: Germanische und Baltische Religion, 1975, S. 254
- ↑ Hilda Roderick Ellis-Davidson: Pagan Europe, 1988, S. 163 spricht sich für diese Deutung aus. – Wolfgang Golther: Handbuch der germanischen Mythologie. Hirzel, Leipzig 1895. Neuauflage: Marix, Wiesbaden 2004, ISBN 3-937715-38-X, S. 144 stellt die Deutung als möglich in den Raum.
- ↑ Hilda Roderick Ellis-Davidson: Pagan Europe, 1988, S. 163